Brief an Marierose Fuchs (17.12.1929)
An Marierose Fuchs
Post: Weltbühne
17.12.29
Sehr verehrtes Fräulein Fuchs, da liegen nun alle Ihre freundlichen Briefe vor mir – aber ich möchte mich gar nicht so sehr entschuldigen: es ist sicherlich für diesen Briefwechsel besser, wenn ich erst heute antworte: still, gesammelt und ruhig – und nicht hopphopp aus dem Hotelzimmer. Item:
Zunächst danke ich Ihnen recht herzlich: einmal für das große und kameradschaftliche Interesse, daß Sie „über den Graben“ an unserer und meiner Arbeit nehmen – und dann für Ihre Freundlichkeit, mich in Berlin noch einmal empfangen zu wollen. Die Leute haben mir aber bis zur letzten Stunde die Haare vom Kopf gerissen, eine Armee von Beleidigten habe ich zurückgelassen („Für mich haben Sie keine Zeit … !“) – und so ist es denn leider nichts mehr geworden. Das will ich aber, wenn Sie es später noch erlauben, nachholen.
Bevor ich Ihre Briefe Punkt für Punkt beantworte:
Das, was Sie in diesem Brief nicht finden werden, beantworte ich Ihnen in der ›Weltbühne‹. Es wird ›Brief an eine Katholikin‹ heißen und wird zweierlei nicht enthalten: a) wird ihre eigene Schwester nicht merken, daß Sie die Adressatin sind und b) werde ich mir an keiner Stelle den unritterlichen Vorteil verschaffen, der darin liegt, daß Sie kein dialektisch geschulter Priester sind. (Einem solchen unterläge ich glatt.) Ich halte es für kindlich, so etwas auszunutzen; als ob damit etwas bewiesen ist, daß bei einer Disputation: Fahsel – Bauarbeiter Klamottke Fahsel siegt und bei einer Disputation:Kaplan Hintermoser aus Niedertupfingen – H. G. Wells der Engländer siegt – dergleichen besagt für und gegen den Katholizismus gar nichts. Also so wollen wir das nicht machen.
Ich werde Ihnen also einige grundsätzliche Dinge im Blättchen entwickeln; daher fehlen sie hier oder sind nur andeutungsweise skizziert.
1.) Das Blättchen bekommen Sie von jetzt ab, natürlich nicht gegen Vorzugspreis, sondern gratis – wenn Sie es nicht mehr mögen, sagen Sie es bitte. Ich mag mich keinem Menschen aufdrängen. (Ich nähme Ihnen das auch niemals übel, wenn Sie das Blatt nicht im Haus haben wollen – meine Empfindlichkeiten sitzen anderswo.)
2.) Den Artikel von Ossietzky habe ich noch einmal ganz genau durchgesehen – denn als ich Ihren Brief las, dachte ich, ich hätte irgend eine seiner Arbeiten übersprungen; die, an die ich dachte, konnte es doch nicht gewesen sein … Aber sie war es. Und nun verstehe ich Ihren Brief gar nicht.
Wir kennen uns nicht (wie wenig, werden Sie weiter unten sehen) – aber ich möchte doch, daß wir uns geistig etwas näher kommen. Also: es kann keine Rede davon sein, daß ich etwa „beleidigt“ wäre – Sie können, solange es nichts Ehrenrühriges ist, von Ossietzky, von mir, von unsern Mitarbeitern das Schärfste schreiben, was Sie wollen – ich nehme dergleichen immer als Echo – wir haben in den Wald hineingerufen, und nun ruft es eben wieder heraus. Also das ist in Ordnung.
Aber zur Sache:
Ist ›Lädiertes Sakrament‹ wirklich so unverschämt? Mir ist der Titel gar nicht aufgefallen – ich habe empfunden: Das, was jene als Sakrament betrachten, hat in Wahrheit längst ein Loch. Beleidigung? Schändung? Ich habe nicht einmal empfunden, daß es so gemeint war – ich glaube das keinesfalls. Auch würde Ossietzky nie, niemals so etwas von der „katholischen Jungfrau“ sagen – Sie glauben gar nicht, wie weit dieser Pfeil vom Ziel abgegangen ist. Ossietzky ist ein sehr zurückhaltender, sehr scheuer Mensch – ich habe ihn in all den Jahren unserer Zusammenarbeit nicht einmal gefragt, ob er katholisch ist, ich weiß es nicht, weil es mich nicht interessiert. Nie würde er solche spöttischen Bemerkungen machen – nie.
In der Sache aber sehe ich dies:
Die katholische Anschauung sieht in der Ehe ein unlösbares, heiliges Band, keinen Zweckvertrag. Das ist Sache der Kirche. Ich diskutiere das Dogma nicht. Es ist auch das Recht der Kirche, gegen Andersmeinende alle parlamentarischen Waffen in Anwendung zu bringen; mit allen Kräften dafür zu kämpfen, daß Ehen nicht oder nur sehr schwer gelöst werden sollen; daß Ehebruch strafbar bleiben soll – das ist ein politischer Kampf. Aber gegen eines wehre ich mich und werde mich wehren, solange ich noch eine Schreibmaschine habe:
Daß die Partei des Zentrums sich eine Ausnahmestellung anmaßt, die ihr nicht zukommt. Das gibt es nicht. Hier ist keine Satire zu scharf.
Wie! Die Partei steigt in die Arena des politischen Kampfes hinunter, ein Feld, auf dem – wie männiglich bekannt – auch mit Pferdeäpfeln geworfen wird. Die Kämpfer schreien sich heiser, sie brüllen, sie führen auch saubere und leise Kämpfe – und es geht im ganzen recht hitzig zu. Wir wehren uns. Gerät aber die Kirche in die Bredouille, dann höre ich da ein Gequietsch wie von einer Katze, der man auf den Schwanz getreten hat: „Das Heiligste ist in Gefahr!“ – Das Heiligste ist in Gefahr? Dann müßt ihr das nicht auf den Kampfplatz schleppen – es fällt ja auch keinem Priester ein, mit dem Allerheiligsten, unbedeckt, in eine Elektrische zu steigen – weil es nämlich nur ein transportabler Gegenstand wäre, auf den Rücksicht zu nehmen unmöglich wäre. Also?
Also darf man sich nicht auf das „Heilige“, auf das „religiöse Empfinden“ zurückziehen, wenns einem grade paßt. Das ist nicht ehrlich. Die politische Partei des Zentrums muß sich gefallen lassen – genau wie alle andern Parteien auch – politisch bekämpft zu werden. Und das hat Ossietzky getan.
Zieht die Partei die Kirche in den Streit, so geht der Kampf auch um das Dogma – wir haben nicht angefangen.
Solange sich die Kirche damit begnügt, zu sagen: „Wir beerdigen keinen geschiedenen Mann kirchlich. Wir erkennen eine zweite Ehe nicht an – wir exkommunizieren. Wir halten den Ehebruch für eine schwere Sünde.“ – solange haben wir andern zu schweigen. Weil man nämlich aus der Kirche austreten kann – und wer darin bleibt, der hat sich zu unterwerfen. Das ist eine innerkatholische Angelegenheit, die keinen andern berührt.
In dem Augenblick aber, wo die Kirche sich erdreistet, uns andern ihre Sittenanschauungen aufzwingen zu wollen –
unter gleichzeitiger Beschimpfung der Andersdenkenden
als „Sünder“ –
in dem Augenblick halte ich jede politische Waffe für erlaubt – auch den Hohn, grade den Hohn. Und zwar nicht den dummen, abgestandenen gegen die Pfarrersköchin – grade den lehne ich aus tiefstem Herzen ab. Bei euch wird gar nicht geheuchelt – nicht mehr jedenfalls als bei uns. Aber blind sind diese Leute, die das ungeheure Elend nicht sehen, das sie da heraufbeschwören. Kennen Sie das nicht? Gehen Sie einmal auf das Landgericht am Alexanderplatz und hören Sie sich da die fast stets öffentlichen Ehescheidungsverhandlungen an: wie da der Schmutz haushoch spritzt, wie da auf Lügen hin geschieden wird, alle wissen es: die Richter zuallererst, die Anwälte, die Parteien – aber unter dem geltenden Eheunrecht kann man sich nicht anders helfen. Das Soziale ist nämlich stärker. Das haben sogar die reichlich puritanischen Amerikaner begriffen. Was an und in der Kirche „ewig und unwandelbar“ ist steht dahin – die sozialen Anschauungen gehören nicht dazu. – Der Ehebruch wird in weiten Kreisen nicht als außergewöhnlich und nicht als „unmoralisch“ empfunden – womit eben nicht gesagt ist, daß wir ihn propagieren oder gar als schön empfinden. Aber zwischen nicht „schön“ und einem Vergehen ist ein weites Feld. Das mag man kirchlich beackern – das Strafrecht hat hier nichts zu suchen. Und das sollte man nicht sagen dürfen –?
Es ist auch nicht richtig, solchen politischen Kämpfern wie Ossietzky Ignoranz vorzuwerfen. Wir sind keine Theologen. Wir haben nicht die Pflicht, uns mit den Finessen des kirchlichen Rechts zu befassen – wir befassen uns nur mit dem, was parteipolitisch dabei herauskommt. Die zugrunde liegende Philosophie mag gut sein – ich diskutiere das nicht. Wie sie sich sozial und politisch auswirkt –: das dürfte keiner Kritik unterliegen? Nein –? Ja.
Und mit Dreck werfen? Haben wir uns schon einmal beklagt, wenn ein Geistlicher unsere Ideale mit Dreck bewirft? Das tut er nicht? Ich danke. Haben wir „Sakrileg!“ gerufen, wenn kostümierte Herren im Kriege zum Mord gehetzt haben? Meine Gefühle werden dadurch verletzt. Ich quietsche allerdings nicht. Ich schlage zurück. Trifft das einmal auf ein Kreuz –: das ist nicht meine Schuld. Ich habe es nicht in den Streit geholt.
3.) Immer, immer freut es mich, wenn Sie mir Ihre Einwände – auch die allerschärfsten – schreiben. Dazu habe ich immer Zeit. Eine kleine Anmerkung: wir sind ein bißchen weit voneinander. Wenn Sie manchmal schreiben „Bei euch da drüben muß man wahrscheinlich hinzufügen …“, dann muß ich in meinen stattlichen Bart lächeln. Sie haben mitunter von den Heiden eine Anschauung wie ein Monist von einem katholischen Pfarrer: der ist für ihn eine Schießbudenfigur, der immerzu mit seiner Köchin liebäugelt, säuft, in seinem tiefsten Herzen das Wort Gottes für Unfug hält und sich einen Bauch anmästet. Nun, und „die da drüben“ glauben gar nicht von jeder Frau, die sich in geistiger Absicht nähert, daß nunmehr ein gewaltiger Flirt beginnen müsse – ich möchte einmal getroffen werden, und nicht immerzu sehen, wie die Pfeile um mich herumsausen – und wenn sie dann so in der Wand neben mir zitternd stecken bleiben, dann muß ich mich furchtbar wundern.
4.) Also sollte bei Ihnen kein Mißtrauen da sein. Ich sagte Ihnen schon, daß ich niemals daran dächte. Ihre Formulierungen zu benutzen oder gar spöttisch zu veröffentlichen. Wenn ich mir einen hernehme, dann nehme ich mir einen Bischof oder einen Kardinal – also einen, der unwiderleglich die offizielle Meinung der Kirche wiedergibt. Nur das ist ehrlich.
5.) Wenn Sie mich einmal später mit einem Priester zusammenbrächten, so wäre mein letzter, aber mein allerletzter Gedanke: „Der will mich fangen.“ Gibt es denn wirklich so viel Kirchengegner, die das glauben? Dummes Zeug. Der Kampf, den zum Beispiel Schreiber in Berlin führt, geht doch um anderes – der der „Katholischen Aktion“ auch. Fangen? Ja, aber doch nicht so. Daran habe ich nie gedacht. Schon deshalb nicht, weil ich zu alt und noch nicht alt genug dazu bin.
6.) Wieso wissen Sie, daß „wir“ etwas gegen das Zölibat haben? Vielleicht gibt es Männer unter uns, die nur arbeiten können, wenn keine Frau dabei ist. Vielleicht gibt es welche, die wissen, was Keuschheit für ein Kräftereservoir ist – von den politischen Momenten ganz zu schweigen.
7.) In Düsseldorf bin ich nicht gewesen. Ich hätte mich sehr gefreut, mit Herrn Schöllgen einmal zusammenzutreffen – ich habe große Sympathien für solche Naturen, und ich glaube, ich hätte manches dabei gelernt.
8.) (Ich antworte immer nach je einem Blick in Ihre Briefe – daher dieses Nebeneinander.): Sie verletzen mich nicht, wegen dick – dicke Leute sind nicht so leicht verletzt. Und langweilen? Nie.
9.) Dank für die Hefte Sonnenscheins. Ich werde mir wohl alle nachkommen lassen. Darüber schreibe ich im Blättchen. Das ist blitzehrlich, sauber, richtig, in Ordnung bis in die letzte Falte. Aber: Wanzenpülverchen, statt Ausräuchern. Dazu eine Verachtung Berlins, die mir nicht gefällt. Eine Stadt „geht nicht unter“ – sie ist kein Kriegsschiff. Hier stimmt in der Rechnung etwas nicht. Sie geht vielleicht für die Kirche unter – aber das ist ein himmelweiter Unterschied. Darüber öffentlich.
10.) Der Gotteslästerungsprozeß des ›Eulenspiegels‹ war mir bekannt. Ich habe mich mäuschenstill dazu verhalten. Ich halte diese Art Kampf für nicht richtig und habe mich auch niemals an solchen Aktionen beteiligt. So geht das nicht.
11.) Den Chesterton werde ich mir besorgen. Ich kenne alles, was er geschrieben hat (deutsch) – ich finde es herrlich – als Feuerwerk. Was nicht ausschließt, daß er ehrlich ist, ein ehrlicher Feuerwerker. Aber er setzt den Glauben voraus, zu dem er – vielleicht – bekehren will.
12.) Ludendorff und die katholische Kirche – unmöglich, darüber ernst zu schreiben. Ein Geisteskranker. Verschaffen Sie sich vielleicht einmal die Aufsätze, die Willy Haas in der ›Literarischen Welt‹ darüber geschrieben hat – er zeigt das unterirdisch Theologische auf, das in diesem Wahnkranken zu finden ist. Das ist sehr interessant.
13.) Dank für Ihre Arbeiten, die Sie beigelegt haben. Es ist in der Gesinnung und im Grundgefühl sauber und rein – das Technische ist noch etwas wacklig – jetzt werden Sie mich furchtbar auslachen. Lesen Sie Wustmann ›Allerhand Sprachdummheiten‹ – womit aber nicht gesagt sein soll, daß Sie welche gemacht haben. (Doch, eine: „ich entschließe mich zu letzterem“ sollte mit einem Jahr Verbannung bestraft werden.) Wustmann ist eine sehr gute deutsche Grammatik.
14.) Nun habe ich alles gesagt – beinah alles.
Den Rest – beinah den ganzen Rest – werde ich also öffentlich sagen; das wird noch ein Weilchen dauern. Und dann bleibt ein winziger Rest ungesagt, was die Beziehungen zwischen den Menschen mehr als reizvoll, nämlich wertvoll macht.
Ihnen alles Gute wünschend,
bin ich Ihr ergebener Tucholsky
[…] "Dem Satiriker gab ein Gott zu sagen, was sie treiben" Nachdem der erste Rauch brennender Botschaften sich verzogen hat und viele Positionen im Streit um die Mohammed-Karikaturen ausgetauscht wurden, sollte sich einmal Zeit genommen werden, Tucholskys Satireverständnis und -praxis genauer zu betrachten. Dass die Satire "alles" dürfe, ist in jüngster wohl häufig genug wiedergekäut worden. In zahlreichen Artikeln und Briefen hat sich Tucholsky aber sehr differenziert mit der Satire, ihren Grenzen und ihren Kritikern auseinandergesetzt. Vor allem die "Briefe an eine Katholikin" geben Auskunft über Tucholskys Verhältnis zur Religion im politischen Kampf. Grenzen der Satire In dem vielzitierten Text "Was darf die Satire?" wird Anfangsfrage erst ganz zum Schluss mit einem kategorischen "Alles" beantwortet. Ganz zum Schluss deshalb, weil Tucholsky zunächst definiert, was er unter einer angemessenen Satire zu verstehen glaubt. Dazu zählen für ihn Angriffe, die die Wahrheit aufblasen, damit sie umso deutlicher hervortritt. Die die Welt gut haben wollen und gegen das Schlechte anrennen. Die boshaft sein können, wenn sie nur ehrlich sind. In diesem Sinne darf die Satire "alles", – auch Kollektivitäten angreifen, wenn nicht jeder in dem Kollektiv den Angriff verdient hat. Gemessen an diesen Forderungen sind die zwölf Mohammed-Karikaturen wenig satirisch. Wo sie wahr sind, sind sie harmlos, wo sie boshaft sein wollen, nicht wahr. Da sie aus dem einzigen Grund gezeichnet wurden, um zu provozieren, spricht schon ihre Intention gegen ihre Qualität. Aus diesem Grund ist die durch die Karikaturen angeregte Diskussion über die Grenzen der Satire ein Versuch am untauglichen Objekt. Weniger bekannt als der berühmte Satire-Text ist eine Analyse aus dem Jahre 1912, in der Tucholsky sich über "Die moderne politische Satire in der Literatur" ausbreitet. Darin heißt es lapidar: "Der Satiriker darf keine, aber auch gar keine Autorität anerkennen." Der gesamte Abschnitt, in den dieser Satz eingebettet ist, ist ebenfalls sehr aufschlussreich: Aus diesen klaren und richtigen Worten folgt zweierlei: erstens, daß man verstanden haben muß, bevor man karikiert, daß man überhaupt nur das satirisch behandeln kann, was man in seinem tiefsten Kern begriffen hat, und zweitens, daß notwendigerweise die rechtsstehenden Parteien keine gute Satire haben können, weil das restlose Kapieren der Dinge Objektivität und oft genug Respektlosigkeit erfordert. Der Satiriker darf keine, aber auch gar keine Autorität anerkennen. Das widerstrebt den Priestern der Autorität und den Halben, Lauen, und niemals werden sie eine künstlerisch gute Satire hervorbringen können (…) Ähnlich äußerte sich auch Titanic-Mitbegründer Robert Gernhardt in der jüngsten Debatte, als er in einem Interview erklärte: "Eine einzige Grenze [der Satire] gibt es da, wo ich mich nicht auskenne." Tucholskys Aussagen zu politischen Satiren lassen sich aber nicht uneingeschränkt auf religiöse Fragen übertragen, wie die im Folgenden zitierten Passagen zeigen. Satire und Religion In der Karikaturen-Debatte wurde häufig die Frage aufgeworfen, ob Satire nicht stärker Rücksicht auf religiöse Gefühle nehmen müsse. Auch diese Frage lässt sich mit Bezug auf Tucholsky nicht mit einem pauschalen Ja oder Nein beantworten. Für Tucholsky hatten die christlichen Kirchen durch ihr Verhalten im Ersten Weltkrieg zu viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren, um sich von Staats wegen weiter vor Kritik schützen zu lassen. Er griff sie daher scharf an, wenn sie seiner Meinung nach aus dogmatischen Überzeugungen die weltliche Not der Gläubigen nicht zu lindern halfen, sondern sie durch strikte Forderungen noch vergrößerten. Dies galt in Fragen der Sexualmoral und der allgemeinen Lebensführung. Tucholskys Vorteil bestand natürlich darin, dass er mit der Amtskirche oder der katholischen Zentrumspartei eine deutliche Zielscheibe für seine Kritik besaß. Ihm ging es jedoch nicht darum, das Christentum oder religiöse Überzeugungen im allgemeinen verächtlich zu machen. Dies geht auch aus der Feststellung hervor: "Die Satire hat eine Grenze nach oben: Buddha entzieht sich ihr." Tucholsky beklagte sich aber darüber, dass von katholischer Seite diese Selbstbeschränkung nicht ausreichend wahrgenommen wurde. So wehrte er sich gegen entsprechende Vorwürfe, die ihm im Zentrumsblatt Germania von der Journalistin Marierose Fuchs gemacht wurden. Seine Entgegnung lautete: Ist nicht überall sauber unterschieden zwischen der Kirche als Hort des Glaubens, über den ich mich niemals lustig gemacht habe – und der Kirche als politische Institution im Staat? Brief an Marierose Fuchs vom 14.8.1929 Scharf attackierte er aber die Position des Zentrums, sich im politischen Kampf auf religiöse Überzeugungen zurückziehen zu wollen: Also darf man sich nicht auf das "Heilige", auf das "religiöse Empfinden" zurückziehen, wenns einem grade paßt. Das ist nicht ehrlich. Brief an Marierose Fuchs vom 17.12.1929 Und weiter: In dem Augenblick aber, wo die Kirche sich erdreistet, uns andern ihre Sittenanschauungen aufzwingen zu wollen – unter gleichzeitiger Beschimpfung der Andersdenkenden als "Sünder" – in dem Augenblick halte ich jede politische Waffe für erlaubt – auch den Hohn, grade den Hohn. Und zwar nicht den dummen, abgestandenen gegen die Pfarrersköchin – grade den lehne ich aus tiefstem Herzen ab. Ebenso verwahrte er sich gegen den überkommenen Anspruch der Religionen, die Gesellschaft vor einer Verwahrlosung der Sitten zu schützen: Es gibt kein religiöses Monopol der Ethik, Millionen von anständigen und sittlich gefestigten Menschen schmähen die Kirche nicht, leben aber bewußt und ganz und gar an ihren Lehren vorbei, und sie tun recht daran. Es ist unrichtig, daß der, der die Lehren der Kirche überwunden hat, ein sittlich minderwertiges Individuum ist. In: "Auch eine Urteilsbegründung" An zahlreichen Stellen betonte er aber, sich aus rein religiösen Fragen herauszuhalten: Wenn ernste und große katholische Männer über ihre Religion sprechen und nur über diese, so schweige ich. Brief an Marierose Fuchs vom 28.7.1930 Was Tucholsky jedoch nicht als Freibrief für theologische Spekulationen galt, wonach letztlich doch jeder Mensch eine verborgene religiöse Ader besäße: Ihr müßt euch schon daran gewöhnen, daß es sehr vergnügte Heiden gibt – die geht das gar nichts an. Feuerländer sind keine Widerlegung gegen die französische Grammatik – sie beweisen aber, daß es auch ohne diese Grammatik geht. Brief an Marierose Fuchs vom 27.12.1930 Satire und ihre Kritiker Schon der Text "Was darf die Satire?" war ein einziger Appell an die politischen Kontrahenten, satirische Angriffe nicht bierernst, sondern mit einem gewissen Humor zu nehmen. Wir sollten nicht so kleinlich sein. (…) Das ist kein rechter Mann und kein rechter Stand, der nicht einen ordentlichen Puff vertragen kann. Er mag sich mit denselben Mitteln dagegen wehren, er mag widerschlagen – aber er wende nicht verletzt, empört, gekränkt das Haupt. Diese Appelle verhallten im politisch aufgeheizten Klima der Weimarer Republik ungehört. Tucholsky selbst musste Anfang der zwanziger Jahre damit rechnen, als Jude und politisch links stehender Journalist ebenso wie Maximilian Harden das Opfer eines Attentats zu werden. Allerdings lässt sich nicht belegen, inwieweit dieses Bedrohungsgefühl sein Schreiben beeinflusste. Der Wechsel nach Paris wurde jedoch von der aggressiven, ihm unangenehmen Stimmung in der deutschen Gesellschaft und Politik mitbestimmt. Als Rechtfertigung für diese Flucht könnte der Artikel "Wie mache ich mich unbeliebt" vom Oktober 1924 dienen: Wenn man ganz sichergehen will, gleich eine ganze Kompanie auf Jahre hinaus zu verärgern, dann braucht man nur Witze über einen Stand zu reißen. Man tue es – gehe aber unmittelbar nach Begehung des Delikts außer Landes. (…) Wenn du aber auf alle Grafen, auf die Postschaffner und auf den Kaufmannsstand etwas sagst – und nun gar etwas Lustiges –: dann verteile die Güter dieser Erde – Anzüge, Blumentöpfe und Zeitschriftenabonnements – an deine Kinder; ordne deine Schulden – Miete, Effekten und Zeitschriftenabonnements – und entwetze. Dein Leben ist verwirkt. Beinahe verzweifelt wirkt der Appell, mit dem er den Artikel beschließt: Dem Satiriker gab ein Gott zu sagen, was sie treiben. Man kann ja nun nicht gerade verlangen, daß der Großpapa, dem der Enkel einen kleinen Flitzbogenpfeil in die hintere, untere Schlafrockseite bohrt, dem guten Kind auch noch einen Bonbon gibt. Aber nicht gleich aufspringen und mit harten Gegenständen werfen. Die Würde muß es sich gefallen lassen, daß sie manchmal am Bart gezupft wird. (Auch Bartlose haben einen Bart, mitunter.) Denn die moderne Sorte Humorist muß heute noch mit einem Schutzpanzer umhergehen: Gute Leute! Nicht schießen! Anfang 1932, als die Machtbeteiligung der Nationalsozialisten nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien, stellten die Weltbühne-Herausgeber Tucholsky und Carl von Ossietzky jedoch Überlegungen an, bestimmte Artikel aus Furcht vor Übergriffen nicht zu drucken. Zwar hatte Tucholsky noch im März 1932 geschrieben: Satire hat auch eine Grenze nach unten. In Deutschland etwa die herrschenden faschistischen Mächte. Es lohnt nicht – so tief kann man nicht schießen. Gleichzeitig verfasste er aber den satirischen Schulaufsatz "Hitler und Goethe", in dem er die Rhetorik der Nazi-Bewegung verspottete. Jedoch warnte er Ossietzky davor, diesen Artikel bei einem möglichen Erfolg Adolf Hitlers bei der Wahl zum Reichspräsidenten abzudrucken: Mein Aufsatz über Hitler. Ich habe mich nicht klar ausgedrückt. "Stichwahl" gibts ja gar nicht. Ich schlage also vor, daß ich nach der zweiten Wahl schreibe – wenn er geschlagen wird. Man kann, wenn der morgige Tag besondere Überraschungen bringt, vielleicht zwischen den beiden Wahlen schreiben – aber das ist so unsicher … ich mag nicht gegen Hitler das gröbste Geschütz auffahren, dann wird er gewählt, ich bin nicht da … aber Sie sind da. Der Artikel erschien schließlich am 17. Mai 1932. Tucholsky hielt sich damals in Schweden auf, Ossietzky war hinter preußischen Gefängnismauern sicher verwahrt. Brief an Carl von Ossietzky, 12.3.1932 Resümee Aus den zitierten Text- und Briefstellen geht hervor, dass Tucholskys Position in Sachen Satire nicht auf die Position "sie darf alles" reduziert werden sollte. Vor allen in religiösen Fragen unterschied er klar zwischen den geistigen Inhalten und den daraus entspringenden gesellschaftlichen Ansprüchen. Dass diese Trennung den religiösen Vertretern selbst schwerer fällt, liegt in der Natur der religiösen Überzeugungen. Die Positionen Tucholskys lassen sich zum Teil uneingeschränkt auf die heutigen Verhältnisse übertragen. Zum anderen lässt sich die von ihm gepflegte Trennung zwischen Glaubensinhalten und Politik teilweise nur schwer aufrechterhalten. Dies zeigt sich beispielsweise an der Debatte über die Evolutionstheorie in den USA. Ein Anhänger des Schöpfungsglauben kann sich nicht darauf berufen, dass die Lehren Charles Darwins seine religiösen Gefühle verletzten und dadurch verboten werden müssten. Ein Beispiel für eine gelungene religiöse Satire ist in diesem Sinne die Persiflage der amerikanischen Satire-Zeitung The Onion auf die Vertreter des "intelligenten Designs": "Evangelikale Wissenschaftler ersetzen Schwerkraft durch neue Theorie des "Intelligenten Fallens". Von den Onion-Redakteuren ist bislang nicht bekannt geworden, dass sie außer Landes gegangen sind. Aber um es noch einmal zu wiederholen: "Gute Leute! Nicht schießen!" […]
Pingback by Sudelblog.de - Das Weblog zu Kurt Tucholsky » "Dem Satiriker gab ein Gott zu sagen, was sie treiben" — 15.2.2006 @ 15:12
[…] Brief an Marierose Fuchs (17.12.1929) […]
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[…] Solange sich die Kirche damit begnügt, zu sagen: “Wir beerdigen keinen geschiedenen Mann kirchlich. Wir erkennen eine zweite Ehe nicht an – wir exkommunizieren. Wir halten den Ehebruch für eine schwere Sünde.” – solange haben wir andern zu schweigen. Weil man nämlich aus der Kirche austreten kann – und wer darin bleibt, der hat sich zu unterwerfen. Das ist eine innerkatholische Angelegenheit, die keinen andern berührt. In dem Augenblick aber, wo die Kirche sich erdreistet, uns andern ihre Sittenanschauungen aufzwingen zu wollen – unter gleichzeitiger Beschimpfung der Andersdenkenden als “Sünder” – in dem Augenblick halte ich jede politische Waffe für erlaubt – auch den Hohn, grade den Hohn. Und, unmittelbar davor eine zweite Stelle, die mir ganz passend scheint, auch wenn für die politische Landschaft heute wohl eher nicht die Zentrumspartei relevant ist. Der Kern der Sache bleibt freilich derselbe: Wie! Die Partei steigt in die Arena des politischen Kampfes hinunter, ein Feld, auf dem – wie männiglich bekannt – auch mit Pferdeäpfeln geworfen wird. Die Kämpfer schreien sich heiser, sie brüllen, sie führen auch saubere und leise Kämpfe – und es geht im ganzen recht hitzig zu. Wir wehren uns. Gerät aber die Kirche in die Bredouille, dann höre ich da ein Gequietsch wie von einer Katze, der man auf den Schwanz getreten hat: “Das Heiligste ist in Gefahr!” – Das Heiligste ist in Gefahr? Dann müßt ihr das nicht auf den Kampfplatz schleppen – es fällt ja auch keinem Priester ein, mit dem Allerheiligsten, unbedeckt, in eine Elektrische zu steigen – weil es nämlich nur ein transportabler Gegenstand wäre, auf den Rücksicht zu nehmen unmöglich wäre. Also? Also darf man sich nicht auf das “Heilige”, auf das “religiöse Empfinden” zurückziehen, wenns einem grade paßt. Das ist nicht ehrlich. Die politische Partei des Zentrums muß sich gefallen lassen – genau wie alle andern Parteien auch – politisch bekämpft zu werden. Und das hat Ossietzky getan. Zieht die Partei die Kirche in den Streit, so geht der Kampf auch um das Dogma – wir haben nicht angefangen. Den ganzen Brief an Marierose Fuchs finden geneigte Leser im Sudelblog. […]
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