Im Osten wenig Neues
Ein kluger Mann hat einmal gesagt: „Die Entfernung ist für die Liebe wie der Wind für das Feuer: Das starke facht er an, das schwache bläst er aus.“ Nimmt man als Ausdruck der Liebe die Zahl der Briefe, die über die Distanz ausgetauscht werden, dann muss Tucholsky seine zweite Frau Mary Gerold von Anfang an sehr geliebt haben. Vom jüngst erschienenen Band 16 der Tucholsky-Gesamtausgabe, der Tucholskys Briefe von 1911 bis 1918 enthält, füllen diejenigen an die verehrte Mary fast die gesamte Korrespondenz. Dabei hatte er die damals 18-jährige Baltin erst im November 1917 kennengelernt, als er in der Artillerie-Fliegerschule im kurländischen Alt-Autz Dienst tat. Auf der Stelle war Tucholsky für sie entflammt. Mary widersetzte sich jedoch einer schnellen Eroberung, was Tucholskys Werben erst recht verstärkte.
Nach einer anfänglichen Verstimmung versöhnten sich die beiden wieder, doch Tucholsky entschied sich im April 1918, als Feldpolizeikommissar nach Rumänien zu gehen. Erst nach 20 Monaten sollte er Mary wiedersehen. In der Zwischenzeit entspann sich ein Briefwechsel, der nach Ansicht des Tucholsky-Biographen Michael Hepp „zu den schönsten dieses Jahrhunderts gehört“.
Doch die Intensität dieses Briefwechsel täuscht, was das Verhältnis zu Mary betrifft. Hepp schreibt weiter:
Die Briefe ersetzen das reale Leben, man kann fast sagen: Tucholskys eigentliches Leben fand in der Korrespondenz statt. Egal, ob es seine Artikel waren, die er auch nur als Briefe an Siegfried Jacobsohn betrachtete, oder die unzähligen Briefe an seine Frauen und „Freunde“, das Schreiben wurde für ihn zum Lebensersatz, die realen Menschen zu Empfängern degradiert, zu „Beichtbüchsen“, wie er Mary Gerold und Hedwig Müller gleichermaßen nannte.
Michael Hepp: Biographische Annäherungen. Reinbek 1999, S. 129
Das Laotse-Zitat müsste auf Tucholsky abgewandelt lauten: „Die Nähe ist für die Liebe wie das Löschflugzeug für das Lagerfeuer.“ Oder mit den Worten Marys:
Ich kann es nicht verstehen, wieso zwei Menschen, die sich lieben, auseinandergehen – ohne jeglichen Grund. – Vielleicht ist es aus der Entfernung viel schöner – die Nähe enttäuscht letzten Endes immer.
Ebd. S. 148
Dabei schien Tucholsky durchaus zu wissen, wonach er sich sehnte:
Dicker, gestern habe ich – als ich nicht schlief, nein! es wird niemals wieder vorkommen – also gestern habe ich es mir ausgedacht, daß das Allerschönste ist, abends, wenn der ganze Kram vorbei ist, mit einer Frau zu liegen – und – Erotik hin, Erotik her – sich es alles rauszuerzählen. Siehst Du, das wäre ungefähr das, was die Mama von jemanden verlangte, und was man – ich weiß – nun einmal nicht erfüllen kann. Das liegt nicht in der Überlegung und im Vorsatz – das liegt ganz tief. Entweder man tuts oder man tuts nicht. Sich ganz vertraut sein – nicht drängen – einfach dasein, zu zwein – und der Tag zieht vorüber, dies und das – auf der Basis der Gleichheit, bunte Figuren auf einem Teppich. Und man ist sich dann so nah, wie nur zwei sein können, die …
Brief vom 8. Oktober 1918
Tucholskys Korrespondenz hatte während des Krieges damit wenig mit den Feldpostbriefen der Frontsoldaten gemein, die im Schützengraben ums nackte Überleben kämpften. Was vor allem daran lag, dass Tucholsky erfolgreich vermeiden konnte, direkt an der Front eingesetzt zu werden und auf Menschen schießen zu müssen. Charakteristisch für seine Haltung ein Schreiben an seine Schwester Ellen vom September 1915:
ich habe eine pickstollhe. Aberst ich schieß lieber nicht. Nachher erschrickt so ein Russe und wird krank … Nein, nein.
Trotz dieser pazifistischen Einstellung – auch geprägt von dem Wunsch, selbst nicht erschossen zu werden – schien es im Krieg lange Zeit für ihn denkbar, seine Karriere als Beamter der Militärpolizei fortzusetzen. „Ich muß sagen, ich wünschte nicht, daß der Krieg nun auf einmal ein Ende hätte – ein Jahr brauche ich ihn noch“, schrieb er im August 1918 an Mary. Und Ende September gestand er:
„Mein Plan war dieser – um einmal alle Karten aufzudecken: hier unten Kommissar zu werden, das ist nicht mehr allzulange – und dann zu versuchen, nach Kurland zu gehen, und von einer Kriegsstellung sachte in eine Friedensposition hinüberzugleiten.“
Pazifistische Bekenntnisse gab es nur „auf Anfrage“, wie in einem Brief vom 17. August an Mary:
Er fragt, warum die, die im Kriege Menschen töten, noch Blech angehängt bekommen zur Belohnung. Weil alle Moral auf Nützlichkeit aufgebaut ist – bis auf einen kleinen Rest, den man nicht erklären kann, und der der Philosophie so viel zu knacken gibt. Diebstahl ist deswegen so verschrieen – in der Hauptsache – weil er uns schadet, Mord auch. Und dieser Mord soll nutzen, und es ist noch nicht – nach 6000 Jahren noch nicht – in die Köpfe gegangen, daß Blut Blut ist und daß es keinen geheiligten Mord geben darf. Natürlich ist kein Unterschied. Nur die Betrachtungsweise dieser Tiere macht einen: der Mörder ist ein Unhold, Richthofen ist ein Held. Dabei sind beide mitunter beides. Das wird nicht aufhören, bis der Wahnsinn der Staaten aufhört.
Gegen Ende des Krieges lag Tucholsky außerdem ein Angebot vor, den „Ulk“, die Satirebeilage des „Berliner Tageblatts“, zu leiten. Die Entscheidung zwischen Journalismus und Offizierskarriere nahmen ihm die Alliierten ab, indem sie den Krieg im Westen entschieden. Nach dem militärischen Zusammenbruch ging Tucholsky nach Berlin. Dort griff er die Korrespondenz mit Mary wieder auf. Sein folgendes Lamento könnte sein Motto für die nächsten fünfeinhalb Jahre gewesen sein:
Von mir persönlich kann ich Ihnen nicht viel, und nicht allzuviel Lustiges erzählen. Man kann nicht übersehen, was morgen oder gar übermorgen sein wird. Es ist alles recht häßlich, und ich kann nicht sagen, daß ich mich übermäßig wohl in Berlin fühle.
[…] P.S.:: Sollten Tucholskys journalistische Heldentaten im Ersten Weltkrieg irgendwann verfilmt werden, müsste man wenigstens keine Liebesgeschichte erfinden. […]
Pingback by Sudelblog.de - Das Weblog zu Kurt Tucholsky » Helden im Flieger — 4.5.2008 @ 2:28