1.4.2011

Die Bibliothekssuche und ihre Wirkungen

Es ist nicht gerade eine Sensation, die das Oberlandesgericht Jena ganz knapp vor dem 1. April verkündete. Bei der Erfassung des historischen Bibliotheksbestandes stießen die Mitarbeiter auf eine Dissertation, die weniger wegen ihres wissenschaftlichen Wertes interessant ist. Die Vormerkung aus § 1179 BGB und ihre Wirkungen hatte Kurt Tucholsky zum Verfasser, und ihre Entstehungsgeschichte war nicht gerade ein Ruhmesblatt für den Mann mit den 5 PS und dem fehlenden Studienelan. Nun ist in Jena also ein weiteres Exemplar dieser Arbeit aufgetaucht.

Das Gericht freut sich über den »tollen Fund«. Von den Pflichtexemplaren, die Tucholsky damals drucken ließ, sind nur noch wenige erhalten:

Die in den Beständen der Historischen OLG-Bibliothek gefundene Dissertation des berühmten Publizisten und Schriftstellers ist eine echte Rarität. Sie ist in keiner anderen Thüringer Bibliothek nachgewiesen; auch nicht im Buchbestand der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im Bereich des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (GBV), in dem neben den Bibliotheken Thüringens die Bibliotheken des Saarlandes, Niedersachsens, Berlins, Bremens, Hamburgs, Schleswig-Holsteins, Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburgs und Sachsen-Anhalts ihre Bestände erfassen, liegt die Dissertation nur in den Universitätsbibliotheken Göttingen, Hamburg und Osnabrück sowie in der Staatsbibliothek Berlin vor.

Hinzu kommen noch zwei Exemplare im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, so das es zusammen nun sieben davon geben dürfte. Aber ganz gleich wie viele davon noch auftauchen: Lesbarer wird der Text dadurch nicht.

8.3.2011

Tucholsky spricht

Was mag Fritz J. Raddatz wohl dazu bewogen haben, nach der erschöpfenden Aufarbeitung des Themas »Tucholsky und die Frauen« durch Klaus Bellin noch eine eigene Betrachtung dazu vorzulegen? Hat Bellin vielleicht zu ausgewogen berichtet? Die Bedeutung von Mary Gerold für Tucholskys Leben nicht gebührend gewürdigt? Falsche Behauptungen aufgestellt? Gar nichts von alldem. Dennoch sah Raddatz sich bemüßigt, die »bewegende Geschichte« zwischen Tucholsky und seiner zweiten Ehefrau Mary Gerold noch einmal zu beleuchten. Dass sein kleines Büchlein Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme überhaupt die Lektüre lohnt, liegt daran, dass eine bislang kaum in Erscheinung getretene Autorin darin ausführlich zu Wort kommt: Mary Gerold.

Es ist nicht so, dass Marys Tagebücher und Briefe noch nicht für die Forschung ausgewertet wurden. Michael Hepp zitiert in seiner Tucholsky-Biographie daraus, auch Bellin wertet sie ausführlich aus. Raddatz, Herr des Geroldschen Privatnachlasses, macht es hingegen ganz einfach: Auf gut 50 Seiten druckt er Marys Tagebuchnotizen vom 11. November 1917 bis zum 24. April 1918 in langen Auszügen ab. Vom Sonntag der ersten Begegnung mit Tucholsky in Alt-Autz bis zum Mittwoch ihrer ersten längeren Trennung, als der angehende Feldpolizist nach Rumänien abkommandiert wurde.

Es ist anzunehmen, dass Mary Gerold der ausführlichen Wiedergabe dieser Tagebücher nie zugestimmt hätte. Sie war immer darauf bedacht, ganz hinter Tucholsky zurückzutreten. Was Raddatz dazu bewogen hat, nach der Veröffentlichung seiner eigenen Tagebücher nun auch die seiner langjährigen Vertrauten zu publizieren, lässt er im Unklaren. Zu ihren Lebzeiten kostete es ihn noch viel Überzeugungsarbeit, die Freigabe für Tucholskys an sie gerichtete Briefe zu erhalten. Nun kann Raddatz selbst als Vorsitzender der Tucholsky-Stiftung über ihren Nachlass verfügen. Und entschied sich mehr als 20 Jahre nach Mary Gerolds Tod für die Publikation.

Trotz aller Bedenken sind die Aufzeichnungen zweifellos interessant. Mary gibt fast stenografisch die Dialoge wieder, in denen die beiden Verliebten um ihre Beziehung rangen. Tucholsky, bislang nur durch seine Texte und Briefe zu erfahren, tritt nun als Sprecher auf. »Wir werden bei der Lektüre der Tagebuchaufzeichnungen zu einer Art Theaterpublikum«, bemerkt Raddatz. In der Tat: Wir hören den werbenden Tucholsky, der unermüdlich auf die nicht minder entflammte Mary einredet, die sich jedoch aus ihr selbst kaum verständlichen Gründen abweisend gibt. Der bereits 28 Jahre alte, sich welterfahren und abgeklärt gebende Tucholsky lässt hingegen nicht nach, wendet sämtliche Eroberungskünste an, um doch noch bei der gerade 19 Jahre alt gewordenen Baltin zu landen. Das gelingt ihm schließlich. Doch der Romanze auf dem »östlichen Kriegsschauplatz« ist kein Happy End bestimmt. Mary glaubt nach einigen Monaten noch immer, dass Tucholskys Karriere ohne sie besser vorankommt. Und lässt ihn scheinbar leichten Herzens, aber am Ende dennoch tieftraurig ziehen.

Bewegend, wie sie die letzten Tage ihrer gemeinsamen Zeit in Alt-Autz schildert (Tucholsky spricht Mary auch mit Er an):

Freitag, 19. April 1918

Es ist 11 Uhr vormittags. Da kommt er plötzlich herein. Steht da, sagt kein Wort …

»Ich möchte dich bitten, dich Sonnabend und Sonntag mir ganz zu widmen.« –

»Warum?« –

»Du weißt schon!«

Ich sah ihn an – und wußte es …

»Ich war eben bei Hartmann, auf 4, nein 5 Tage habe ich es aufgeschoben …«

Er ging. Ich zitterte. Doch ich beherrschte mich, biß die Zähne zusammen, schluckte die Tränen herunter. Keiner soll wissen, wie es in mir ausschaut – keiner. Mögen sie mich für kalt, herzlos halten, alles, alles, was sie wollen, was geht mich das an? Es ist leichter, sich in Schmerzensausbrüchen zu ergehen – als es zu verbeißen. Ich will nicht bemitleidet werden, ich will nicht, daß man mich zu trösten versucht, mich behandelt wie eine Kranke – nur das nicht! Ich werde lachen, wenn mein Ich auch zu einer Grimasse verzerrt wird. Keiner soll es wissen. – Keiner.

Ich danke dir, was du mir gabst, was du aus mir gemacht. Es soll nicht sein. – Gut. –

Zeit, lindere meinen Schmerz, gib mir Kraft und meine Ruhe wieder! Er holte mich mittags zum Spaziergang ab.

»Was hat Er nur? Er ist so still, so dumm?«

»Gar nichts! – Was soll ich haben?«

»Er ist so fremd, sechs Meter weit.«

Es fing an zu regnen, wir flüchteten in eine Scheune. Nach einer Weile klärte es sich wieder auf, wir gingen weiter, trafen M. zu Pferde, sprachen ein paar Worte mit ihm. »Jetzt ist der Matz wieder da!« – Und wir gingen und er erging sich in Nachahmungen meiner Gutturallaute. Plötzlich: »Jetzt gehe ich zum Kardinalpunkt über: wird Er mir schreiben?« – »Nein!« – »Was?« – er blieb stehen, »willst du mir das nicht näher erklären?« – »Wozu?« – »Das wußte ich, daß das kommen würde – wozu? – weil mir das ein Herzensbedürfnis ist – darf ich Ihm auch nicht schreiben?«

Ich schüttelte den Kopf. Wir waren beide aufgeregt.

»Warum nicht? Also Dienstag darf ich dir noch die Hand streicheln, darf dich küssen – und Donnerstag kennen wir uns nicht mehr? – Ja was war denn das zwischen uns? Eine nette kleine Abwechslung? Ich kann auch so, doch du bist mir zu wertvoll dazu. Ein Spiel, das man morgen vergessen hat?«

Ich gehe – ich will später wiederkommen. Unschlüssig, ob den Weg zur Kirche oder den nach Hause zu nehmen, gehe ich schließlich nach Hause. Ich gehe langsam. Da höre ich plötzlich wieder seine Stimme. Er kommt mir nach. »Guten Abend, wohin gehst du?«

»Nach Hause.«

»Und wolltest nicht mehr zurückkommen?«

»Ja, ich wollte zurückkommen!«

Ich ging ins Heim, er wartete, und dann machten wir eine Runde und gingen zu ihm. Er sah mich an. Ich sah zur untergehenden Sonne. »Nun, hast du es dir überlegt?« Ich antwortete nichts. »Meinst du, ich kann dich noch 64-mal fragen? – dadurch, daß du ablehnst zu schreiben, ziehst du die ganze Sache in den Dreck und überläßt es mir, meine Schlüsse zu ziehen, die ich mir ziehen muß. – Irgendjemand kannst du schreiben, mir nicht!«

»Ja … irgendjemand, ja.«

»Ja, findest du es nicht der Mühe wert zu schreiben?«

»Nein, das nicht …«

»Ja, also was soll es dann?« Wir waren angekommen. Ich ging durch die Hoftür hinein. Er sprach noch mit Lunk. Ich stand da, zog meine Jacke nicht aus. Er kam herein.

»Wirst du nicht so freundlich sein und ablegen?«

Ich zog meine Jacke aus – sah ihn nicht an und ging zum Ofen. Da packte er mich … »Warum quälst du uns beide, es ist schon schwer genug. Meinst du, daß ich dich aufwühlen würde mit meinen Briefen, ich werde das gar nicht schreiben, denn es würde mich auch zu sehr aufwühlen.« Erlösende Tränen rannen mir über die Wangen.

»Mätzchen, du wirst es noch sehr schwer haben durch deine übergroße Zurückhaltung.« Ich schluckte mit Mühe meine Tränen herunter. »Du frißt alles in dich hinein, damit der andere nur ja nichts davon merkt – davor braucht man sich doch nicht zu schämen – ich bin sicher, daß du mir nur den 20. Teil deiner Empfindungen gezeigt hast. – Mätzchen, wirst du schreiben?« Ich küßte ihn.

Wir saßen auf dem Sofa, die Tränen rannen mir über die Wangen. »Mätzchen, Liebe kann aufhören, aber Freundschaft nicht, so wie sie bei uns ist – es gibt Frauen, die vergißt man total – und solche, bei denen man noch nach Jahren ein dumpfes Gefühl hat. Mätzchen, wenn ich dich nach Jahren wiedersehe, wie du dich auch verändert haben solltest, ich werde dich doch wiedererkennen, und wenn ich ein 90-jähriger Greis bin, so werde ich doch immer wissen, wie lieb ich dich gehabt. – Du Affe … Du wirst noch Männer nach mir lieben, und sie werden dich lieben, es ist möglich, daß sie dich verstehen werden – aber Mätzchen, einmal haben ein Mann und eine Frau lückenlos zueinandergepaßt – und das kommt so selten, so überaus selten vor. Mätzchen, wenn du mir schon nicht treu bleiben wirst, bleib dir treu …« Ich hatte ihn rasend lieb. »Du hast einen Mann für eine Zeit für Frauen unbrauchbar gemacht – Herrgott, eine Brust, das hat eine jede – aber es singt nicht.« Wir saßen still nebeneinander – es war eine beseligende Stille.

Die ausführlichen Zitate sollen Raddatz‘ Grundthese belegen, dass »die Begegnung mit Mary, die Beziehung zu ihr, für Kurt Tucholsky von so ganz und gar einmaliger, existentieller Bedeutung war«. Dass diese Liebe dennoch scheiterte, habe daran gelegen, dass Tucholsky als Partnerin einen Mann wollte, der nachts eine Frau ist: tagsüber ein wohlmeinender Ratgeber und Kamerad, nachts die heißblütige Geliebte. Mary Gerold sei für ihn leider nicht die nächtliche Geliebte, sondern nur die Kampfgefährtin gewesen. »Einzig mit ihr«, behauptet Raddatz, »hat er über seine Arbeit gesprochen, sie ganz einbezogen in seine Textproduktion.« Das trifft nun sicher nicht zu. Marys »Nachfolgerin«, die Berliner Journalistin Lisa Matthias, berichtet ausführlich in ihren Lebenserinnerungen Ich war Tucholskys Lottchen über Gespräche, die sich um Gedichte, Artikel und Bücher aus seiner Produktion drehten. Immerhin adelt Raddatz diese Beziehung, die er vorher stets ausblendete, in seinem neuen Buch als »ernsthafte Liaison«. Die vielleicht größte Sensation des Buches. Auch hat er Briefe von Lisa Matthias ausgewertet, die bislang nach seinen Angaben noch nicht veröffentlicht wurden. In denen wird Matthias recht deutlich:

[…] er wundert sich nun und brüllt und schimpft, dass ich nicht heiterste Miene zu all dem mache und dass ich kaltschnäuzig ziemlich eindeutige Gemeinheiten sage und dass ich keine Lust zum vögeln habe. Die Sache ist doch die. Ich bin nicht ausgehungert genug um nur des Vögelns wegen Freude an dem Betrieb zu haben

Noch im Jahr 1931 habe sie an Tucholskys Freund Karlchen geschrieben:

Ich will nicht seinen Zusammenbruch – ich sehe ihn […] Er ist und bleibt verhurt.

Dann ist das Buch im Grunde auch schon zu Ende. Im Mittelteil gibt es noch eine längere Abhandlung über Tucholskys Streit mit Karl Kraus. Raddatz verweist zuvor darauf, dass Mary Gerold zu diesem Streit eine eigene Mappe angelegt habe. Was dies mit der Beziehung zwischen Mary und Tucholsky zu tun hat, erschließt sich jedoch nicht.

Auch an anderen Stellen merkt man, dass man es mit einem echten Raddatz zu tun hat. So stirbt Siegfried Jacobsohn bei ihm am 9. Dezember 1926, anstatt am 3. Dezember. Ebenso verweigert Schweden Tucholsky die Einbürgerung (die er nie beantragt hat). Dann, als Höhepunkt, nimmt Tucholsky bei Raddatz seine tödliche Überdosis Schlafmittel am 19. Dezember 1935 und stirbt zwei Tage später im Krankenhaus. Eine falsche Behauptung, die schon 1986 als solche entlarvt wurde (Tucholsky nahm die Überdosis in der Nacht zum 21. und starb am selben Tag). Dass Raddatz auf dem Buchumschlag als »bester Kenner« Tucholskys ausgewiesen wird, darf ohnehin nur deshalb ungestraft behauptet werden, weil Michael Hepp und Antje Bonitz leider schon gestorben sind. Aber diese hatten sicher auch keinen von Tucholsky an Mary geschenkten Marmoraschbecher auf ihrem Schreibtisch stehen.


Fritz J. Raddatz: Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme, Herder-Verlag, Freiburg 2010, 144 S. 12,95 Euro

24.2.2011

Plagiate und Doktortitel

Für Tucholsky hatte das Thema Plagiate eine besondere Bedeutung. War doch die Gründung der Schaubühne, wie sein Leib- und Magenblatt Die Weltbühne bis 1918 hieß, das Resultat einer Plagiatsaffäre gewesen. Sein späterer Mentor Siegfried Jacobsohn hatte als junger Theaterkritiker in der Welt am Montag mehrere Texte veröffentlicht, die Passagen aus früheren Artikeln des Kritikers Alfred Gold enthielten. Am 12. November 1904 hatte das Berliner Tageblatt unter der Überschrift »Ein psychologisches Rätsel« auf die Parallelen aufmerksam gemacht. Jacobsohn selbst versuchte die Übereinstimmungen damit zu erklären, dass sich die »Worte, Bilder, Sätze und ganze Satzfolgen« fremder Autoren eingeprägt hätten, als er für sein Buch Das Theater der Reichshauptstadt recherchiert habe. Das habe ihm dann häufig unmöglich gemacht, »einen eigenen Ausdruck für meinen Eindruck« zu finden. Sein gutes Gedächtnis habe ihm somit einen Streich gespielt, auch in Folge von Überarbeitung.

Doch die Erklärungsversuche verfingen nicht. Die Welt am Montag konnte ihren damals 23 Jahre alten Kritiker nicht mehr halten. Jacobsohn verließ Mitte Dezember 1904 Berlin und kehrte fünf Monate später mit der festen Überzeugung zurück, eine eigene Theaterzeitschrift zu gründen.

Könnte das nicht ein Vorbild in ähnlichen Fällen sein? Einen Schnitt machen und neu anfangen? Tucholsky hat auf jeden Fall davon profitiert und fand in Jacobsohn von 1913 an genau den Redakteur, den er für sein Talent brauchte.

Und wie kam Tucholsky zu seinem Doktortitel? Dazu ist hier einiges nachzulesen. Für ihn war dieser Titel extrem wichtig, da er nicht einmal das erste juristische Staatsexamen ablegen wollte. Ohne die Promotion, unter großen Mühen geboren, hätte er überhaupt keinen Studienabschluss vorweisen können. Zwar hat er nur ein schwaches cum laude für seine Doktorarbeit bekommen, aber wenigstens durfte er seinen Titel bis zum Lebensende behalten.

PS.: Auch im aktuellen Plagiatsfall zieht der Ertappte Konsequenzen. Es bleibt zu hoffen, dass die Abkürzung KT nun wieder ausschließlich einem wirklichen Dr. iur. zukommt. Und mit KTG sollte in Zukunft wieder ausschließlich die Kurt Tucholsky-Gesellschaft gemeint sein.

PPS.: Das Urheberrecht für folgendes Zitat liegt übrigens bei Tucholsky:

Das einzige an der Doktorarbeit, was von mir ist, ist die ehrenwörtliche Versicherung, daß sie von mir ist.

Das notierte er einst in seinem Sudelbuch.

2.2.2011

Massives Gedenken

Tucholsky hat im Laufe seines Lebens an vielen unterschiedlichen Orten gelebt. Mal kürzer, mal länger. Eine sehr langlebige Erinnerung an sein Wirken und seine Aufenthalte sind hingegen die Gedenktafeln, die in mehreren Ländern Europas zu Ehren Tucholskys hängen. Allein in Berlin gibt es vier davon.

Ende vergangenen Jahres ist eine weitere hinzugekommen. Am 21. Dezember, Tucholskys 75. Todestag, stellte die Deutsche Botschaft in Stockholm an dessen Grab in Mariefred eine Tafel auf. Einen kleinen Überblick über die unterschiedlichen Gedenktafeln gibt die folgende Diashow. Nur Paris sollte sich beeilen, auch mal in diese Sammlung zu kommen.

22.12.2010

Würdigungen zum 75. Todestag

Am 21. Dezember jährte sich Tucholskys Todestag zum 75. Mal. Ein Anlass für die Medien, den Mann, der die »die Fackel ätzender Satire in die unheilschwangeren Bezirke der Weimarer Republik« schleuderte (Passauer Neue Presse), ausgiebig zu würdigen. Nach Tucholskys 75. Geburtstag (1965) bemerkte der Journalist Erich Kuby:

ARGUS, das Ausschnittbüro, vermochte aus Anlaß dieses 75. Geburtstages ein paar hundert Artikel über ihn zu sammeln.

Vom Hamburger Abendblatt bis zum Neuen Deutschland wird Tucholsky gefeiert, jenes ein Hausblatt Springers, dieses ein Hofblatt Ulbrichts.

Seitdem hat sich viel verändert. Das Hamburger Abendblatt ist nicht mehr das Hausblatt Springers, das Neue Deutschland hat ein anderes Layout, der Ausschnittdienst ARGUS heißt Infopaq. Dessen Aufgabe kann das Sudelblog nicht ganz übernehmen. Aber ein paar Würdigungen können wir hier schon sammeln.


Deutschlandfunk

Der Deutschlandfunk sendet am ersten Weihnachtsfeiertag eine lange Tucholsky-Nacht. Ab 23.05 Uhr.


goethe.de

Wie war das nochmal mit der Selbstreferentialität? (For our english speaking readers)


dapd

Wie bekannt und selbstreferentiell ist Tucholsky eigentlich noch in Schweden?


Frankfurter Rundschau

Die FR druckt Tucholskys Eigen-Nachruf »Letzte Fahrt« ab. In der Online-Ausgabe sind die Begriffe »Überdosis Tabletten«, »Trauerhaus«, »Matrone« und »Nutten« mit einer Kontextsuche hinterlegt. Hat diese Auswahl mehr mit der FR oder Tucholsky zu tun?


dpa

Für die dpa versammelt Wilfried Mommert die gängigen Klischees zu Tucholsky. Ein zeitloser Text, wie man ihn in fünf oder zehn Jahren wieder veröffentlichen könnte. Beim nächsten Mal aber bitte folgende Passagen ändern:

Vor 75 Jahren, am 21. Dezember 1935, starb Tucholsky, geplagt von Krankheiten, vereinsamt im schwedischen Exil an einer Überdosis Tabletten.

Wie dichtete Tucholsky bereits im Oktober 1930:

Dein tiefstes Lebensgefühl –
wann hast du das gehabt?
Mit einem Freund?
Immer allein.

Nun soll er in Schweden auf einmal »vereinsamt« gewesen sein?

Und weiter:

Schweden lehnte seinen Antrag auf Einbürgerung ab.

Tucholsky hat nie einen Antrag auf Einbürgerung gestellt. Dazu hätte er sieben Jahre in Schweden seinen Wohnsitz haben müssen, was erst 1936 der Fall war.


Die Jüdische

Karl Pfeifer hat noch einmal die Geschichte hervorgeholt, warum er wegen Tucholsky 13 Jahre lang prozessieren musste.


Tagesanzeiger (Zürich)

Auch Alexandra Kedves hat sich anlässlich des Todestages das neue Buch von Raddatz angeschaut. Zwangsläufig geht es in ihrem Artikel vor allem um Tucholsky und Mary Gerold. Eigentlich schade, denn Tucholsky hatte seine letzte ernsthafte Beziehung mit einer Zürcherin, der Ärztin Hedwig Müller. Darüber hätte eine Zürcher Zeitung sicher das eine oder andere Wort verlieren können.


Mitteldeutsche Zeitung

Mit dem neuen Tucholsky-Büchlein von Fritz J. Raddatz beschäftigt sich Christian Eger. Er wundert sich aus mehreren Gründen, dass dieses Buch nun erschienen ist:

Bereits im Frühjahr war ein sehr gut geschriebenes Buch von Klaus Bellin über Mary und Kurt Tucholsky erschienen (Es war wie Glas zwischen uns); der Herder-Verlag ist ein protestantisches Haus, in das man Tucholsky nicht sofort einweisen würde; schließlich der irreführende biografische Titel. Es verblüfft, dass das eigentlich Sensationelle dieses Buches nicht hervorgehoben wird: Über 50 Seiten wird aus Marys Tagebüchern zitiert, die bis heute noch nicht veröffentlicht sind; die Autorin starb 1987.

In der Tat erstaunt, warum Raddatz im erzkatholischen Herder-Verlag veröffentlicht und nicht bei Rowohlt. Ob Raddatz nun trotz oder wegen Bellin seine eigene Version der Geschichte zwischen Tucholsky und Mary Gerold aufschreiben wollte, kann er wohl nur selbst wissen. Es war für Raddatz schon immer wichtig, die anderen Frauen, die Tucholsky auch hatte, möglichst aus dessen Biografie zu verdrängen (vor allem Lisa Matthias). Diese Frauen fanden bei Bellin zumindest ausreichend Platz. Nun kontert Raddatz offenbar mit dem Material, das er von Mary Gerold für die Tucholsky-Stiftung »geerbt« hat. Dass er damit macht, was er will, hat er seit ihrem Tod aber schon häufig genug bewiesen.


Thüringische Allgemeine

Matthias Biskupek, früherer Autor der DDR-Weltbühne, nimmt Tucholsky vor dem Vorwurf in Schutz, zu früh resigniert, zu früh mit dem Schreiben aufgehört zu haben:

Darf ein solcher manischer Schreiber sich nicht mit vierzig Jahren ausgeschrieben haben? Hatte er nicht alles versucht, was man in der Publizistik nur machen kann, vom knackigen Reim bis zum berlinernden Monolog, vom Schnipsel bis zum fingierten Schulaufsatz, von der Buchbesprechung bis zur Zeitgeist-Analyse? Hatte er nicht auch immer wieder Formen probiert und kreiert, die bis heute von beginnenden wie auch ausgelernten Journalisten durchaus studiert werden mit heißem Bemühn?


WDR 5

Der WDR 5 hat eine zweistündige Sendung zusammengestellt und würdigt

den großen deutschen Satiriker, Bühnenautor, Chansontexter, Erzähler, Literatur-, Filmkritiker und politischen Journalisten. Aus dem umfangreichen Werk Tucholskys wird Fröhliches, Nachdenkliches, Heiteres und Bedenkliches zu Gehör gebracht.

In literarischen Zeugnissen werden zudem Zeitgenossen zu Wort kommen, sowie seine Ehefrauen und Freunde.

Leider gibt es die Sendung nicht als Podcast.


Passauer Neue Presse

Für die PNP würdigt Franz Baumer den Autor, der in »viele Gewänder« schlüpfte. Auch ansonsten greift Baumer gern in die Metaphernkiste:

Sein »Gedankenklavier« ist eher eine Riesenorgel, an der der Organist selbst philosophisch-religiöse Themen mit anklingen lässt.

Ergänzt wird der Beitrag durch die gekürzte Fassung eines dapd-Hintergrundbeitrags über Tucholskys Tod.


Junge Welt

Der Historiker Kurt Pätzold veröffentlicht auszugsweise einen Tucholsky-Aufsatz, der anlässlich des 75. Todestages in der Edition Bodoni erschienen ist. (Mit Lateinisch überzeugt man keine Indianer. Nachdenken mit Kurt Tucholsky an seinem 75. Todes­tag). Von den Fehlern gleich am Anfang sollte man sich nicht abschrecken lassen: Anders als dort behauptet hat Tucholsky seine Villa in Hindas nicht gekauft, sondern nur gemietet. Und Mariefred liegt nicht südöstlich von Stockholm (auf einer Schäreninsel?), sondern gerade westwärts. Der Rest ist bestimmt besser recherchiert.


Kleine Zeitung etc.

Verschiedene österreichische Medien haben eine Würdigung Tucholskys von der Nachrichtenagentur APA übernommen.

21.12.2010

Wo kommen denn die Bücher von Tucholsky her?

Wer mag das nun eigentlich erfunden haben: sich jeweils zu erinnern, daß der oder jener große Mann hundert, hundertfünfzig, zweihundert Jahre grade tot oder geboren ist? Auf die Jahre, ja selbst auf Geburt oder Tod kommt es ja nicht mehr an. […] Aber die Kabbalistik unsrer Gedenktage nach dem Dezimalsystem, ganz gleich, in welche Zeit oder Zeitbewegung sie fallen, ist ein echtes Zeichen bürgerlicher Ausgeliefertheit an die Mechanik.

Das schrieb der Philosoph Ernst Bloch in der Weltbühne aus Anlass des 200. Geburtstages von Immanuel Kant. Rein mechanisch müsste demnach heute auch an den 75. Todestag Kurt Tucholskys erinnert werden. Ganz unabhängig davon, ob sein Leben und Werk uns heute noch etwas angehen.

Um Tucholskys heutige Relevanz einschätzen zu können, hilft mehr als der Blick auf die mechanischen Würdigungen eine Analyse des Buchmarktes. Dort zeigt sich eher, ob Tucholsky noch ein gefragter Autor ist und welche Aspekte seines Werkes noch »ziehen«. Das Ergebnis dieser Analyse ist ernüchternd.

Seit dem Wegfall des Urheberrechts vor fünf Jahren sind über 60 Tucholsky-Ausgaben auf dem deutschen Buchmarkt erschienen. Doch nach den Titeln zu urteilen, hatte der Mann mit den fünf PS ein recht enges Spektrum. Tucholsky, ein politischer Journalist? Ein Pazifist? Ein Kapitalismuskritiker? Fehlanzeige. Ignaz Wrobel hat es nie gegeben. Nur die leichten und beschwingten Feuilletons eines Peter Panter, die humorigen Gedichtes Theobald Tigers und die melancholischen Betrachtungen Kaspar Hausers scheint man dem heutigen Leser noch zumuten zu können. Und natürlich Schloß Gripsholm und Rheinsberg in allen Variationen. Das verschenkt jeder mal gern. Was vermutlich auch für Mit Tucholsky die Frauen verstehen gilt. Wie wäre es statt dessen mal mit Titeln wie Mit Tucholsky die SPD verstehen oder Frieden schaffen mit Tucholsky? Liebe Verleger: Bis zum 125. Geburtstag in knapp vier Jahren gibt es noch einiges zu tun.

(Zum Sortieren bitte Tabellentitel anklicken)

Titel Verlag Ort Jahr
Gedichte Fischer Frankfurt/Main 2010
Weihnachten mit Kurt Tucholsky Fischer-Taschenbuch-Verl. Frankfurt/Main 2010
Rheinsberg Anaconda Köln 2010
Unterwegs mit Kurt Tucholsky Fischer-Taschenbuch-Verl. Frankfurt/Main 2010
Lebenslust mit Kurt Tucholsky Insel-Verl. Berlin 2010
Das große Lesebuch Fischer-Taschenbuch-Verl. Frankfurt/Main 2010
Schloss Gripsholm Buchner Bamberg 2009
Schloß Gripsholm Greifenverl. Rudolstadt 2009
Träumereien an preußischen Kaminen WFB-Verl.-Gruppe Bad Schwartau 2009
Rheinsberg 2008 Accurat-Verl. Heinicke Berlin 2008
Rheinsberg Accurat-Verl. Heinicke Berlin 2008
Lerne Lachen ohne zu weinen Olms Hildesheim 2008
Kurt Tucholsky Volkshochschule Esslingen 2008
Schloss Gripsholm rh-Verl. Benshausen 2008
Schloss Gripsholm Anaconda Köln 2008
Schloß Gripsholm Fischer-Taschenbuch-Verl. Frankfurt/Main 2008
Rheinsberg Diogenes Zürich 2008
Liebesgedichte Insel-Verl. Frankfurt/Main 2008
Tucholsky in Berlin Berlin-Story-Verl. Berlin 2007
Rheinsberg Hamburger-Lesehefte-Verl. Husum/Nordsee 2007
Schloß Gripsholm Süddt. Zeitung GmbH München 2007
Panter, Tiger & Co. Anaconda Köln 2007
Ein Pyrenäenbuch Insel-Verl. Frankfurt/Main 2007
Rheinsberg Reclam Stuttgart 2007
Die schönsten Gedichte Area Erftstadt 2007
Schloß Gripsholm Rowohlt-Taschenbuch-Verl. Reinbek bei Hamburg 2007
Deutsche, kauft deutsche Zitronen Neues Leben Berlin 2007
Das Ganze halt! Fischer-Taschenbuch-Verl. FrankfurtM. 2007
Das Tucholsky Lesebuch Diogenes Zürich 2007
Augen in der Großstadt Büchergilde Gutenberg Frankfurt/Main 2006
Ausgewählte Werke Parragon Books Bath 2006
Gruß nach vorn Anaconda Köln 2006
Wenn die Igel in der Abendstunde Rowohlt-Taschenbuch-Verl. Reinbek bei Hamburg 2006
Augen in der Großstadt Ed. Büchergilde Frankfurt/Main 2006
Rheinsberg Faber und Faber Leipzig 2006
Ein Pyrenäenbuch Rowohlt-Taschenbuch-Verl. Reinbek bei Hamburg 2006
Schloß Gripsholm S. Fischer Frankfurt/Main 2006
Weihnachten mit Tucholsky Aufbau-Verl. Berlin 2006
Mit Tucholsky die Frauen verstehen Herder Freiburg im Breisgau 2006
Schloß Gripsholm Anaconda Köln 2006
Rheinsberg Husum Husum 2006
Gedichte Insel-Verl. Frankfurt/Main 2006
Rheinsberg Dt. Taschenbuch-Verl. München 2006
Schloss Gripsholm Dt. Taschenbuch-Verl. München 2006
Rheinsberg Diogenes Zürich 2006
Sehnsucht nach der Sehnsucht Diogenes Zürich 2006
Schloß Gripsholm Manesse-Verl. Zürich 2006
Wo kommen die Löcher im Käse her? Rowohlt-Taschenbuch-Verl. Reinbek bei Hamburg 2006
Hundert Gedichte Aufbau-Verl. Berlin 2006
Rheinsberg Marix-Verl. Wiesbaden 2006
Deutschland, Deutschland über alles Biblioviel Bochum 2006
Rheinsberg Insel-Verl. Frankfurt/Main 2006
Gedichte Insel-Verl. Frankfurt/Main 2006
Gedichte, Lieder, Couplets Reclam Stuttgart 2006
Rheinsberg Reclam Stuttgart 2006
Sag mal, verehrtes Publikum: bist du wirklich so dumm? Reclam Stuttgart 2006
Schloss Gripsholm Reclam Stuttgart 2006
Die schönsten Gedichte Diogenes Zürich 2006
Schloß Gripsholm Diogenes Zürich 2006
Rheinsberg Goldmann München 2006
Rheinsberg Dt. Taschenbuch-Verl München 2006
Dürfen darf man alles Dt. Taschenbuch-Verl. München 2006
Von Rheinsberg bis Gripsholm Aufbau-Taschenbuch-Verl. Berlin 2006

Nicht viel anders sieht es bei den Vertonungen aus, die seitdem auf den Markt gekommen sind. Auch dabei dominieren die leichten Texte. Rheinsberg bietet sich besonders für eine Lesung an.

Titel Verlag Ort Jahr
Klassiker des deutschen Humors ZYX Music Merenberg 2010
Frauen sind eitel: Männer? – Nie!! Bell-Musik Aichtal 2010
Die Satire darf alles Bell-Musik Aichtal 2010
Lerne lachen ohne zu weinen Bell-Musik Aichtal 2010
So klingt der Urlaub Jumbo, Neue Medien und Verl. Hamburg 2010
Ich vertreibe mir so mein Leben Eichborn Frankfurt/Main 2010
Merkt ihr nischt? Audiotrain-Verl. Berlin 2009
Anna Thalbach liest Kurt Tucholsky, Rheinsberg Argon-Verl. Berlin 2009
Mit Tucholsky auf Reisen Herbig München 2009
Das Leben ist gar nicht so. Es ist ganz anders Hörmal Bern 2008
Rheinsberg Litraton Hamburg 2008
Die Satire darf alles Bell-Musik Aichtal 2008
Lerne lachen ohne zu weinen Bell-Musik Aichtal 2008
Herr Wendriner … Gehlen München 2008
Frauen sind eitel: Männer? – Nie!! Bell-Musik Aichtal 2008
Was tun Frauen, bevor sie ausgehen … Delta Music Frechen 2007
Manfred Zapatka liest Kurt Tucholsky, Schloss Gripsholm Argon-Verl. Berlin 2007
Dieter Mann liest Kurt Tucholsky, Wenn tot, werde ich mich melden Eulenspiegel-Verl. Berlin 2007
Schloß Gripsholm Diogenes-Verl. Zürich 2007
Schauspieler singen Tucholsky Volker Bell Aichtal 2007
Bitte sehr! – Ich liege Ihnen zur Verfügung Cavalli Records Bamberg 2006
Rheinsberg – ein Hörbuch für Verliebte Power-Station-GmbH Mönchengladbach 2006
Humoresken und Satiren ZYX Music Merenberg 2006
Jürgen Goslar liest… Kurt Tucholsky Horchideen Hünfelden 2006
Humoresken und Satiren ZYX Music Merenberg 2006
Tucholsky, Kleine Geschichten Komplett-Media Grünwald 2006
Ein Ehepaar erzählt einen Witz Audiobuch Freiburg i. Br. 2006
Manfred Zapatka liest Kurt Tucholsky, Schloss Gripsholm Argon-Verl. Berlin 2006
Anna Thalbach liest Kurt Tucholsky, Rheinsberg Argon-Verl. Berlin 2006
Rheinsberg Diogenes-Verl. Zürich 2006

Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man sich die Sekundärliteratur zu Tucholsky ausschaut. Da überwiegen natürlich eher Aspekte, die sich wissenschaftlich untersuchen lassen, wie Tucholskys politische Überzeugungen oder seine juristischen Auffassungen. Gleich zwei Autoren, Fritz J. Raddatz und Klaus Bellin, haben Tucholskys Verhältnis zu seiner zweiten Frau Mary Gerold näher beschrieben.

Titel Autor Ort Jahr
Kurt Tucholsky – Joseph Roth – Walter Mehring Mayer, Dieter Frankfurt/Main 2010
Mit der Schreibmaschine gegen die Katastrophe Greis, Friedhelm; King, Ian (Hg.) St. Ingbert 2010
Kurt Tucholsky Raddatz, Fritz J. Freiburg i. Br. 2010
Heinrich Heine und Kurt Tucholsky in Paris Trilse-Finkelstein, Jochanan Berlin 2010
Hej Tucholsky Mantel, Henk Bad Schwartau 2010
Es war wie Glas zwischen uns Bellin, Klaus Berlin 2010
Tucholskys Großkusine erinnert sich Rothert-Tucholsky, Brigitte Grimma 2009
… dieser Staat ist nicht mein Staat … Blanke-Kießling, Ursula Baden-Baden 2009
Kurt Tucholsky Scheer, Regina Berlin 2008
Der Antimilitarist und Pazifist Tucholsky Greis, Friedhelm; King, Ian (Hg.) St. Ingbert 2008
Tucholsky und die Weimarer Republik Di Bella, Antje München 2008
Man erspare es mir, mein Juristenherz auszuschütten Miederhoff, Thorsten Frankfurt/Main 2008
Tucholskys Großkusine erinnert sich Rothert-Tucholsky, Brigitte Berlin 2007
Kurt Tucholsky: ein Bild sagt mehr als 1000 Worte Hans, Sarah Saarbrücken 2007
Tucholsky und die Medien Greis, Friedhelm; King, Ian (Hg.) St. Ingbert 2006
Das hat alles nichts mehr mit Ihnen und Ihrer Arbeit zu tun. Wirsching, Daniel Wien 2006

Die kurioseste »Tucholsky«-Veröffentlichung der vergangenen Jahre stammt jedoch von der Connewitzer Verlagsbuchhandlung in Leipzig. Diese hat das Büchlein Die verkehrte Welt. In Knüttelversen dargestellt von Kaspar Hauser neu herausgegeben. Allerdings steckt in diesem Fall hinter dem Pseudonym nicht Tucholsky. Das ist in der Forschung schon seit etlichen Jahren bekannt. Aber vielleicht fällt ja manch unbedarfter Käufer auf den falschen Autor herein…

21.11.2010

Eine Frau aus dem Bilderbuch

Hä? Kann man eine Ausstellung über einen Menschen machen, über den fast nichts bekannt ist? Dieser Frage musste sich das Tucholsky-Museum in Rheinsberg stellen, als man überlegte, das Leben von Tucholskys erster Ehefrau Else Weil zu präsentieren. Sie war die »reale Claire« aus Rheinsberg, dem Bilderbuch für Verliebte. Aber darüber hinaus war eigentlich nur das bekannt, was Sunhild Pflug in dem schmalen Band aus der Reihe Jüdische Miniaturen über sie zusammengetragen hat. Reicht das aus, um die fünf Räume im Tucholsky-Museum zu füllen?

Zur Ausstellungseröffnung am 13. November zeigte sich, dass dies den Kuratoren Peter Böthig und Alexandra Brach durchaus gelungen ist. Die Schau zeigt ein exemplarisches jüdisches Leben in Deutschland. Anhand von Dokumenten und Zeugnissen, die etwas mehr als ein Jahrhundert umfassen. Vom Bürgerbrief, den Else Weils Urgroßvater 1824 in Prenzlau erhielt, bis zur Transportliste Nr. 30 von Drancy nach Auschwitz am 9. September 1942. Dieses Familienleben war bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten eine Erfolgsgeschichte der heute so viel beschworenen Integration. Und nicht nur das. Else Weil war den meisten Frauen ihrer Zeit weit voraus, als sie ab 1911 Medizin studierte und 1917 eine Approbation als Ärztin erhielt. Der Erfolg von Tucholskys Rheinsberg, in dem laut Böthig ein »neues, libertinäres Lebensgefühl formuliert« wurde, war nur möglich, weil es für die Claire ein »reales« Vorbild gab. Eine junge Frau, die Tucholsky das »infantile Schlafzimmer-Gealber« – wie Walter Mehring es nannte – eingeflüstert hat. Und bereit war, fernab aller damaligen Konventionen mit ihrem etwas jüngeren Freund einige amouröse Tage in der Provinz zu verleben.

Im Zentrum der Ausstellung steht daher auch die exklusive Rheinsberg-Ausgabe, die Tucholsky im Jahre 1912 Else Weil widmete und die das Museum im vergangenen Jahr für 10.000 Euro antiquarisch erstanden hat. Die meisten anderen Dokumente stammen aus dem Besitz von Weils Nichte Gabriele, die die Familienerinnerungen im Londoner Exil aufbewahrt hatte. Weitere Schriftstücke fanden sich noch in diversen Archiven und zeigen vor allem, auf welche schwierige Weise sich Else Weil ihre Existenz sichern musste. Es wird deutlich, dass sie im Grunde nur kurze Zeit als niedergelassene Ärztin gearbeitet hat und offenbar die meiste Zeit als Sekretärin ihr Geld verdiente. Dies galt erst recht nach der Machtübernahme der Nazis, die ihr im Dezember 1933 die kassenärztliche Zulassung entzogen. Auch aus der Exilszeit finden sich viele Zeugnisse, die die Stationen ihrer Emigration dokumentieren. Von Else Weil selbst sind nur jedoch ganz wenige Fotografien erhalten. »Sie war sehr reizvoll, schlank, rothaarig, schöne Gesichtszüge, Stupsnase, große Augen«, beschreibt sie Pierre Paul Sagave. Heinz Ullstein bezeichnet sie in seinen Erinnerungen als »nicht hübsch, aber anziehend«. Laut Sunhild Pflug bezauberte sie »nicht nur durch ihre sinnliche Ausstrahlung, sondern war klug, gewitzt und nicht auf den Mund gefallen«.

Trotz dieser vielen Vorzüge war Claire Pimbusch, wie Tucholsky sie nach einer Figur aus Heinrich Manns satirischem Roman Im Schlaraffenland nannte, nur eine kurze und unglückliche Ehe mit ihrem Wölfchen beschieden. Im Mai 1920 hatten beide geheiratet, schon drei Jahre später war Tucholsky aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Nicht auf die feine Art: »Ich habe mich damals falsch benommen. Ich war nicht alt und reif genug, um das mit Takt und Delikatesse zu machen – ich war plump, roh, dumm. Ich tat weh, obgleich ich wissen mußte, weh zu tun – und ich tat unnötig weh«, schrieb er 1926 an seine zweite Frau Mary Gerold, mit der er genauso wenig zusammenleben konnte.

Dennoch war es nicht Else Weil, sondern Mary Gerold, von der kurz vor seinem Tod behaupten sollte: »hat nur ein Mal in seinem Leben geliebt«. Else Weil hingegen scheint erst im Exil wieder einen anderen lieben gelernt zu haben: den Emigranten Friedrich Epstein. Anders als vielen anderen Emigranten gelang ihnen jedoch nicht die Flucht aus Frankreich. Beide werden in Südfrankreich festgenommen und deportiert. Beide sterben in Auschwitz.

Es ist sicherlich zutreffend, wenn Böthig und Brach die Ausstellung mit »Fragmente eines deutsch-jüdischen Lebensweges« überschrieben haben. Leider sind zu wenig Zeugnisse von Else Weil selbst überliefert, um sie vor der Augen des Besuchers wirklich lebendig werden zu lassen. Aber, wenn Tucholsky sie richtig getroffen hat, hilft dazu auch nach 100 Jahren noch ein Lektüre eines kleinen Büchleins für Verliebte:

»Wölfchen, eß man Suppens mitm Messer?«

»Wa –?«

»Na, ich hab mal einen gesehen, der hat mitm Messer geessen.«

»Suppe?«

»Neieinn … « Aber da kam eine alte Dame an ihrem Tisch vorübergeschlurcht, schielte krumm und murmelte etwas von »unerhört« und »Person« und so.

»Wölfchen, die meint mir. Konnste ihr nicht gefordert gehabt habs? – Söh mal, ich bin doch ’ne Feine, nich wahr? oder glaubsu, ich bin eine Prostitierte? Nei–n. Ich ja nich. Ich nich. Hä?«


Die Ausstellung ist bis zum 13. Februar 2011 in Rheinsberg zu sehen.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10:00 – 16:30 Uhr
www.tucholsky-museum.de

2.11.2010

Zum Weinen gut

Es ist hinreichend bekannt, dass Tucholsky bis kurz vor seinem Tod den norwegischen Schriftsteller Knut Hamsun sehr verehrte. Was für Hamsum galt, traf erst recht auf Leo Tolstoi zu, der am 7. November/20. November (greg.) vor 100 Jahren gestorben ist. Eine geradezu hymnische Lobpreisung des russischen Schriftstellers findet sich in einem »Q-Tagebuch« vom 28. und 29. März 1935. Seiner in Zürich lebenden Freudin Hedwig Müller schrieb Tucholsky aus dem schwedischen Exil über Tolstois Hauptwerk Krieg und Frieden:

Dieses Buch ist alles in einem: Bibel, Kriminalroman, Essai und Gesangbuch und was Du willst. Es ist ein Wunder. Den Epilog zum Beispiel konnte nur ein Genie schreiben. Wie da die schwarzäugige, romantische, etwas sinnliche und muntere Natascha als Mutter und Frau gezeigt wird, »sieben Jahre später« – das ist inspiriert. Sie wird gezeigt, durchaus mit ihren Windeln befaßt, in denen – Gott sei gelobt! – statt eines grünen ein gelber Fleck zu sehen ist; sie ist nicht unsympathisch, aber auch nicht sehr angenehm; sie vernachlässigt sich und ihr Äußeres, ist aber maßlos eifersüchtig, sie ist eine gute Mutter und Gluckhenne – und das Leben geht, geht. Tolstoi zeigt das, er kritisiert es nicht, er hebt gar nicht die Stimme. Nur einmal bedauert ein ehemaliger Verehrer diese Veränderung ganz leise, ihr Mann ist damit durchaus zufrieden. Und dann wachsen junge Kinder auf, eine neue Generation, und es geht alles weiter. Es ist ein Wunder.

Bevor ich wußte, daß Hamsun zu den Nazis übergegangen ist, wäre ich vor ihm aufgestanden, wenn er hereingekommen wäre. Vor Tolstoi hätte ich geweint. Und das ist keineswegs literarische Hysterie. Ich hatte in Berlin einen juristischen Repetitor, der hat Tolstoi einmal in einer Kino-Wochenschau gesehn. »Man kann doch den lieben Gott nicht filmen«, sagte er. Und Gorki schildert ihn, am Meer sitzend, »wie ein alter Stein, der zur See gehört«.

Dabei ist er mir, wenn er moralisiert, unerträglich; es gibt im Deutschen ein Wort, das man von miauenden kleinen Kindern sagt: er greint. Dann schiebe ich ihn fort, ich mag das nicht. Aber als Gestalter, als Former, als Bändiger der Formen, – das hat seinesgleichen nicht.

Ungefähr drei oder vier lange Kapitel sind in diesem Roman, den man nur in einer ungekürzten Ausgabe lesen darf, der Lehre gewidmet, daß es nicht die Gedanken und nicht die Worte sind, also daß es nicht die ratio ist, die den Menschen leitet. Das Irrationale in der Geschichte, das der Marxismus einfach nicht kennt, wird hier so klar ausgesprochen, soweit die Sprache, die vom Hirn kommt, etwas aussprechen kann, was im sympathischen Nervensystem begründet liegt. Wie »es« die Masse vorwärtsschiebt, warum? Weil.

Und eben darum glaube ich an den Fortbestand der Nazis in Deutschland – sie sind, es ist ihr Schicksal, es ist nicht eine Durchgangsstation, es ist eine Vollendung. Wieweit sie das selbst fühlen, steht dahin – aber es ist so.

P.S.: Ist eigentlich schon irgendeinem Tolstoianer aufgefallen, dass eine gewisse Lena Meyer-Landrut die ideale Verkörperung der Natascha darstellt? So wie Natascha als Jugendliche die Petersburger Hofgesellschaft begeisterte, schwärmte vor einigen Monaten das deutsche Feuilleton von Lena. Der Epilog dieser Geschichte muss jedoch noch geschrieben werden.

21.10.2010

Der Philosoph von der traurigen Gestalt

Von den über 500 Büchern, die Tucholsky im Laufe seiner Karriere besprochen hat, reizen viele durch sein begeistertes Lob noch heute zum Lesen. Daneben gibt es einige Werke, die von ihm derart heftig verrissen wurden, dass diese wütende Kritik wiederum neugierig macht. Dazu zählt beispielsweise Arnolt Bronnens Oberschlesien-Roman O.S., den Tucholsky in der fünfseitigen Rezension »Ein besserer Herr« zerpflückte. Während Bronnens Buch kaum antiquarisch oder in Bibliotheken erhältlich ist, lässt sich der Anlass eines anderen Verrisses nun in einer kommentierten Ausgabe nachlesen. Es handelt sich um Salomo Friedlaender/Mynonas 1929 erschienenes Buch Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt?. Der Band 11 von Mynonas Gesammelten Werken enthält außerdem die Broschüre Der Holzweg zurück (1931), die als ausführliche Replik auf Tucholskys Rezension des erstgenannten Werkes in der Weltbühne gedacht war. Wird die Neugierde mit der Lektüre belohnt?

Wie der Name von Mynonas Buch vermuten lässt, war der Hintergrund des Streits der Welterfolg des Remarque-Romans Im Westen nichts Neues. Von diesem Buch wurden schon im ersten Jahr des Erscheinens, 1929, sensationelle 900.000 Exemplare verkauft. Sein aufwühlendes Thema, die Erlebnisse eines einfachen Soldaten im Ersten Weltkrieg, gab Anlass zu heftigen Debatten über die Tendenz des Buches. Während es die einen für pazifistisch und deutschfeindlich hielten, erkannten andere darin nichts weiter als die übliche Kriegsromantik. Der gefeierte Autor hielt sich mit Stellungnahmen zurück. Erst später entwickelte er sich zu einem militanten Pazifisten, wie er sich 1962 erstmals bezeichnete.

Der Verleger Paul Steegemann kam schon 1929 auf die Idee, eine Parodie des Werkes aufzulegen. Dazu gewann er als Autor den Philosophen Salomo Friedlaender, der unter seinem Pseudonym Mynona (rückwärts für Anonym) bekannt geworden war. Tucholsky hatte ihn in der Schaubühne 1913 lobend rezensiert und später als »Schnurriker« bezeichnet. Mit dieser Sympathie war es aber nach dem Erscheinen der Remarque-Parodie schlagartig und für alle Zeiten vorbei. »Hat Mynona wirklich gelebt?« fragte Tucholsky in seiner Rezension und warf Mynona darin vor, »eine Unanständigkeit begangen« zu haben. Der Grund: Mynona habe sich die bürgerliche Existenz Remarques und dessen literarische Anfängerversuche vorgenommen, um Kritik am Buch zu üben. Das gehe an der eigentlichen Debatte um dessen Inhalt jedoch völlig vorbei und sei Ausdruck von Neid, Niedertracht und Konjunkturreiterei. Sind Tucholskys Vorwürfe auch nach 80 Jahren noch berechtigt?

Zunächst muss man ihm völlig zustimmen, wenn er schreibt:

Zum Glück ist die Schrift des streitbaren Philosophen unlesbar und von einer altbacknen Langeweile mit Wasserstreifen […] Und zum Glück ist es keine Parodie geworden; sondern eine aufgeschwollene Literaturpolemik aus dem Jahre 1905.

Das Interessanteste an der Neuausgabe ist in der Tat die umfangreiche Einleitung von Detlev Thiel sowie der Anhang, der dutzende zeitgenössische Rezensionen und Stellungnahmen auflistet. Der Effekt, der sich bei dem Rezensenten des Hannoverschen Kuriers während der Lektüre Mynonas einstellte, tritt heute immer noch ein:

War das Material zu dürftig oder die Zornwolke um Mynonas Haupt zu groß – der Satire fehlt der Funke, der sie zünden macht. Mynonas Satire irrlichtert im Kreise, statt geradeaus zu zielen; er hat in sein Buch so viele Anzapfungen und Anspielungen hineingepackt, er gefällt sich in einer so schwierigen Wortequilibristik, daß man schon nach wenigen Seiten ermüdet zurücksinkt. Er treibt uns mit seinen Geistreicheleien den Geist aus.

Wer sich dennoch durch die 200 Seiten quält und über »alraschidisch deskondeszierende Majestäten« stolpert, aber taumelnd wieder aufsteht, stellt voller Verwunderung fest: Eigentlich geht es Mynona ja gar nicht um Remarque. Durchaus erfüllt er, was er gleich zu Beginn als sein eigentliches Ziel postuliert:

Bevor ich den Clown spiele, möchte ich doch zuvor noch einen Augenblick mein ernstes Gesicht zeigen. Ich will in das Wespennest der triumphierenden Mittelmäßigkeit stechen. Die an sich zufällige Person des Herrn Remarque dient mir nur deshalb zum Angriffspunkt, weil sich in ihr jener Triumpf konzentriert.

Mynona will zusammen mit Remarque gleich die ganze Moderne erledigen. Doch dabei führt er sich nicht als lustiger Clown auf – oder gar »lachender Philosoph«, wie Tucholsky ihn nannte. Er kämpft wie ein philosophischer Ritter von der traurigen Gestalt, der aus einem vergangenen Zeitalter kommt und mit untauglichen Waffen gegen die Gegenwart zu Felde zieht. Er rennt gegen die Windmühle Remarque an und glaubt allen Ernstes, damit Riesen wie Albert Einstein besiegen zu können. Sein Amadis de Gaula ist Immanuel Kant, »das Genie der Vernunft« und »oberste Lehrmeister der Menschen«. Hinzu kommt eine besondere Verehrung für dessen »kongenialen Nachfolger« Ernst Marcus, der offenbar so genial war, dass nicht einmal das Metzler Philosophenlexikon ihn kennt (aber immerhin die Wikipedia).

Während Tucholsky bei der Lektüre zornig wurde, kann man heute nur noch traurig den Kopf schütteln, wenn man liest:

Man vergleiche Marcus‘ Weltäthertheorie und seine Widerlegung der speziellen Relativitätstheorie mit Einsteins rechenmaschinellen Talenten. Diese Rechenmaschine ist ein Talent allerersten Rangs ohne alles Genie und, obgleich mit akademischen Ehren bekleidet, dennoch so gut wie Remarques nackter Mensch, eine wohlbekleidete Ausnahme von der splitternackten Regel.

Spätestens an dieser Stelle müsste man das Buch eigentlich erschöpft als geistige Verirrung eines verbohrten Adepten beiseite legen. Aber es wird noch besser. 100 Seiten später behauptet er:

Hätte man nämlich Kants Ethik schon vor anderthalb Jahrhunderten verstanden und in die Schulen eingeführt, so hätt’s nebbich garkeinen Weltkrieg gegeben. Wie denn der nächste nur noch durch meinen »Kant für Kinder« verhindert werden kann […]

Ist nicht jahrhundertelang eine nicht minder pazifistische Grundhaltung ohne Erfolg gelehrt worden?

Von der quijotesken Selbstüberschätzung zeugt auch ein Brief Mynonas an seinen Verleger Steegemann:

Dieses Antiremarquebuch ist in Wahrheit eine Dynamitbombe, und ich werde die Illusion nicht mehr los, daß nicht ich, sondern sie [die »Mittelmäßigen«] daran krepieren sollten. Es muß gelingen, nicht nur Hintre zum Grunzen, sondern doch auch endlich die Stimme der Wahrheit zum Sieg zu bringen. Es gibt doch gewiß nicht nur diese Massenclique, sondern auch einzelne gute, große Publizisten. Wer sind sie? Wie kommt man an sie heran? Wie verschafft man sich ein wahres Gehör anstelle dieses ludermäßig verlotterten? Daß diese intelligenteren Hunde nicht spüren sollten, welcher brillanteste Satirenstil, welche wahrhaft satanische geistige Überlegenheit in meinem Opus steckt, ist ausgeschlossen; – es sind absichtliche Unterdrücker wider ihr bestes Wissen!!!

Mynona geriert sich wie ein haushoch überlegener Geisterfahrer, der nur mittelmäßige und »falsch orientierte« Autofahrer entgegenkommen sieht. Zum Glück gab es damals noch keine Autobahnen.

Nicht viel verständlicher ist Der Holzweg zurück. Auf dessen Umschlag prangte groß: »Gegen Kurt Tucholsky«. Laut Verlagsankündigung wurde das Werk »in der Tucholsky-Forschung bislang marginalisiert«. Zu recht. Denn, wie nicht anders zu erwarten, geht es darin weniger um das angekündigte Objekt der Kritik. Statt dessen – richtig geraten – mehr um die wahre Genialität eines Kant und Marcus (»Gewidmet allen Kannitkantverstans«). Was soll man auch zu einer »Kritik« sagen, die permanent Sätze produziert wie:

Hier stellen die diversen Ullsteins ihre mit Panther- und Tigerkrallen bewehrten wrobeligen Schmieresteher auf, um die Wahrheit meuchlings zur Strecke zu bringen …

Plötzlich aber – ah, welch Feuerwerk – erschien die tiger- und pantherhafte Anwröbelung des kasparhauserigen Weltfremdlings Tucholsky – qualis artifex!

Wozu den Panther- und Tigerfelle? – À la Kasparhauser weltfremd geschmückte ehrliche olle Wrobelhaut im Geschmack der Tucholskys genügt vollauf.

Wäre Mynona doch besser anonym geblieben. Statt dessen setzte er auf seinen Nachruhm:

Jeder Leser der Weltbühne weiß, wie Wrobel mich blamiert hat. Wie Wrobel sich vor mir, das werden die Leser von 2000 genau erfahren. Ich höre schon die Lachtauben, die es dann auf dem Essener Marcus-Platz gurren…

Auch 2010 müssen die Tauben weiter nach Venedig fliegen. Im Westen gibt es immer noch nichts Neues…

19.10.2010

Der Gendarmeriekommissar von Hildburghausen

In seiner Zeitgeschichte-Rubrik Eines Tages hat Spiegel Online erläutert »Wie Hitler Deutscher wurde«. Autorin Johanna Lutteroth schreibt darin über die Einbürgerung Adolf Hitlers:

Hitler aber war staatenlos, nachdem er 1925 auf seine österreichische Staatsbürgerschaft verzichtet hatte. Sechsmal hatte er seitdem versucht, in den Besitz des deutschen Passes zu kommen. Jedes Mal war er am Widerstand der demokratischen Institution gescheitert […]. Mittlerweile [Anfang 1932] hatte auch die Presse Wind von den verzweifelten Einbürgerungsversuchen Hitlers bekommen und machte sich gehörig darüber lustig.

Das klingt so, als hätten die deutschen Behörden jahrelang das Richtige gemacht, um den Aufstieg Hitlers nach ihrer Möglichkeit einzudämmen. Auch scheint es, als habe die Presse vorher davon nichts erfahren und kaum darüber berichtet. Das trifft beides nicht zu. Denn die Behörden hätten noch ganz anders mit Hitler umgehen können. Darauf wies die Weltbühne schon kurz vor der Posse von Hildburghausen hin. Herausgeber Carl von Ossietzky fragte im Juni 1930:

Warum hat eigentlich noch keine deutsche Regierung daran gedacht, Herrn Adolf Hitler aus Braunau (Tschechoslowakei) endlich des Landes zu verweisen? […] Wie hart können die Behörden nicht sonst gegen Ausländer sein, wenn es sich um kleine Paßvergehen oder um bescheidene politische Betätigung handelt. Nur der große Adolf darf seit zehn Jahren unbehindert Aufruhr und Hochverrat predigen und praktisch ausüben und die Losungen ausgeben für die Bluttaten, die sich tagtäglich auf der Straße und in Versammlungen wiederholen. […] Hitler selbst versucht ja seit Jahren mit den verschiedensten Mitteln seine Einbürgerung durchzusetzen, es ist ihm immer wieder mißlungen, und selbst sein Freund Frick hat es nicht schaffen können. Die Regierungen drücken sich davor, Herrn Hitler zum deutschen Staatsbürger zumachen, was ihn erst zur politischen Betätigung qualifizieren würde. Eine wenig tapfere Halbheit. Man wagt ihn weder auf Schub zu bringen noch als Mitbürger anzuerkennen; man läßt den Landfremden ungestört herumtoben und für sich und seine Komitatschis Ansprüche auf Alleinherrschaft proklamieren. Das Gesetz ist nur gegen Schwache schrecklich. Hat Einer seine Prügelgarden hinter sich und eine große nationale Schnauze, so ist er gegen das gemeine Schicksal gefeit.
»Der Pabst«, in: Die Weltbühne, 26. Jg., Nr. 26 (24.6.1930), S. 937–939

Auf die Möglichkeit der Ausweisung pochte die Zeitschrift noch einige weitere Male. Ossietzkys Begründung lautete: »Diejenigen, die immer Zucht und Disziplin und Unterwerfung auch unter die rigorosesten Gesetze fordern, sollen selbst einmal das vom Staate spüren, was sie gegen andre verlangen.« Doch der Staat dachte nicht daran, seine eigenen Gesetze im Falle Hitlers anzuwenden.

Im Februar 1932 kam auch Ossietzky auf die Posse um den Gendarmeriekommissar von Hildburghausen zu sprechen. Anders als in Hitlers Kalkül, der seine österreichische Staatsbürgerschaft auch deshalb zurückgegeben haben soll, um nicht in sein Heimatland abgeschoben werden zu können, dachte Ossietzky über die Ausweisung Staatenloser wohl anders. In seinem Leitartikel »Der Staatenlose« schrieb er:

Das Reichsinnenministerium hat der Öffentlichkeit ein paar Dokumente übergeben, aus denen ersichtlich wird, in welcher Weise Herr Frick als thüringischer Minister seinem Chef das deutsche Staatsbürgerrecht verschaffen wollte. Frick hat vom münchner Polizeipräsidium her noch einige Übung in solchen Dingen. Adolf Bonaparte sollte als Gendarmeriekommissar in Hildburghausen anfangen.

Das ist gewiß recht komisch, denn selten deckten sich Mann und Amt so sehr. Aber der Heiterkeitserfolg wird bald verrauscht sein, und wenn diese Zeilen im Druck erschienen sind, wird sich das Braune Haus vielleicht schon durch eine Enthüllung über seine Gegner revanchiert haben, und dann lacht halt die andre Seite, und wir sind nicht viel weitergekommen.

Denn auch diese Einbürgerungskomödie zeigt nur die Schwäche und Inkonsequenz der Reichsregierung. Dieser Herr Hitler ist staatenlos, gehört also einem sonst ganz besonders unseligen Menschenschlag an, der das ewige Freiwild der internationalen Polizei ist und für jede Amtsperson, wie in frühem Zeiten die Dirne, die rote Lilie auf der Schulter trägt. Und dieser eine Staatenlose wirft sich zum Parteihaupt auf, er unterhält eine Privatarmee von 300 000 Mann, er schickt Emissäre in fremde Hauptstädte, welche die offizielle Außenpolitik zu durchkreuzen suchen, man verhandelt mit ihm als gleichberechtigter Macht, er versichert seine Legalität, während seine Anhänger Pläne zur Abschlachtung einiger zehntausend deutscher Staatsbürger entwerfen, er frühstückt mit den Reichswehrgewaltigen, er wird vom Reichspräsidenten empfangen. Eine anständige Karriere für einen Menschen ohne Staatszugehörigkeit.

Ich glaube, es gibt hier nur zwei Möglichkeiten: Hitler wird entweder eingebürgert oder ausgewiesen. Was das Reichsinnenministerium unternimmt, ist nur eine kleine Neckerei und durchaus nicht geeignet, die Autorität wieder aufzurichten. Herr Hitler wird an ein kleines Manko in seinen Papieren erinnert. Ein Manko, das sich mit hundertsechs Parteigängern im Parlament und einer einexerzierten Halsabschneidertruppe schon ertragen läßt.

Wenige Tage später, am 26. Februar 1932, war Hitler dieses Manko los. Aber kaum vorstellbar, dass er auch ohne deutschen Pass jemals ausgewiesen worden wäre. Die Weimarer Republik bezahlte ihre »Schwäche und Inkonsequenz« lieber mit ihrem Ende.

Powered by WordPress