Marinetti in Paris

In einer ganz kleinen Stampe auf dem Boulevard Raspail, ein paar Minuten von den pariser Romanischen Cafés, wo die zweiundzwanzig sich ewig wiederholenden Spielarten langweiliger Psychopathen sich Bedeutung von der Legende borgen, Lenin habe hier eines Tages gesessen … Unordentliche Bürger — vorüber.

   In dem kleinen Gastzimmer der Kneipe hängen Stilleben: »Dalles im Mondschein« und Aquarelle in Öl; auf den Holzstühlen — die zu fünf Francs haben Popokissen — sind die Zuhörer angebracht: gepuderte, aber hysterische Damen, in ihren Naslöchern schlummert das Grauen; polnische Knaben, die einer Badewanne gegenübergestellt zu werden verdienen; amerikanische Maler; ein ganz dünner Kunstkritiker, völlig ausgelaugt vom Theoretisieren, als habe er jahrelang in Essig gelegen; und wieder Frauen, die einem die ganze Freude am heterosexuellen Umgang nehmen können … Marinetti ist da.

   Ein Mann Mitte der Vierziger, mit so hoher Stirn, daß sie schon Glatze genannt werden darf, kleinem dunkeln Schnurrbart, schwarzen Augen, die später glühen werden. Er hat starke Augenbrauen: solche Leute sind für gewöhnlich witzig; kennte man ihn nicht, könnte man ihn ganz gut für den Hausdichter eines großen Revue-Theaters halten. Weil er nicht die Spur Ähnlichkeit mit Sternheim hat, traue ich mich nicht, dafür zu halten, daß er sie hat. Die Leute werden ungeduldig, applaudieren, er setzt sich hinter den Tisch auf das Podiumchen und beginnt.

   Aber kaum hat er mit den ersten Worten seine Stimme probiert, so unterbricht ihn wüstes Geschrei. Von einer Ecke des Sälchens stößts vor: »Eja! Eja! Alalaaa —!« Und vier waagerecht vorgestreckte Arme. Junge Faschisten — er dankt liebenswürdig und eilig. Und beginnt nun endgültig.

   Er fängt sofort an, über die pariser Kunstgewerbeausstellung zu sprechen. Und sagt: Diese Ausstellung ist ein großer Fortschritt — hier sieht man zum erstenmal, wie die Prinzipien des Futurismus ihre Wirkung auf die Welt ausüben, hier ists wahrhaft modern, und das will etwas heißen, denn die Ausstellung steht in Frankreich. Frankreich hat stets die plane Gleichmäßigkeit, die Vernunft, »le bon goût« als sein Charakteristikum ausgegeben. Er, Marinetti, sehe aber Frankreich denn doch anders, Rabelais sei, zum Beispiel, auch nicht de bon goût, und so begrüße er den Fortschritt, der in der Ausstellung stecke. Heftige Kritik des italienischen Pavillons; die Futuristen hätten hier nicht zeigen können, was sie eigentlich könnten; dagegen sei der russische Pavillon sehr gut. An den wichtigen Stellen der Rede läuft er rot an, er spricht hastig, kein ganz reines Französisch; um besser zu dozieren, hebt er mitunter beide Zeigefinger, auch wiederholt er — wie ein Zimmerecho — manchmal die Schlußworte der Sätze leise vor sich hin.

   Nun hat dieser Mann zweifellos als erster die Museumsreligion der bildenden Künste über den Haufen geworfen — er hat als erster in der neuen Welt das neue Lebensgefühl geprägt, für dieses Gefühl eine neue Kunst verlangt und lange vor dem Krieg mit Recht gesagt: Eine häßliche Maschine ist schön (nicht die von Peter Behrens — eine häßliche). Das, was uns heute bei einem Abschied bewegt, kann nicht mit den Mitteln der Postkutschenzeit ausgedrückt werden, auch nicht mit denen des Naturalismus (um zu wiederholen wie er: auch nicht mit denen des Naturalismus) — das turbulente Durcheinander von Schmerz, Komödie, Farben der Bahnhofsbuchhandlung, Angst vor dem Abschied, Nummer der Lokomotive, Neugier, Tagtraum, Rauchgeruch … so müßt ihr malen. Und sie haben so gemalt. Ich besinne mich, wie ich den ersten Schwinger in den Magen bekam: Gino Severinis »Pan-Pan-Tanz« hing in Berlin, und mir wurde rot und grün vor den Augen, das Bild drehte sich, ich tanzte. Und das wollte es ja auch. Von da an begann es — hier fing es an. Dieser Großpapa Marinetti hat Kinder gezeugt, einen ganzen Stall voll — aber es sind viele Wasserköpfe dabei. Weil es so bequem ist. Weil die Kontrolle so schwer ist. Weil man so herrlich leicht dabei schwindeln kann. Aber — eja, eja, alala! — seine Leute haben eine Tür nicht nur aufgemacht, sondern glücklicherweise eingestoßen.

   Und nun steht er noch immer da und stößt noch immer dieselbe Tür ein! Welch eine Enttäuschung! Denn was die französische Kunstgewerbeausstellung angeht, so muß schließlich gesagt werden!

   Diese Ausstellung ist — mit einer Ausnahme — belanglos. Die Ausnahme bilden die Russen, mit denen sich die Futuristen überhaupt nicht messen können. Sie nehmen sich daneben wie mattes Kunstgewerbe aus und sind es wahrscheinlich auch mit der Zeit geworden.

   Das, was in der Ausstellung gut ist, ist eine mäßige Kopie Deutschlands. (Nur die schwedische Glasabteilung ist mehr.)

   Durch die Ungeschicklichkeit und den bösen Willen der Stresemann-Regierung ist die deutsche Beteiligung sabotiert worden — sie wäre möglich gewesen. Nun siegen hier mühelos die, die sich an Deutschland auf durchaus legalem Wege befruchtet haben, und mit Ausnahme Schwedens ist diese Befruchtung nicht immer sehr heiter ausgefallen. Sie ernten, was das deutsche Kunstgewerbe gesät hat. Noch die dünnsten Epigonen des deutschen Kunstgewerbes aber stehen turmhoch über diesen kümmerlichen Versuchen, modern zu sein — und modern ist diesen Herren allemal: willkürlich. Frankreich zählt hierbei nicht. Dieses Land hat so große Werte, so unendliche Reize im Leben und in den Künsten, daß es eine sachliche Konstatierung wohl vertragen kann. Und die ist: Seine modernen Innenarchitekten stehen ungefähr auf der Stufe des seligen Jugendstils und haben in ihrer Mehrheit — und besonders in der offiziellen Mehrheit — überhaupt nicht begriffen, worauf es ankommt. Es ist nicht diskutierbar, was da ausgestellt ist. Der äußere Rahmen ist allerdings besser.

   Die fremden Länder protzen meist mit Waren, die etwa für den Geschmack reicher Farmer aus Südamerika bestimmt sind, ausschweifende Bourgeois, so: Was tätest du, wenn du mal reich wärest? Am besten sind noch die traditionellen Arbeiten, die gar nichts von der Moderne wissen wollen — da ist man wenigstens auf sicherm Boden.

   Um nicht mißverstanden zu werden: Die reinen, edeln Formen des deutschen Kunstgewerbes, seine Experimente, seine mühenden Versuche, weiterzukommen, haben mit dem Deutschland, das grinsend und fauchend jede »Überlegenheit deutschen Fleißes und deutscher Tüchtigkeit« feiert, nicht das geringste zu tun. Dieses Kunstgewerbe hat sich gegen den kaiserlichen Ungeschmack, gegen die von der Regierung geförderten Künstler, gegen die kommunale Kunstpolitik vieler deutscher Städte durchgesetzt und ist heute noch den meisten Gutsbesitzern und nationalen Kleinbürgern ein Scheul und ein Greul. Die haben also nicht die leiseste Veranlassung, solche Feststellungen zu mißbrauchen. Außerdem ist eine internationale Ausstellung kein Pferderennen — es kommt gar nicht darauf an, wer »gesiegt« hat, sondern es kommt darauf an, daß durch gemeinsames Zusammenwirken und durch Vergleiche etwas Gedeihliches erreicht wird. Das ist hier aber nicht geschehn.

   Sind Sie so bescheiden geworden, Herr Marinetti? Ach, er ist nicht nur bescheiden geworden. Als er sagt: »Le pavillon des Sowjets est bien!«, es so ästhetisch sagt, so oberlehrerhaft ein Zeugnis ausstellend — da fange ich an, mich zu wundern. Und als er dann nichts weiter zu sagen weiß, als seine drei Freunde Balla, Depero und Prampolini zu empfehlen, da wundere ich mich noch mehr. Aber als er dann so ganz nebenbei und gelassen ausspricht, die Kunst habe mit der Politik nichts zu tun — da wundere ich mich nicht mehr. Fahre wohl.

   Ein Provinziale. Ein Mann, der schäumt und tobt, wenn er vom Rhythmus der Maschine spricht, und der nicht ahnt, daß dies das sicherste Zeichen dafür ist, wie sie ihm nicht im Blut sitzt. Aber die Amerikaner müßten ja die ersten sein, die den Gott Maschine anbeteten — und sie sind entweder kindisch sentimental oder, zu ihrem bessern kleinsten Teil, schwer pessimistisch, durchaus tempoverachtend, gleichgültig gegen diese Wolkenkratzersteigerung und das höllische Treiben um sich mit der stummen Frage abfertigend: »Na — und?«

   Ein Provinziale, der von der Weltstadt träumt, wie ein Aktuar in Klein-Hainichen vom Café Keck, wie Sternheim von Paris. Die Pariser sehen die Sache viel ruhiger an. Die Amerikaner ihre Maschinen auch. Ein Provinziale.

   Kein Wunder, daß die Silbe »ismus« an dem Stamm »futur« hängt — sie hat ihn getötet. Provinziell der laut tönende Optimismus, konsequent sein Imperialismus, provinziell seine Stellung zur Kritik, die er wie der Schüler den Lehrer (den er nicht sieht) schmäht. Es ist nicht wahr, daß Kritik nur von zurückgebliebenen Individuen ausgeübt wird — und wäre sie es: wie muß er sie fürchten! Er warnt noch mit Recht vor dem Atelierpartikularismus der Pariser, empfiehlt seine drei Leute, betont die Gesundheit des Futurismus und tritt ab. Nicht, ohne daß die giovinezza ihn noch einmal herzhaft anschreit.

   Man soll den Leuten nicht zu nah an den Hals rücken. Himmel, welche Enttäuschung! Grüßen Sie den Duce, Marinetti. Ob er lauter solche Leute hätte. Und ob das alles wäre. Und es wäre nicht viel.

   Marinetti, im Kriege verwundet, hat dessen Folgen verschlafen. Marinetti sollte nach Moskau fahren und nach New York. Er beginnt, eine schwache Kopie seiner selbst zu werden. Heiliger Herwarth Walden, bete für ihn, wenn du Zeit hast! Und setze ihm ein Holzmarterl mit zwei gekreuzten Lokomotiven und einer Sardinenbüchse oben drauf:

HIER RUHT MARINETTI.

   ER HAT EIN GROSSES FUTURUM HINTER SICH.


Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 21. Juli 1925, Nr. 29, S. 97.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1925

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