Brief an Carl von Ossietzky (12.3.1932)
12.3.1932
Ganz besonders schönen Dank für Ihren Schrieb vom 10. hujus, der mein Herz erfreut hat. Dazu:
In der Wahlkampf-Sache bin ich mit Ihnen bis ins letzte Komma einverstanden. Sie sind, soweit ich das übersehen kann, der einzige deutsche Publicist, der überhaupt die Frage aufgeworfen hat: «Ja, was wird denn, wenn Hindenburg gewählt wird?» Und Sie haben sie richtig beantwortet: dann wird es noch schlimmer. Es ist einfach nicht wahr, daß der Mann das kleinere Übel ist – das Übel ist beinah genau so groß. Außerdem ist es wohl dieser Nation vorbehalten, Wahlen zu veranstalten, um ein Übel zu wählen. Anderswo wählt man das, was einem – relativ – gut erscheint. Bravo und bravo und nochmals bravo zu Ihrer Haltung.
Wie sie beim 2. Wahlgang entscheiden, ist eine andere Sache. Der Unterschied zwischen den beiden H’s ist für einen Arbeitslosen gleich null. Für uns ist er auch nicht gar so groß; denn ich halte mit Ihnen die neue Herrschaft Hindenburgs (vor allem nach den preußischen Landtagswahlen) für dreiviertel faschistisch, und einen gewählten Hitler niemals für voll faschistisch. Der Unterschied wird also nur in den ersten etwas wilden Hitlerwochen bestehn.
Mein Aufsatz über Hitler. Ich habe mich nicht klar ausgedrückt. «Stichwahl» gibts ja gar nicht. Ich schlage also vor, daß ich nach der zweiten Wahl schreibe – wenn er geschlagen wird. Man kann, wenn der morgige Tag besondere Überraschungen bringt, vielleicht zwischen den beiden Wahlen schreiben – aber das ist so unsicher … ich mag nicht gegen Hitler das gröbste Geschütz auffahren, dann wird er gewählt, ich bin nicht da … aber Sie sind da.
Groener-Prozeß. Material anbei. Das A und O scheint mir nicht nur das literarische, sondern vor allem das juristische zu sein. Die Kollektivität ist nicht begrenzt; das ist aus hundert Reichsgerichtsentscheidungen (wenn es nämlich gegen Breslauer Juden, preußische Parteibuchbeamte und ähnliches ging) genau zu belegen. Das muß auf das allerschärfste ausgenutzt werden. Mit allgemeinem Herumgerede ist da niemandem gedient. Fakten. Reichsgerichtsentscheidungen und nochmals Judikatur. Nur das kann helfen. Bringt vor allem den betreffenden Richter in viel größere Verlegenheit.
Meine Haltung. Nach der Äußerung Apfels, ich könnte Ihnen schaden, schreibe ich zunächst nicht – darüber ist überhaupt nicht zu reden. Sie können Groenern jetzt angreifen – ich darf es nicht.
Was meine Haltung sonst angeht:
Ich habe in dieser Sache keine Briefe bekommen. Tollern räume ich jedes Recht ein, mich zu kritisieren – den andern weniger.
Was im Falle eines Falles allerdings zu plakatieren wäre, ist dieses:
In Leipzig und jetzt hier ist beide Male die Anklage gegen den Verfasser und den Verantwortlichen zum mindesten in Betracht gezogen worden – in Leipzig ist gegen beide Anklage erhoben worden. Es ist also nicht so, daß Sie als Ersatzmann für mich angeklagt werden. (Das wissen Sie natürlich, Oss – ich schreibe jetzt den Tenor eines zu schreibenden Artikels für und gegen aufgeregte Anhänger.) Wären Sie für mich angeklagt, so käme ich sofort. Da Sie neben mir angeklagt sind und sicherlich nicht schärfer angefaßt werden, weil ich nicht da bin –: so halte ich das alles für überflüssig: die Reise – das dammlige Gequatsche – dieses dumme Gezeter mit Typen, denen ich ganz entfremdet bin … ich kann nicht mehr in die Schule gehen. Worauf die andern sagen dürfen: «Dann müssen Sie sowas nicht schreiben.» Worauf ich erwidern kann: Keiner von uns, die wir unsern Laden gut kennen, wären jemals auf den Gedanken gekommen, daß das strafbar ist. Und das war auch niemals strafbar. Und nun leckt mich am.
Ich halte es für richtig, daß man sich niemals vor den Lesern «verteidigen» soll. Nürnberg, Kraus und das zählt ja nicht. Hat eigentlich Herr Nürnberg seiner Überzeugung, wenn er eine hat, jemals ein Opfer gebracht. Ich habe mich vier Mal vor diesen Affen präsentiert – ich kenne die Talare. Und Kraus? In diesem Operettenstaat geschieht ihm doch nie was – man kann doch dem Kraus nix tun …! Ottakring. Ich möchte ihn mal kreischen hören, wenn sie ihn, ohne auf seine 75 Berichtigungen zu hören, einfach einsperren. Also das ist ja alles Zimt.
Was ich ganz und gar ablehne, ist: mir die Richtlinien für meine ethischen Verhalten von preußischen Richtern vorschreiben zu lassen. Eben das ist ja der Fehler aller unsrer Leute: daß sie dem Faschismus entgegenhalten: «Aber wir sind ja national!» und so fort. Keiner hat den Mut, zu erklären, daß die Kategorien für uns einfach keine Gültigkeit haben. Und grade das will ich.
Vielen schönen Dank für alles! Nochmals: wenn Sie keine Zeit haben oder wenig, genügt für kleine Anfragen eine Zeile. Nämlich das Resultat Ihrer Entscheidung – ich verstehe das schon richtig. Es liegen ja auch keine Sachen vor, bei denen ein wildes Hin und Her sein müßte – mir wenigstens ist alles ganz klar. Kleinigkeiten schreibe ich nach wie vor auf, damit nichts anwächst.
In Züchten. Ich gehe mit wilden Nasenplänen um.
Meine schönen Augen sind verschwollen. Beten Sie für mich. Ich will es auch für Sie tun – und dann wird etwas Rechtes herauskommen.
Mit skandinavischem Gruß
Hochdero
Hochdero
Oss II
Es wäre vielleicht gut, wenn Sie für manche Punkte Ihren letzten bezw. vorletzten Willen aufschreiben täten, damit etwas da ist, woran wir uns festhalten können.
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Karl Kraus. Nach dem letzten, etwa 150. Angriff dies:
Der Mann kann gegen mich schreiben, was er lustig ist. Was ich ihm übel nehme ist, daß er genau das macht, was er den großen Zeitungen vorwirft, mit denen er ja – sonst greift man auch nicht dreißig Jahre lang an – solche Ähnlichkeit hat: er lügt durch Verschweigen. Liest man das da in der Fackel, dann glaubt man, ich heiße Auernheimer. Also gut – glauben Sie ja nicht, daß ich etwas unternehmen will. Jedennoch:
Wir wollen – außer Hiller – keinem mehr erlauben, ihn bei uns zu loben. Soweit kanns nun nicht gehn. Ich bitte also formell und feierlich, jedes Lob auf Kraus rücksichtslos zu streichen, und zwar durchaus mit Berufung auf seine Haltung gegen uns, S.J. und die WB. Zitate würde ich nicht streichen – dagegen aufpassen, daß sie wörtlich sind. Damit wir nicht eine dieser albernen Berichtigungen auf den Hals bekommen.
Hiller deshalb ausgenommen, weil es sonst einen riesigen Krieg gäbe – mit Berichten nach Wien, und das ist mir das alles nicht wert. Wenn ich mich nicht irre, hat der Einfluß Krausens eher ab- als zugenommen, ich wehre mich also nicht.
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Bereiten Sie einen Abschiedsartikel für sich vor? Das wäre sehr gut – sozusagen Villons ‹Kleines Testament›. Soll ich dazu eine Coda schreiben? Wenn ja, was soll da inne stehn?
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Frau J. fragt wegen Ihering an. Ich meine, daß uns nicht damit geholfen ist, wenn wir zu allem Nein sagen. Ich sage, nicht ganz leichten Herzens, Ja. Vor allem, wenn er sich zur «gesamt theaterpolitischen Situation» äußern will. Wenn er aber als wöchentlicher Kritiker seinen Brecht ausposaunt, dann allerdings wird mir etwas blümerant.
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Ja, noch was. Darf ich in einem etwa notwendig werdenden Artikel sagen, daß ich Ihre Loyalität Groenern gegenüber übermenschlich finde? Also nicht kritisch gegen Sie – sondern frech gegen jenen. Und daß diese Waffen eben von einem völlig sturen Militarismus der Bureaus überholt sind – es hat keinen Sinn. Wenn Sie das nicht wünschen, sage ich es nicht.
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Heil! In alter Bundestreue –
apropos: Apfel macht aber Liquidationen … also ich spiele das nicht mit.
Ihr ajehmster
[…] "Dem Satiriker gab ein Gott zu sagen, was sie treiben" Nachdem der erste Rauch brennender Botschaften sich verzogen hat und viele Positionen im Streit um die Mohammed-Karikaturen ausgetauscht wurden, sollte sich einmal Zeit genommen werden, Tucholskys Satireverständnis und -praxis genauer zu betrachten. Dass die Satire "alles" dürfe, ist in jüngster wohl häufig genug wiedergekäut worden. In zahlreichen Artikeln und Briefen hat sich Tucholsky aber sehr differenziert mit der Satire, ihren Grenzen und ihren Kritikern auseinandergesetzt. Vor allem die "Briefe an eine Katholikin" geben Auskunft über Tucholskys Verhältnis zur Religion im politischen Kampf. Grenzen der Satire In dem vielzitierten Text "Was darf die Satire?" wird Anfangsfrage erst ganz zum Schluss mit einem kategorischen "Alles" beantwortet. Ganz zum Schluss deshalb, weil Tucholsky zunächst definiert, was er unter einer angemessenen Satire zu verstehen glaubt. Dazu zählen für ihn Angriffe, die die Wahrheit aufblasen, damit sie umso deutlicher hervortritt. Die die Welt gut haben wollen und gegen das Schlechte anrennen. Die boshaft sein können, wenn sie nur ehrlich sind. In diesem Sinne darf die Satire "alles", – auch Kollektivitäten angreifen, wenn nicht jeder in dem Kollektiv den Angriff verdient hat. Gemessen an diesen Forderungen sind die zwölf Mohammed-Karikaturen wenig satirisch. Wo sie wahr sind, sind sie harmlos, wo sie boshaft sein wollen, nicht wahr. Da sie aus dem einzigen Grund gezeichnet wurden, um zu provozieren, spricht schon ihre Intention gegen ihre Qualität. Aus diesem Grund ist die durch die Karikaturen angeregte Diskussion über die Grenzen der Satire ein Versuch am untauglichen Objekt. Weniger bekannt als der berühmte Satire-Text ist eine Analyse aus dem Jahre 1912, in der Tucholsky sich über "Die moderne politische Satire in der Literatur" ausbreitet. Darin heißt es lapidar: "Der Satiriker darf keine, aber auch gar keine Autorität anerkennen." Der gesamte Abschnitt, in den dieser Satz eingebettet ist, ist ebenfalls sehr aufschlussreich: Aus diesen klaren und richtigen Worten folgt zweierlei: erstens, daß man verstanden haben muß, bevor man karikiert, daß man überhaupt nur das satirisch behandeln kann, was man in seinem tiefsten Kern begriffen hat, und zweitens, daß notwendigerweise die rechtsstehenden Parteien keine gute Satire haben können, weil das restlose Kapieren der Dinge Objektivität und oft genug Respektlosigkeit erfordert. Der Satiriker darf keine, aber auch gar keine Autorität anerkennen. Das widerstrebt den Priestern der Autorität und den Halben, Lauen, und niemals werden sie eine künstlerisch gute Satire hervorbringen können (…) Ähnlich äußerte sich auch Titanic-Mitbegründer Robert Gernhardt in der jüngsten Debatte, als er in einem Interview erklärte: "Eine einzige Grenze [der Satire] gibt es da, wo ich mich nicht auskenne." Tucholskys Aussagen zu politischen Satiren lassen sich aber nicht uneingeschränkt auf religiöse Fragen übertragen, wie die im Folgenden zitierten Passagen zeigen. Satire und Religion In der Karikaturen-Debatte wurde häufig die Frage aufgeworfen, ob Satire nicht stärker Rücksicht auf religiöse Gefühle nehmen müsse. Auch diese Frage lässt sich mit Bezug auf Tucholsky nicht mit einem pauschalen Ja oder Nein beantworten. Für Tucholsky hatten die christlichen Kirchen durch ihr Verhalten im Ersten Weltkrieg zu viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren, um sich von Staats wegen weiter vor Kritik schützen zu lassen. Er griff sie daher scharf an, wenn sie seiner Meinung nach aus dogmatischen Überzeugungen die weltliche Not der Gläubigen nicht zu lindern halfen, sondern sie durch strikte Forderungen noch vergrößerten. Dies galt in Fragen der Sexualmoral und der allgemeinen Lebensführung. Tucholskys Vorteil bestand natürlich darin, dass er mit der Amtskirche oder der katholischen Zentrumspartei eine deutliche Zielscheibe für seine Kritik besaß. Ihm ging es jedoch nicht darum, das Christentum oder religiöse Überzeugungen im allgemeinen verächtlich zu machen. Dies geht auch aus der Feststellung hervor: "Die Satire hat eine Grenze nach oben: Buddha entzieht sich ihr." Tucholsky beklagte sich aber darüber, dass von katholischer Seite diese Selbstbeschränkung nicht ausreichend wahrgenommen wurde. So wehrte er sich gegen entsprechende Vorwürfe, die ihm im Zentrumsblatt Germania von der Journalistin Marierose Fuchs gemacht wurden. Seine Entgegnung lautete: Ist nicht überall sauber unterschieden zwischen der Kirche als Hort des Glaubens, über den ich mich niemals lustig gemacht habe – und der Kirche als politische Institution im Staat? Brief an Marierose Fuchs vom 14.8.1929 Scharf attackierte er aber die Position des Zentrums, sich im politischen Kampf auf religiöse Überzeugungen zurückziehen zu wollen: Also darf man sich nicht auf das "Heilige", auf das "religiöse Empfinden" zurückziehen, wenns einem grade paßt. Das ist nicht ehrlich. Brief an Marierose Fuchs vom 17.12.1929 Und weiter: In dem Augenblick aber, wo die Kirche sich erdreistet, uns andern ihre Sittenanschauungen aufzwingen zu wollen – unter gleichzeitiger Beschimpfung der Andersdenkenden als "Sünder" – in dem Augenblick halte ich jede politische Waffe für erlaubt – auch den Hohn, grade den Hohn. Und zwar nicht den dummen, abgestandenen gegen die Pfarrersköchin – grade den lehne ich aus tiefstem Herzen ab. Ebenso verwahrte er sich gegen den überkommenen Anspruch der Religionen, die Gesellschaft vor einer Verwahrlosung der Sitten zu schützen: Es gibt kein religiöses Monopol der Ethik, Millionen von anständigen und sittlich gefestigten Menschen schmähen die Kirche nicht, leben aber bewußt und ganz und gar an ihren Lehren vorbei, und sie tun recht daran. Es ist unrichtig, daß der, der die Lehren der Kirche überwunden hat, ein sittlich minderwertiges Individuum ist. In: "Auch eine Urteilsbegründung" An zahlreichen Stellen betonte er aber, sich aus rein religiösen Fragen herauszuhalten: Wenn ernste und große katholische Männer über ihre Religion sprechen und nur über diese, so schweige ich. Brief an Marierose Fuchs vom 28.7.1930 Was Tucholsky jedoch nicht als Freibrief für theologische Spekulationen galt, wonach letztlich doch jeder Mensch eine verborgene religiöse Ader besäße: Ihr müßt euch schon daran gewöhnen, daß es sehr vergnügte Heiden gibt – die geht das gar nichts an. Feuerländer sind keine Widerlegung gegen die französische Grammatik – sie beweisen aber, daß es auch ohne diese Grammatik geht. Brief an Marierose Fuchs vom 27.12.1930 Satire und ihre Kritiker Schon der Text "Was darf die Satire?" war ein einziger Appell an die politischen Kontrahenten, satirische Angriffe nicht bierernst, sondern mit einem gewissen Humor zu nehmen. Wir sollten nicht so kleinlich sein. (…) Das ist kein rechter Mann und kein rechter Stand, der nicht einen ordentlichen Puff vertragen kann. Er mag sich mit denselben Mitteln dagegen wehren, er mag widerschlagen – aber er wende nicht verletzt, empört, gekränkt das Haupt. Diese Appelle verhallten im politisch aufgeheizten Klima der Weimarer Republik ungehört. Tucholsky selbst musste Anfang der zwanziger Jahre damit rechnen, als Jude und politisch links stehender Journalist ebenso wie Maximilian Harden das Opfer eines Attentats zu werden. Allerdings lässt sich nicht belegen, inwieweit dieses Bedrohungsgefühl sein Schreiben beeinflusste. Der Wechsel nach Paris wurde jedoch von der aggressiven, ihm unangenehmen Stimmung in der deutschen Gesellschaft und Politik mitbestimmt. Als Rechtfertigung für diese Flucht könnte der Artikel "Wie mache ich mich unbeliebt" vom Oktober 1924 dienen: Wenn man ganz sichergehen will, gleich eine ganze Kompanie auf Jahre hinaus zu verärgern, dann braucht man nur Witze über einen Stand zu reißen. Man tue es – gehe aber unmittelbar nach Begehung des Delikts außer Landes. (…) Wenn du aber auf alle Grafen, auf die Postschaffner und auf den Kaufmannsstand etwas sagst – und nun gar etwas Lustiges –: dann verteile die Güter dieser Erde – Anzüge, Blumentöpfe und Zeitschriftenabonnements – an deine Kinder; ordne deine Schulden – Miete, Effekten und Zeitschriftenabonnements – und entwetze. Dein Leben ist verwirkt. Beinahe verzweifelt wirkt der Appell, mit dem er den Artikel beschließt: Dem Satiriker gab ein Gott zu sagen, was sie treiben. Man kann ja nun nicht gerade verlangen, daß der Großpapa, dem der Enkel einen kleinen Flitzbogenpfeil in die hintere, untere Schlafrockseite bohrt, dem guten Kind auch noch einen Bonbon gibt. Aber nicht gleich aufspringen und mit harten Gegenständen werfen. Die Würde muß es sich gefallen lassen, daß sie manchmal am Bart gezupft wird. (Auch Bartlose haben einen Bart, mitunter.) Denn die moderne Sorte Humorist muß heute noch mit einem Schutzpanzer umhergehen: Gute Leute! Nicht schießen! Anfang 1932, als die Machtbeteiligung der Nationalsozialisten nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien, stellten die Weltbühne-Herausgeber Tucholsky und Carl von Ossietzky jedoch Überlegungen an, bestimmte Artikel aus Furcht vor Übergriffen nicht zu drucken. Zwar hatte Tucholsky noch im März 1932 geschrieben: Satire hat auch eine Grenze nach unten. In Deutschland etwa die herrschenden faschistischen Mächte. Es lohnt nicht – so tief kann man nicht schießen. Gleichzeitig verfasste er aber den satirischen Schulaufsatz "Hitler und Goethe", in dem er die Rhetorik der Nazi-Bewegung verspottete. Jedoch warnte er Ossietzky davor, diesen Artikel bei einem möglichen Erfolg Adolf Hitlers bei der Wahl zum Reichspräsidenten abzudrucken: Mein Aufsatz über Hitler. Ich habe mich nicht klar ausgedrückt. "Stichwahl" gibts ja gar nicht. Ich schlage also vor, daß ich nach der zweiten Wahl schreibe – wenn er geschlagen wird. Man kann, wenn der morgige Tag besondere Überraschungen bringt, vielleicht zwischen den beiden Wahlen schreiben – aber das ist so unsicher … ich mag nicht gegen Hitler das gröbste Geschütz auffahren, dann wird er gewählt, ich bin nicht da … aber Sie sind da. Brief an Carl von Ossietzky, 12.3.1932 Der Artikel erschien schließlich am 17. Mai 1932. Tucholsky hielt sich damals in Schweden auf, Ossietzky war hinter preußischen Gefängnismauern sicher verwahrt. Resümee Aus den zitierten Text- und Briefstellen geht hervor, dass Tucholskys Position in Sachen Satire nicht auf die Position "sie darf alles" reduziert werden sollte. Vor allen in religiösen Fragen unterschied er klar zwischen den geistigen Inhalten und den daraus entspringenden gesellschaftlichen Ansprüchen. Dass diese Trennung den religiösen Vertretern selbst schwerer fällt, liegt in der Natur der religiösen Überzeugungen. Die Positionen Tucholskys lassen sich zum Teil uneingeschränkt auf die heutigen Verhältnisse übertragen. Zum anderen lässt sich die von ihm gepflegte Trennung zwischen Glaubensinhalten und Politik teilweise nur schwer aufrechterhalten. Dies zeigt sich beispielsweise an der Debatte über die Evolutionstheorie in den USA. Ein Anhänger des Schöpfungsglauben kann sich nicht darauf berufen, dass die Lehren Charles Darwins seine religiösen Gefühle verletzten und dadurch verboten werden müssten. Ein Beispiel für eine gelungene religiöse Satire ist in diesem Sinne die Persiflage der amerikanischen Satire-Zeitung The Onion auf die Vertreter des "intelligenten Designs": "Evangelikale Wissenschaftler ersetzen Schwerkraft durch neue Theorie des "Intelligenten Fallens". Von den Onion-Redakteuren ist bislang nicht bekannt geworden, dass sie außer Landes gegangen sind. Aber um es noch einmal zu wiederholen: "Gute Leute! Nicht schießen!" […]
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[…] Brief an Carl von Ossietzky […]
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