30.1.2009

Mit Schmus und Zitatenschatz (4)

Es macht irgendwann keinen Spaß mehr.

Bislang war man ja daran gewöhnt, dass das Kerschhofersche Gedicht von der »Höheren Finanzmathematik« als Ganzes Tucholsky zugeschlagen wurde. Nun fangen die Kollegen aber schon an, einzelne Verse daraus herauszuklauben und als Original-Tucholsky-Zitate unters Volk zu bringen. So beispielsweise die Neue Osnabrücker Zeitung in einem Kommentar zur Krise beim Autozulieferer Schaeffler:

Egal, wie eine bayerisch-niedersächsische Staatshilfe für die Autozulieferer Schaeffler und Conti aussehen soll: Sie verbietet sich. Zwar ließe sich argumentieren, dass der Steuerzahler schon den Aktionären der Allianz das Abstoßen der Dresdner Bank zu Top-Konditionen ermöglicht hat und der Auto-Industrie die Steigerung der Nachfrage nach Neuwagen bezahlt. Frei nach dem Tucholsky-Wort: »Der Gewinn, der bleibt privat, die Verluste kauft der Staat.«

Diese sehr freie Peinlichkeit hat Nils Dietrich in der Rheinischen Post zum selben Thema noch überboten:

In diesen Tagen der Wirtschaftskrise ruft sich ein altes Sprichwort von Kurt Tucholsky immer wieder ins Gedächtnis: »Der Gewinn, der bleibt privat, die Verluste kauft der Staat.« So geschieht es derzeit im Bankensektor, demnächst kommt offenbar noch ein Rettungsschirm für Unternehmen hinzu.

Dieses unglaublich alte Sprichwort, das wir uns ja schon in der DKP-Kindergruppe immer zugeflüstert haben…

Wenn schon Tucholsky in dieser Situation, dann doch bitte der aus dem »Kurzen Abriß der Nationalökonomie«:

Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andre werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog. »Stützungsaktion«, bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, daß die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie ja dann auch meist nichts mehr.

14.1.2009

Sudelblog-Spezial: »Fusionen«

Seit Beginn dieses Jahres trifft auf Carl von Ossietzky das zu, was für Kurt Tucholsky schon seit 2006 gilt: Die Werke sind nicht mehr urheberrechtlich geschützt. Aus diesem Anlass veröffentlicht das Sudelblog hier einen recht zeitlosen Ossietzky-Text, der sich mit der Rolle des Staates in der Wirtschaft befasst. Weitere Texte des Weltbühne-Herausgebers und Friedensnobelpreisträger finden sich auf der Sammlung von Wikisource.

Fusionen

Von Carl von Ossietzky

Nicht oft hat es so viele verdutzte Gesichter gegeben wie vor ein paar Tagen, als der Zusammenschluß der Deutschen Bank mit der Disconto-Gesellschaft bekannt wurde. Das gewiß schwierige Vorbereitungsstadium war in diskreteste Nachtfarbe gehüllt gewesen, und nicht ein Laut drang zu den findigen Finanzjournalisten, die sonst jedes wispernde Mäuschen im Keller eines Bankpalastes zu registrieren pflegen. Den größten Redaktionen blieb vor dieser Nachricht die Luft weg, und selbst in den längsten Kommentaren spürt man die noch nicht ganz wiedergewonnene Lungenkraft. Die Verblüffung ist berechtigt, denn mit dieser Vereinigung zweier ohnehin überragender Bankinstitute entsteht ein Finanzungetüm, ein Leviathan, dessen Pranken und Zähne bald fühlbar werden. Was ist daneben Vater Staat, in dem wir alle in rebellischen Momenten einen reißenden Oger zu sehen gewohnt sind? Eine Armenkasse, ein Klingelbeutel in der Kirche einer Hungergemeinde. Und, wenn nicht alles trügt, scheint grade der Staat von der neuen Geldübermacht als Trainingsobjekt für ein paar vorbereitende Exerzitien in Aussicht genommen zu sein. Auf der düsseldorfer Tagung des Reichsverbands der Deutschen Industrie hat neulich Herr Doktor Kehl, der Jüngste in der Gerusia der Deutschen Bank, mit jener frischen Vehemenz, über die Herr Hjalmar Schacht früher verfügte, als er noch nicht so viel Weihrauch inhaliert hatte, ein Programm vom Vorrang der Wirtschaft gegenüber dem Staat eingehend erörtert. Es ist wieder große Mode, auf die öffentliche Hand zu schimpfen, gegen die vom Staat auferlegten Soziallasten zu wettern. Lang ist es noch nicht her, da war der Staat gut genug, um Subventionen herzugeben, und die ach so sieche Wirtschaft ließ sich gern von ihm goldene Prothesen bezahlen. Das ist vorüber, und heute konzentriert sich alles, um den Staat da, wo er als Kapitalist und Unternehmer auftritt, zu enteignen und seine Betriebe in die private Hand zu bringen. Wir sind seit Thomas Morus an sozialistische Utopien gewöhnt, wir pflegten die Gesellschaft der Zukunft immer frei und heiter zu sehen, erlöst von dem Erbfluch der ungerechten Eigentumsverhältnisse. Nun, man kann sich auch kapitalistische Utopien denken. G. K. Chesterton hat eine geschrieben, »Der Napoleon von Nottinghill« heißt sie, eine nachdenkliche kleine Satire, die um 1970 spielt, in einer Zeit, die sich dadurch auszeichnet, daß alles, aber auch alles radikal entkommunalisiert ist; sogar Wasserwerke, Brücken und Straßenreinigung sind in die Privatwirtschaft übergegangen, der Staat, funktionslos geworden, wird vertreten von einem Bäckerdutzend Subalterner, die sich mangels Beschäftigung zu Tode langweilen und von denen einer den Titel König führt. »Die Sozialisierung marschiert«, sagten die Genossen Minister der Noskezeit, und vor ein paar Jahren waren die Kommunisten witzig genug, im preußischen Landtag einmal die Anfrage zu stellen, wohin die Sozialisierung denn marschiert sei. Niemals ist eine Antwort erfolgt.

Eines unterscheidet den Kapitalismus allerdings sehr gründlich von seinen Gegenspielern: er handelt nur nach den Geboten kältester Zweckmäßigkeit. Er kennt nicht Sentimentalität, nicht Tradition. Er würgt, wenn es sein muß, schnell und sicher den Verbündeten von gestern ab und fusioniert sich mit dem Feind. Die beiden Riesenbanken, die sich jetzt zu gemeinsamem Tun zusammengeschmolzen haben, waren intime Konkurrenten und standen sich herzlich schlecht. Abneigungsgefühle haben sie nicht gehindert, das Hausinteresse dem größern Gebilde zu opfern. Könnte dieser Vorgang nicht beispielhaft wirken? Der Kapitalismus erhöht und verstärkt seine Bollwerke, denn er hat alles zu verlieren, und seine einzelnen Glieder verzichten klug auf die Eigensüchte des Moments. Aber die Andern, die nichts zu verlieren haben als ihre Ketten und über nichts verfügen als über eine Reihe umstrittener Ideologien, die raufen sich um ihre Dogmatik, die spalten und splittern sich in kleinste Teile, so daß sie nicht einmal mehr durch Quantität zu wirken vermögen.
[…]

Erschienen in: Die Weltbühne, 16. Oktober 1929, S. 499

Editionen: Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur Weltbühne, Berlin 2008, S. 261f.

28.12.2008

Statt eines Gedichts

Vor fast zwei Monaten war hier in dem Beitrag »Die Entstehung einer Gedichtlegende« vorgeschlagen worden:

Vielleicht sollte man inzwischen dazu übergehen, wie es die Börsen-Zeitung gemacht hat, statt der Kerschhofer’schen Finanzmathematik den »Kurzen Abriß der Nationalökonomie« von Kaspar Hauser abzudrucken. Das ist immer noch unterhaltsamer, zutreffender und aktueller als alles, was sich beispielsweise Frank Schirrmacher im Feuilleton der FAZ zur Finanzkrise zusammenschreibt.

Da die Finanzkrise seitdem leider nichts an ihrer Aktualität verloren hat, sind dem Vorschlag nun zwei Medien gefolgt. So der Freitag, aber auch die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, letztere hat den Text allerdings leicht gekürzt.

23.10.2008

Die Entstehung einer Gedicht-Legende

Es ist ja häufig kaum nachzuvollziehen, warum und weshalb bestimmte Aussagen Tucholsky untergeschoben werden. Um so schöner ist es daher, wenn sich die offensichtlich falsche Verbindung eines Textes mit der Autorschaft Tucholskys einmal „live“ mitverfolgen lässt.

Seit gut zwei Wochen geistert im Internet (wo sonst) ein Gedicht herum, das Tucholsky angeblich 1930 in der Weltbühne veröffentlicht hat. Es beschreibt so perfekt die aktuelle Finanzkrise, dass jede Debatte um eine mögliche Vergleichbarkeit mit der Weltwirtschaftskrise von 1929ff sofort verstummen müsste: Heute alles genau wie damals!

Das titellose Gedicht beginnt mit:

Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.

Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen – echt famos!

Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.
[…]

Schon die Tatsache, dass Tucholsky damals von Leerverkäufen und Derivaten schrieb, sollte einen arg stutzig machen. Vom Stil ganz abgesehen. Wohl auch deswegen gingen bei der Tucholsky-Gesellschaft schon mehrere Anfragen ein, ob dieses Gedicht tatsächlich von Tucholsky stamme. Diese Frage haben sich ebenfalls einige Leser im Niggemeier-Blog gestellt, wo das Gedicht bald aufgetaucht war. Und sie haben des Rätsels Lösung gefunden:

Die Angabe von Tucholsky als Urheber ist wohl sicher ein Lesefehler, der auf folgender Seite gut nachvollzogen werden kann und auch von ihr stammen müßte:
http://weltrandbewohner.blog.v…..die-krise/
Ein gewisser Waltomir (bzw. eben eine Freundin von ihm, s.u.) hat nicht genau gelesen und mit dem Fehler am 15.10. die seriöse und von Bibliothekaren gern frequentierte Zeit-Kommentar-Seite infiziert:
http://kommentare.zeit.de/user…..e-freundin
Womit das bisher namenlose Poem dann auch einen recht hübschen Titel hätte, jedenfalls besser als die nicht sehr phantasievolle erste Zeile.

Weil die falsche Fährte so klassisch schön angelegt ist, sei sie hier noch mal wiedergegeben:


[…]
Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bisschen Krieg gemacht.

Klasse! Und jetzt Tucholsky. Es wurde 1930 in der Weltbühne veröffentlicht. Und es trifft bis heute zu…

Die freie Wirtschaft
[…]

Der eigentliche Autor des Gedichtes scheint ein gewisser Richard G. Kerschhofer zu sein, der den Text unter dem Pseudonym Pannonicus und dem Titel „Höhere Finanzmathematik“ wohl zuerst hier veröffentlicht hat.

Die Verbreitung des Gedichtes unter der Urheberschaft Tucholskys wird sicher munter weiter gehen. Es sei denn, alle Zeitungen klären ebenso brav wie die Frankfurter Rundschau ihre Leser über den wahren Sachverhalt auf.

28.9.2008

Sudelblog-Spezial: „Vom Sinn und Unsinn der Börse“

Aus gegebenen Anlässen sei hier mal wieder auf Auszüge eines Textes verwiesen, der vor einiger Zeit in einer Tucholsky sehr nahestehenden deutschen Zeitschrift gestanden hat.

Vom Sinn und Unsinn der Börse

[…] Die Psyche des Börseaners ähnelt nicht der des Schachspielers, sondern der des Hazardspielers. Und wenn man für die letzten Gedankengänge des Metaphysikers und für die Kalküle der Burgstraßenherren das gleiche Wort „Spekulation“ anwendet, so ist doch nicht nur das Stoffliche, das Thema, sondern auch der Gedankenprozeß bei beiden grundverschieden. Der spekulative Philosoph baut auf schwankendem Boden; aber das Gebäude, das er errichtet, ist von feinster logischer Konstruktion. Der Börsenspekulant klammert sich an irgendeine reale Tatsache; aber schon die erste Hoffnung, die er darauf stützt, ist logisch nicht mehr standfest. Der eine konstruiert im luftleeren Raum; der andre errichtet ein Kartenhaus. Der eine baut auf Sand; der andre baut aus Sand. Beiden gemeinsam ist nur die Funktion, das Handeln-Müssen. Der richtige Börsenspekulant ist, wie der wirkliche Denker, ein Besessener. Und wie die geistige Spekulation letzter Ausdruck einer aufs Jenseitige gerichteten Epoche ist, so ist die Börse das vollkommenste Sinnbild einer nach Besitz, nach Geld jagenden Zeit. Die Funktion bleibt auch dort erhalten, wo der Inhalt, wo das Ziel zum Nichts geworden ist. Als in der Zeit des strengsten Sowjet-Kommunismus die Börsen geschlossen waren, da handelte man in Moskau Lagerscheine, von denen man genau wußte, daß sie keine Ware mehr vertraten, orientalische Noten, die längst verfallen waren, und auch diese chimärenhaften Dinge hatten einen Kurs, fielen gestern und zogen heute an. Man handelte, weil dieser Handel einer gewissen Schicht Lebensbedürfnis ist.

Das ist, wenn man so will, der ästhetische Wert der Börse an dem man als unbeteiligter Zuschauer seine Freude haben mag. Bedauerlich bleibt nur, daß es, streng genommen, unbeteiligte Zuschauer bei diesem unterhaltenden Spiel nicht gibt. Wir alle sind darein verwickelt: Akteure und Zuschauer. Denn letzten Endes muß das Publikum bezahlen, was dort gewonnen, was dort verloren wird. Das ist ja das Ungeheuerliche, daß eine verhältnismäßig kleine Zahl von Devisenspekulanten bestimmt, zu welchem Preis der Bürger sein Brot, seinen Anzug, seine Kohle kaufen muß. In der Blütezeit des doktrinären Liberalismus galt die Börse als die herrlichste Institution der modernen Wirtschaft. Hier hatte man ja den idealen „freien Markt“, auf dem Angebot und Nachfrage, ungehindert durch staatliche und zünftlerische Schranken, den Preis bestimmten. Heute wagt auch der eingefleischteste Manchestermann der Börse nicht mehr dieses Prädikat auszustellen. Wohl laufen auf der Börse alle Fäden der Wirtschaft zusammen; aber der Knoten wird geschürzt von einer Menschenkategorie, die weder nach ihrer weltwirtschaftlichen Übersicht noch nach ihrer volkswirtschaftlichen Bildung, weder nach ihrer Verstandesklarheit noch nach ihrem moralischen Verantwortungsgefühl geeignet ist, im Mittelpunkt des Wirtschaftsgeschehens zu stehen. Es mag zehnmal sein, daß jede Spekulation, die gegen die organische Wirtschaftstendenz gerichtet ist, auf die Dauer zusammenbricht. Einstweilen beherrscht der Spekulant das Feld und bestimmt die Lebenshaltung von Millionen und Abermillionen werktätiger Menschen. […]

Autor: Morus (Richard Lewinsohn)

In: Die Weltbühne, 16. November 1922, S. 529

Editionen: Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur Weltbühne, Berlin 2008, S. 254-256.

18.3.2008

Kurzer Abriss der Globalökonomie

Diesmal also die Banker. Es gibt ja immer Teile der „Herren Wirtschaftsführer“, wie Tucholsky sie nannte, die eine Zeitlang ihre besondere Unfähigkeit beweisen wollen:

Die Kaufleute sind Exponenten des Erwerbsinnes; sie haben immer ihre Rolle gespielt, doch wohl noch nie so eine große wie heute. Weil das, was sie in Händen halten, das wichtigste geworden ist, werden sie in einer Weise überschätzt, die lächerlich wäre, wenn sie nicht so tragische Folgen hätte. Die deutsche Welt erschauert, sie braucht Götzen, und was für welche hat sie sich da ausgesucht –!

Wer denkt da nicht sofort an … (nach Belieben auszufüllen).

Oder hatten wir nicht vor einiger Zeit einmal eine Diskussion über die Höhe von Managergehältern?

Weil die Kapitalisten nur mit einem Verdienst arbeiten, der tausend und tausendmal über dem der Arbeiter steht; es wird uns aber kein Mensch erzählen, daß selbst der gewiegteste und beste Unternehmer soviel verdient, wie er verdient: nämlich soviel, wie fünfhundert seiner Arbeiter zusammen. Fünfhundert Leute … das sind in Wahrheit mindestens weitere siebenhundert, die von den Verdiensten der fünfhundert leben, mindestens.
„Das Volk“, in: Deutschland, Deutschland über alles, S. 18

Da fragt man sich doch, was die Deutschen früher gemacht haben, als es noch keinen DAX gab, mit dessen Höhen und Tiefen sie mitfiebern konnte. Denn, was lernt man schon aus einem Kurzen Abriss der Nationalökonomie:

Die Wirtschaft wäre keine Wirtschaft, wenn wir die Börse nicht hätten. Die Börse dient dazu, einer Reihe aufgeregter Herren den Spielklub und das Restaurant zu ersetzen; die frommem gehn außerdem noch in die Synagoge. Die Börse sieht jeden Mittag die Weltlage an: dies richtet sich nach dem Weitblick der Bankdirektoren, welche jedoch meist nur bis zu ihrer Nasenspitze sehn, was allerdings mitunter ein weiter Weg ist. Schreien die Leute auf der Börse außergewöhnlich viel, so nennt man das: die Börse ist fest. In diesem Fall kommt – am nächsten Tage – das Publikum gelaufen und engagiert sich, nachdem bereits das Beste wegverdient ist. Ist die Börse schwach, so ist das Publikum allemal dabei. Dieses nennt man Dienst am Kunden. Die Börse erfüllt eine wirtschaftliche Funktion: ohne sie verbreiteten sich neue Witze wesentlich langsamer.

Dennoch wüssten viele heute gerne, warum kleine deutsche Landesbanken pleite gehen, wenn amerikanische Häuslebauer ihre Kredite nicht bezahlen können. Die Antwort lautet ganz einfach:

Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.

8.8.2007

Bahnstreik vor Gericht ohne Tucholsky

Bei Kurt Tucholsky verlor die Richterin die Geduld. Das Gedicht über die „Eisenbahner“ durfte Ulrich Fischer vor dem Arbeitsgericht Frankfurt nicht mehr vortragen. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte der Rechtsanwalt der Gewerkschaft der Lokführer das Gericht, die Vertreter der Deutschen Bahn und diverse Journalisten schon mehrere Stunden in Atem gehalten mit seinen Ausführungen zum Arbeitskampf seiner Mandanten.

Heißt es in der FAZ. Und man wundert sich natürlich, dass nach atemraubenden Ausführungen eines lebenden Juristen die Worte eines profilierten toten eher als weitere Anstrengung denn als Entspannung gesehen werden – zumindest von der Journalistin Melanie Amann.

Doch bevor sich nun die engagierte FAZ-Leserschaft selbst an ihr Tucholsky-Bücherregal begibt und Fischer möglicherweise dadurch missversteht, dass sie den Text „Eisenbahner“ von 1930 statt den von Fischer vorzutragen beabsichtigten „Eisenbahnerstreik“ von 1922 liest, sei er hiermit dargebracht:


Eisenbahnerstreik

Unnötig.
Aber ohne jedes Recht.
Die Frau, die Kinder wollen Schuhe.
Wißt ihr, wie solcher Dienst den Körper schwächt?
Tag-, Nachtschicht und das bißchen Ruhe.

Ja, standet ihr schon mal am Führerstand?
Der Kessel glüht – es ziehn die Winde.
Heiß-kalt, kalt-heiß wird seine Führerhand . . .
Wo ist sein Sinn! Bei seinem Kinde?

Wo ist sein Sinn? Die Augen spähn: »Fahrt frei!«
Er darf nicht einen Griff versäumen.
Er sieht das Vorsignal und Weiche III –
Ihr könnt auf weichen Polstern träumen,

Wollt ihr nicht sichere Fahrt durch euer Land?
Wie soll der Dienst tun mit den Sorgen?
Zweihundert Leben in der einen Hand –
und dieser Hand will keiner, keiner borgen?

Er hats nicht leicht der Mann vom Flügelrad.
Stets droht der Tod. Er soll nicht ein Mal fehlen.
Ihr tuts für euch. Macht seine Kinder satt!
Wer fünf Milliarden für die Reichswehr hat:
der darf uns nichts von Sparsamkeit erzählen!

Autorenangabe: Theobald Tiger
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 09.02.1922, Nr. 6, S. 149

16.4.2006

Die freie Misswirtschaft

Wie fühlen sich Verleger, wenn sie einen Fauxpas begangen haben? Grund dazu hätten die 32 Buchexperten, die die Osterausgabe der taz verantworteten. Denn im Wirtschaftsressort veröffentlichten sie einen Text, der hier und da schon als Gedichtsfälschung gebrandmarkt wurde. Der korrekte Wortlaut von „Die freie Wirtschaft“ findet sich dagegen dort.

Und eines scheint nach dem österlichen taz-Experiment klar: Verleger sind auch nicht die besseren Journalisten.

5.3.2006

Klassischer Abriss der Globalisierung

Anders als Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx gehört der Bankvolontär Kurt Tucholsky nicht zu den Klassikern der Wirtschaftslehre. Es gilt in Ökonomenkreisen aber durchaus als schick, sich gelegentlich einer Zitatensammlung zu bedienen, die Tucholsky unter dem Titel „Kurzer Abriß der Nationalkökonomie“ veröffentlichte. Anders als eine Zitatensammlung lässt sich dieser Text kaum bezeichnen, enthält er doch Klassiker wie:

Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben.

Geld ist weder ein Zahlungsmittel noch ein Tauschmittel, auch ist es keine Fiktion, vor allem aber ist es kein Geld.

Die Nationalökonomie ist die Metaphysik des Pokerspielers.

Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.

Letztere Feststellung tauchte dieser Tage gleich in zwei Medien auf. Zum einen im Stern, der seine Titelstory der „Geschichte des Kapitalismus“ widmete, zum anderen in der Welt am Sonntag, die ein neues Buch des FTD-Redakteurs Wolfgang Münchau in Auszügen vorabdruckte. Wobei Münchau auf provokante Weise Tucholsky korrigierte:

Der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky schrieb einmal: „Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.“ In Wirklichkeit ist die Weltwirtschaft nicht annähernd so verflochten wie der deutsche Mittelstand.

Die Chance, dass Münchaus Weisheit zum vielzitierten Klassiker wird, ist jedoch eher gering.

4.12.2005

Kantersieg in der Zitatenliga

3:1 für Tucholsky, lautet die eindeutige Bilanz dieses Medienwochenendes. Ein überraschendes Ergebnis angesichts der schweren Auswärtsbegegnungen, die auf dem Spielplan standen.

Zunächst galt es, sich im schweizerischen Zürich mit einer Rezension von Siegfried Jacobsohns „Gesammelten Schriften“ auseinanderzusetzen. Ganz klar, dass sich die „NZZ“ in ihrem Text „Das Theater allein kann sich nicht bessern“ auch auf Tucholsky berief. Dieser wurde am Ende des Textes präsise zitiert, um Jacobsohns journalistische Maxime zu nennen:

Wir alle, die wir unter seiner Führung gegen dieses Militär, gegen diese Richter und gegen diese Reaktion gekämpft haben, kennen seinen tiefsten Herzenswunsch: die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit Mozarts, die Wahrheit Schopenhauers, die Wahrheit Tolstois – inmitten einer Welt von Widersachern: die Wahrheit.
Kurt Tucholsky: „Siegfried Jacobsohn †“ , in: Die Weltbühne, 7.12.1926, S. 873

Die NZZ ließ sich die Chance nicht entgehen und brachte Tucholsky souverän mit 1:0 in Führung.

Das 2:0 fiel nach einer schönen Kombination in Frankfurt. Dort machte sich Mario Müller in der „FR“ Gedanken darüber, ob die Entscheidung der EZB, den Leitzins anzuheben, auch ökonomisch Sinn ergibt. Und wenn es um Volkswirtschaft geht, ist Tucholskys „Kurzer Abriss der Nationalökonomie“ immer für eine Steilvorlage gut: „Zusammenfassend kann gesagt werden: die Nationalökonomie ist die Metaphysik des Pokerspielers.“ Müller verwandelte den Traumpass anschließend sicher mit spielerischen Bemerkungen zu Peer Steinbrück und Jean-Claude Trichet.

Einen unerwarteten Gegentreffer erhielt Tucholsky in Gelnhausen. Dort war es zuvor zu einem heftigen Gerangel im Magistrat gekommen, wie der „Gießener Anzeiger“ berichtete:

Wer die SPD so rasch informierte, interessiert Christdemokrat Michaelis brennend. Und da er gerne Tucholsky zitiert, ruft er dessen bekannten Spruch in diesen Tagen wohl besonders oft in Erinnerung: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“

Nun hat sich das USPD-Mitglied Tucholsky häufig darüber aufgeregt, dass die Mehrheits-SPDler unter Friedrich Ebert die Revolution von 1918/19 verraten haben, aber das genannte Zitat findet sich in seinem gesamten Werk nicht wieder. Ein eklatanter Stellungsfehler in der journalistischen Zitatenabwehr.

Den Schlusstreffer erzielte Tucholsky in Berlin, wo der Heimvorteil voll zur Geltung kam. Das „Neue Deutschland“ berichtete über eine Veranstaltung der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, auf der dem Verfassungsrichter Udo di Fabio der Preis für den „Reformer des Jahres“ verliehen wurde. Diese Veranstaltung wurde von einer Gruppe „Überflüssiger“ gestört, denen sich die Veranstalter problemlos entledigten. Das ND kommentierte diesen ungleichen Kampf mit einem länglichen Tucholsky-Zitat:

Denn nichts ist gefährlicher, als den Partner zu niedrig einzuschätzen – auf diese Weise sollen schon Kriege verloren gegangen sein. Glaub du ja nicht, du seist der einzig Schlaue weit und breit.
Peter Panter/Theobald Tiger: „Sind Sie eine Persönlichkeit?“, in: Uhu, 1.6.1931 S. 72

Mit dieser starken Leistung darf Tucholsky hoffen, nicht in die literarische Regionalliga abzusteigen.

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