Für Grete Wels
Wartezimmer bei Professor Latschko, dem großen Endokrenologen für externe Internie. Zeisig – der bekannte Herr Zeisig, der Sohn des Kaplans Zeisig – sitzt auf einem Stühlchen und hat gelesen: ›BadeAnzeiger‹ des Kurorts Bad Stargard; Verzeichnis der Heilbäder der Uckermark; Verzeichnis der Fußbäder im Oberen Lötschtal; ›Velhagen und Klasings Monatshefte‹, März 1919. Herr Zeisig will grade lesen: ›Velhagen und Klasings Monatshefte‹, April 1897, da öffnet sich die Tür des Sprechzimmers, und eine volle Dame, die so krank ist, daß sie vor Stolz keinen ansieht, geht, für etwa 45 Mark geheilt, heraus. Die Tür schließt sich. Pause. Eine Schwester erscheint. Sie trägt eine sterilisierte Tracht und gleitet sanft dahin; sie sieht aus wie ein Geheimrat im Finanzministerium auf Rollen. Bitte! sagt sie. Zeisign ist auf einmal sehr gesund ums Herz. Er will da nicht hinein. Er muß. Er tritt also ins Konsultationszimmer des Herrn Professor Latschko. Gediegene Inneneinrichtung. Alles atmet den Geist hoher Wissenschaft und strenger Honorare. Zeisig seinerseits wagt kaum zu atmen. Denn der Professor sitzt an seinem Schreibtisch und schreibt emsig sowie auch würdevoll. Er ist ein älterer, straffer Mann, bartlos, nur seine Seele trägt eine Brille; männliche Energie und etwas Sacharin-Lyrik, erworben im Verkehr mit gut zahlenden Patientinnen, haben sich hier gepaart.
Der Zeisig räuspert sich, sehr vorsichtig.
Der Professor schreibt.
Der Zeisig wartet sich eins.
Der Professor blickt auf: Nun … was führt Sie hierher?
Auf diese Frage war der Zeisig nicht vorbereitet. Er hatte gedacht, die Konsultation würde mit einem kleinen Schwätzchen beginnen. Wo nun anfangen!: Ich … iche … mein Name ist Zeisig.
Der Professor drückt durch seine Stummheit aus: Wir haben schon ganz andre Krankheiten geheilt!
Der Zeisig: Herr Professor … Ich habe … ich bin … das heißt also: es sind mehr so allgemeine Beschwerden. Meine Arbeitskraft ist herabgesetzt; es ist so eine allgemeine Müdigkeit, vielleicht auch die Leber … manchmal habe ich Herzstiche, und dann tun mir die Füße weh. Es muß also wohl die Blase sein. Wir hatten in meiner Familie einen Fall, wo meine Tante Elfriede an chronischer Schwangerschaft …
Der Professor: Was sind Sie?
Der Zeisig: Vasomotoriker.
Der Professor sanft wie ein Irrenarzt, bevor er „Dauerbad!“ sagt: Von Beruf!
Der Zeisig: Nähmaschinen-Grossist.
Der Professor: Nun mal weiter.
Der Zeisig: Also es ist sicherlich die Blase. Wenn ich lache, dann tut es mir weh, und wenn ich morgens aufwache, muß ich immer an Zuckerhüte denken. Es ist wie eine Zwangsvorstellung – immer Zuckerhüte. Auch mit der Verdauung ist das nicht mehr so wie früher … es macht mir nicht mehr solchen Spaß. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich komme auf Empfehlung meines Hausarztes, des Herrn Doktor Bullett.
Der Professor, ein General, hat den Namen dieses Landsknechts der Wissenschaft nicht gehört, er will ihn nicht gehört haben. Merkwürdig, was für Leute den Arztberuf ausüben dürfen … ! So. Wie ist es denn mit den Augen? Sehen Sie gut?
Der Zeisig, der stolz darauf ist, daß er Schiffe am Horizont in Westerland eher sehen kann als alle andern: Gottseidank. Sehr gut.
Der Professor: Das Gehör?
Der Zeisig: Ausgezeichnet.
Der Professor: Waren Sie mal geschlechtskrank?
Der Zeisig: Fast gar nicht.
Der Professor: Rauchen Sie?
Der Zeisig: Ja. Aber nur orthopädischen Tabak.
Der Professor: Alkohol?
Der Zeisig: Nur Wein, Bier und etwas Likör.
Der Professor: Ihre politische Zugehörigkeit?
Der Zeisig: Deutsche Staatspartei.
Der Professor ist beruhigt. Linksleute behandelt er nicht, wegen fein. Sie rauchen also? Welche Sorte? Das ist wichtig.
Der Zeisig: Ich rauche Brasilzigarren und türkische Zigaretten … hauptsächlich.
Der Professor ist froh, daß der Mann überhaupt raucht. Er blickt hier und da auf eine verborgene Aschenschale, in der sich eine Zigarre allein raucht: Jedenfalls rauchen Sie nicht zu viel! Ihr Haarschnitt?
Der Zeisig:? -?
Der Professor: Hinten zu kurz. Diese Mode befördert die Erkältungen. Ihre Rasierseife?
Der Zeisig: Eine Eau-de-Cologne-Seife.
Der Professor, immer noch wie eine Statue, aus Schmalz gehauen: Bitte – kommen Sie mit!
Der Zeisig bereut es entsetzlich, sich diesem Menschen überantwortet zu haben. Er denkt: Ob es weh tut? So – jetzt wird sich ja herausstellen, was es ist; der Professor wird staunen; mal sehen, ob er das überhaupt kann! So einen interessanten Fall hat er sicherlich noch nie gesehen … ob es sehr weh tun wird? Sie gehen ins Behandlungszimmer.
Darin sieht es aus wie in einer Granatendreherei. Blitzende Apparate, glänzendes Nickel, strahlende Messingarme und elektrische Lämpchen: alles offenbart den Geist einer von der größtenteils jüdischen Kundschaft geforderten Polypragmasie. Ein Arzt, was keine Apparate hat, ist ein schlechter Arzt; man muß mit seiner Zeit mitgehen.
Der Professor: Machen Sie sich frei, und legen Sie sich hin!
Das tut der Zeisig; es ist sein Stolz, immer und an jedem Tag vor einen Arzt treten zu können. Er hält sich sauber, schon, weil man ja auf der Straße überfahren werden kann. Er legt sich, sieht an die Decke und ist auf einmal sehr krank.
Der Professor hat der Schwester, die stumm eingetreten ist, gewinkt. Sie geht an das Kopfende des Ruhebettes und macht kein Gesicht. Der Professor holt Atem, bekommt einen merkwürdig starren Ausdruck in den Augen; er hat ein Feldtelefon in der Hand und fragt das Zeisigsche Herz: „Hallo, hier Professor Latschko! Wer dort?“ Das Herz: Puck-puck – puckpuckpuck … pick-pick … ffft … ffft … puckpuckpuck … Ruhig atmen! Nicht stauen! Das Herz telefoniert weiter; der Professor hat abgehängt. Er läßt sich nun mit der Lunge verbinden. Die Lunge: Hach-huach –! hach-huach … Der Professor versetzt dem Zeisig einen leichten Schlag auf das Knie; das Bein hopst artig hoch, wie es das gelernt hat.
Der Zeisig bekommt einen kleinen Schrecken, denn der Professor hat ihm mit einem spitzen und tückischen Messerchen eine Inschrift auf die haarige Brust gekratzt: CARMOL TUT WOHL! Die Haut schreit rot auf und verstummt.
Der Professor mißt den Blutdruck: Viertel sieben. Geht nach.
Der Professor sieht sich die Hände Zeisigs an, läßt nachdenklich dessen Zehen durch seine Finger gleiten, gebietet ihm, sich herumzudrehen und murmelt etwas zur Schwester. Ein Apparat surrt. Zeisig sieht nichts. Sie machen etwas mit ihm; nun ist seine Lebenskraft wesentlich gehobener. Er bekommt langsam Vertrauen zu diesem Professor – der Mann versteht sein Handwerk! Und so gründlich! Gründlich ist, wenns lange dauert. Nun muß er in ein Töpfchen machen.
Der Professor heißt Zeisign sich auf einen Stuhl setzen. Er sieht ihm in die Augen, hält erst ein Auge zu, dann das andre; er leuchtet ihn mit kleinen Scheinwerfern an und schaltet aus; dann muß der Zeisig den Schnabel aufmachen, der Professor hält sich an Zeisigs Zunge fest und sieht mit einem Kehlkopfspiegel nach, ob sein Schlips richtig sitzt: Ziehen Sie sich wieder an! Die Schwester verschwindet; die beiden gehen zurück ins Konsultationszimmer. Der Zeisig ist in der Stimmung eines Schülers, der seinen Aufsatz zurückbekommt.
Der Professor: Sie sind völlig gesund und bedürfen demgemäß einer gründlichen Behandlung. Zu einer Sorge ist durchaus kein Anlaß gegeben – immerhin: Seien Sie vorsichtig, sonst könnte Ihnen eines Tages etwas passieren. Sie gehören zum Typus der vegetativ Stigmatisierten; eine gewisse mitrale Konfiguration läßt auf das Bestehen eines endokrenen Ringes schließen.
Dem Zeisig wird es wirblig. Er lauscht angestrengt und ist bestrebte jedes Wort des großen Medizinmannes in sich hineinzusaugen.
Der Professor: An der Blase haben Sie nichts. Eine ganz leichte Leberschwellung ist allerdings vorhanden …
Der Zeisig: Das sagte mir Doktor Bullett auch …
Dem Professor macht auf einmal die ganze Diagnose keinen Spaß mehr. Auch! Was heißt: auch? Wenn zwei Ärzte derselben Meinung sind, dann ist einer davon überhaupt kein Arzt. Immerhin ist die Reihenfolge die: Der große Latschko – dann etwa vier Lichtjahre nichts – dann seine Assistenten – dann irgendwelche andren Ärzte – dann dieser Doktor … wie war der Name? Boulette? Dann ein Trennungsstrich. Dahinter das Heer der Laien: das Material. Man kann im Notfall eine Theorie fallenlassen; man kann keinen Kollegen fallenlassen. Latschko geht daher zu etwas anderm über: Wir wissen heute, daß die Hypophyse und solche leicht tonischen und vasomotorischen Störungen vom Stoffwechsel ausgehen. Hand in Hand mit der Beeinflussung des Stoffwechsels muß eine Entspannungskur treten; ich sage Ihnen gleich, daß ich von der Psychoanalyse nichts halte, dagegen werde ich Sie mit Hormonen behandeln. Sie haben zu wenig. Manchmal auch zu viel. Auf alle Fälle die falschen. Ich habe Ihnen den Thymus perkutiert – möglich, daß da noch infantile Residuen vorhanden sind; jedenfalls gehören Sie zum thymoplastischen Typ.
Der Zeisig ist gänzlich verdattert. Wüßte er, daß die Thymus-Untersuchung ihre wahre Bestätigung erst bei der Sektion fände, er wäre es noch mehr.
Der Professor: Nun zum Diätzettel. Keine Rheinweine, nur junge Moselweine – keine jungen Pfälzerweine. Keine Zigarren mit Fehlfarben; keine lange Pfeife, nur kurze Pfeife. Und vor allem einen andern Haarschnitt! Und Teerseife! Ist Ihr Sexualleben in Ordnung?
Der Zeisig rekapituliert blitzschnell die diesbezüglichen Vorwürfe Lillys und sagt Ja.
Der Professor: Das habe ich mir gedacht; also müssen wir da etwas tun. Ich habe mit der Methode, die ich bei Ihnen anwenden werde, gute Erfolge erzielt, so neu sie ist; in leichten Fällen hilft auch die Terminologie. Wir haben in meiner Klinik schon sehr schwere Fälle von solchen Herzund Nierenkranken gehabt … wir haben immerhin erreicht, daß wir sie entlassen konnten, damit sie anderswo eingingen. Ich schreibe Ihnen hier zunächst einmal Tropfen auf – die nehmen Sie, vierzehn Tropfen vor dem Mittagessen, zweiundzwanzigeinenhalben nach dem Abendessen und ein kleines Wasserglas voll vor dem Aufstehen. Ich werde Ihnen wöchentlich drei Spritzen machen: eine subkutan, eine intravenös und eine intramuskulär.
Der Zeisig hat Angst und vertagt dieselbe.
Der Professor: Vor allem schonen Sie sich und muten Sie sich nicht zuviel zu. Das Nähmaschinengeschäft ist mit speziellen Aufregungen verknüpft; es treten dann Ermüdungserscheinungen hinzu … dergleichen kann einen Mann wie Sie untauglich machen.
Der Zeisig hat auf das Reizwort ›untauglich‹ einen Assoziations-Kurzschluß. Er sieht den Professor plötzlich in Uniform vor sich, die Konsultation kostet gar nichts, und der Professor sagt mit einem Ausdruck, wie wenn er in einen Pferdeapfel gegriffen hätte: „k. v.“ Die Vision verschwindet.
Der Professor: Der Laie überschätzt naturgemäß diese Symptome, die – verstehen Sie mich recht – eigentlich gar keine Symptome sind. Für mich sind diese Dinge, von denen Sie mir da erzählen, Folgeerscheinungen; es ist wichtig, daß Sie sich das immer vor Augen halten: Folgeerscheinungen. Sie bleiben in Berlin? Ich werde Sie behandeln; schlagen Sie sich den Gedanken aus dem Kopf, mit aller Gewalt gesund zu werden – das ist nicht der Zweck der Medizin. Die Medizin ist eine Wissenschaft, also der Mißbrauch einer zu diesem Zweck erfundenen Terminologie. Laien verspüren leicht Schmerzen: das ist völlig irrelevant. Es handelt sich nicht darum, den Schmerz zu beseitigen – es handelt sich darum, ihn in eine Kategorie zu bringen! Hier ist das Rezept.
Es entsteht eine eigentümliche Pause. Der Zeisig wäre sehr erleichtert, wenn der Professor jetzt sagte: „Na, Schatz, was schenkst du mir denn -?“ Der Professor sagts aber nicht.
Der Zeisig ungeheuer klein und bescheiden: Was … was bin ich Ihnen schuldig, Herr Professor?
Der Professor groß, aber leichthin: Fünfzig Mark.
Der Zeisig hat auf der äußersten Zungenspitze: „Fünfzig Mark? Fünfunddreißig! Valuta 1. Dezember – Wer zahlt mir … !“, bremst aber im letzten Augenblick und zahlt so schnell und schämig, als verrichte er ein kleines Geschäft, während gleich jemand um die Ecke kommt.
Der Professor nimmt, schließt ein und steht auf.
Händedruck, Verbeugung. Zeisig ab.
Der Zeisig draußen: Das mit den Zuckerhüten … das muß ich ihn nächstes Mal noch fragen … ! Ob es Zucker ist? Ich werde doch noch einen Spezialisten konsultieren! – Aber nun wird dem Zeisig plötzlich ganz durchsichtig im Gemüt; er winkt noch einmal schwach mit der Hand, dann löst er sich in Whisky auf, aus dem er gekommen ist, und der Autor dieser Szene trinkt ihn aus.
Lasset uns beten! Heiliger Äskulap! der du die Ärzte eingesetzt hast, auf daß sie eine Beschäftigung haben, sowie die meschuggenen Patienten, auf daß sie Valerian bekommen, so es Kassenpatienten sind, Insulin aber, so sie es bezahlen können; der du die Heilmethoden erfunden hattest, die da wechseln wie die Hutmoden und kleidsam sind bis zum Exitus; der du alljährlich auf die Menschheit einen ganzen Waschkorb junger Doktoren losläßt, die den Herrn Wendriner mit Fremdwörtern und mit dem neuen Medikament Eizeïn behandeln; der du den medizinischen Spießer zum Erzpriester machst, weil der Patient seinen Wundermann braucht!
Heiliger Äskulap! der du die Chirurgen geschaffen hast, auf daß das Überflüssige am Menschen entfernt werde, und die Hals-Spezialisten, auf daß die Chirurgen nicht alles allein operieren; der du die Gynäkologen schufest, die zu Ende führen, was der Ehemann so unvollkommen angefangen; welches Wunder, daß diese Ärzte noch Frauen lieben – aber siehe: grade diese lieben Frauen! Der du Homöopathen und Allopathen schufest, damit der Kranke wenigstens weiß, wovon ihm schlecht wird; sowie auch die Hautärzte, die sich über gar nichts mehr wundern; und die Psychiater, die aus Seelenverwandtschaft mit den Verrückten sogar die Vornamen der Geisteskrankheiten kennen!
Heiliger Äskulap! der du die Doktoren geschaffen hast, deren Wissen zusammenknallt, wenn sie selber einmal Patienten sind; Mediziner, die so lange Fortschritte machen, bis sie wieder bei Hippokrates angelangt sind:
gepriesen werde dein Namen –!
Amen.
Autorenangabe: Kaspar Hauser
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 21.10.1930, Nr. 43, S. 617
Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 575 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 257 ff.