Der neue Zeitungsstil

So, wie es in Berlin eine englisch-jüdische Tischzeit gibt (ohne auskömmliche Mittagspause, aber durcharbeiten bis abends sieben Uhr), so hat sich ein neuer deutscher Zeitungsstil herausgebildet, der die Untugenden der amerikanischen Hearst-Presse und des ‚Neuen Wiener Journals‘ zu einem schönen Ganzen vereinigt.

   Der Ursprung der Nachrichten hat sich kaum verändert. Von mäßig bezahlten Reportern mäßig aufgenommen, mit kleinen Mitteln rasch zusammengeklaubt, nicht einmal so tendenziös gefärbt wie unsorgfältig zusammengehauen, gehen die Telegramme ihren Weg. Früher druckte man sie ab. Heute macht man sie auf. Was, man macht sie auf! Man macht sie überhaupt erst zu Etwas, man schöpft und schafft aus dem Nichts, man erfindet Wahrheiten. Im Anfang war die Überschrift. Das kleinste Lausetelegramm kann durch geschickte ‚Aufmachung‘ zu einer Art Sensation werden. Der Käufer ist abgestumpft: er hat die Lügen der Obersten Heeresleitung und die großen Kanonen- und Menschenmaterial-Zahlen des Weltkrieges hinter sich –: er muß schon etwas geliefert bekommen für sein Geld. Also etwa so: Der englische Kronprinz wirft eine Parfumflasche in einem pariser Geschäft um. Überschrift: „Englisch-französischer Zusammenstoß“. Dem Kaiser von Doorn werden von der deutschen Republik dreihundertachtzig Milliarden angeboten. Er will aber noch mehr und schreibt zurück: Verzichte, Überschrift: „Verzicht des Ex-Kaisers auf sämtliche Abfindungen?“ Der italienische Konsul in Abessinien bringt sich eine Kokotte aus Rom mit. Überschrift: „Nächtlicher Kampf an der Grenze Abessiniens“. Aber was ist das alles gegen das Bild –!

   Das Bild ist die Schule der Weisheit des kleinen Mannes. Und wieviel große Männer bei uns sind nicht kleine Männer! Das Konkret-Anschauliche wird mit Recht immer den Sieg über das Abstrakte davontragen – aber nun sehe man sich an, wer diese Bilder herstellt, wie sie hergestellt sind, und wer sie aussucht! Über politische Tendenz kann man streiten, über ästhetische Begriffe kann man verschiedener Ansicht sein – aber über den vollkommenen Stumpfsinn dieser Bilder gibt es wohl nur eine Meinung. Nämlich die: Wie ungeheuer interessant! „Die Kronprinzessin von Kambodscha nach dem Tennisturnier.“ „Vizepräsident Schindanger legt einen Kranz auf den Gedenkstein des 500. deutschen Rhönsegelflugsportlers nieder.“ „Baby aus Maori, hinten geimpft.“ Man könnte getrost die Unterschriften vertauschen, es merkt ja doch keiner.

   Die Technik schreitet fort. Artikelüberschriften und Bildunterschriften sind das Gebiet eifrigsten Studiums. Kein Zeitungsmann zerbricht sich den Kopf so über die Gewinnung neuer wichtiger Nachrichten wie über die Textierung des alten herkömmlichen Materials. Es hat sich nicht geändert – aber es wird jetzt viel feiner verpackt.

   Die Weltgeschichte fix und fertig für den Gebrauch von Schwachsinnigen. Die Amerikaner sind wenigstens oberflächlich, suchen und bekommen ihre Sensation, und aus ists. Dies aber gibt sich als: ›Französischer Schick und deutsche Gründlichkeit‹. Täglich prasseln tausend Probleme auf den geängstigten und geschmeichelten Abonnenten; genau wird er über das Steuerwesen auf Honolulu, die Guttemplerbestrebungen bei den Eskimos, das Anwachsen der homosexuellen Kreise auf den Straußenfarmen, die ersten Uhren und die letzten Frauenzimmer unterrichtet. Und immer mit der Anmaßung der Gründlichkeit. Es ist die Verbreitung der Ignoranz durch die Technik.

   Diese aufgeregte Stagnation ist ein getreues Abbild der Gesellschaftsordnung, die sie hervorbringt. Eine lärmende Langeweile und ein tiefes Unrecht dazu: eine Verschleierung der Wahrheit und die Ablenkung vom Wesentlichen.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 16.12.1924, Nr. 51, S. 918.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1924

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 3, S. 527 ff.

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