Auf Tucholskys Spuren in Schweden
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„Für die Ablehnung der Todesstrafe stimmten die Sozialdemokraten, die Kommunisten, Frau Lüders (Demokrat) und Doktor Kahl (Deutsche Volkspartei). Vor der Abstimmung hatte der Vorsitzende des Ausschusses, Doktor Kahl, erklärt, daß er nur unter der Voraussetzung für die Abschaffung der Todesstrafe stimme, daß die Annahme seines Antrages zur Sicherungsverwahrung erfolgen werde.“
Im Strafrechtsausschuß geht ein Kuhhandel vor sich, so gemein, so niedrig und so empörend, daß wir dagegen aufstehen. Die Fürstenabfindung ist ein Verbrechen am deutschen Volk gewesen; der Panzerkreuzer eine konsequente Inkonsequenz der Sozialdemokratie, deren Führer nun offenbar den letzten Rest von Vernunft und Scham eingebüßt haben – aber was hier vorbereitet wird, darf nicht Gesetz werden. Die Dinge liegen so:
Die Diskussion über die Beibehaltung der Todesstrafe wogt hin und her. Wir sind Gegner dieses staatlich konzessionierten Mordes – ich halte nicht jeden Anhänger dieser Strafart für einen Sadisten; die meisten Menschen, die dafür stimmen, machen sich die Folgen ihrer Stimmabgabe nicht klar, und die Berechtigung eines Gemeinwesens, über das Leben seiner erzwungen eingeschriebenen Mitglieder zu verfügen, ist höchst diskutabel: zum mindesten ist die religiöse und philosophische Seite der Sache einer Untersuchung wert, die höher zu sein hätte als die kümmerlichen Unterhaltungen im Ausschuß. Hier steht Meinung gegen Meinung: man soll in solch subtilen Fragen seine Gegner nicht beschimpfen, sondern man soll seinen eigenen Standpunkt klar und sauber darstellen. Soweit gut.
Der alte Kahl war vor dem Krieg das Urbild juristischer Reaktion, wird aber heute von den Sozialdemokraten recht geachtet und geehrt, denn alte Leute verstehen sich untereinander gut, und weil jene nach rechts gerückt sind, glauben sie, er sei nach links gegangen, ein beachtliches Beispiel Einsteinscher Relativitätstheorie.
Der alte Kahl, der gesehen hat, daß er die Todesstrafe kaum durchbekommen würde, schon gar nicht, nachdem im Falle Jakubowski und in andern Prozessen die verantwortungslose und schludrige Arbeit der Kriminalpolizei und der Gerichte nachgewiesen worden ist, zog sich langsam zurück. Nicht, ohne das Feld der Diskussion sachte zu verschieben. Die Diskussion über die ›Sicherungsverwahrung‹ ist ausgesetzt worden.
Vorläufig halten sie noch bei der Todesstrafe und ihrem mordenden Ersatz. Die Frage der ›Sicherungsverwahrung‹ ist noch gar nicht angeschnitten – noch ist gar nicht entschieden, ob es sie überhaupt geben soll: da finden sich bereits 9 (in Worten: neun) Sozialdemokraten, die dem alten Kahl um den mit Paragraphen besetzten Bart gehen und ihm alle Mühe abnehmen. Hier ist die Stelle, wo jener seine Sicherungsverwahrung einschmuggelt – die Sozis immer mit. Kommen nun die grundsätzlichen Paragraphen später zur Beratung, so ist sie schon da! man kann schon darauf hinweisen, man kann sagen: „Meine Herren, Sie haben diese Strafart für den Mord als Ersatz der Todesstrafe angenommen – nun brauchen wir sie noch in andern Fällen … „, und wieder werden sich die neun und, wie wir die Partei kennen, wird sich die ganze Partei bereit finden, für diesen Wahnsinn zu stimmen. Was sie davon hat? Der SPD ist es vorbehalten geblieben, einen neuen Verrätertypus in die politische Geschichte eingeführt zu haben: den Judas ohne Silberlinge.
Die Sicherungsverwahrung ist viel, viel gefährlicher als sie zu sein scheint. Warum -? Was ist die Sicherungsverwahrung -?
§ 59: „Wird jemand, der schon einmal zum Tode oder zu Zuchthaus verurteilt worden war, nach § 78 als ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher zu einer Strafe verurteilt, so kann das Gericht daneben auf Sicherungsverwahrung erkennen.“
§ 60: „Die Unterbringung dauert so lange, als es ihr Zweck erfordert.“
Das heißt: lebenslänglich. Und die weiteren Absätze des § 60 geben das auch, sanft verklausuliert, zu. Lebenslänglich.
Wer ist nun ein Gewohnheitsverbrecher? „Das“, sagt eine berliner Redensart, „bestimmst du mit deinem schmutzigen Hals.“ Der § 78 sagts uns nicht. „Hat jemand, der schon zwei Mal wegen eines Verbrechens oder eines vorsätzlichen Vergehens zum Tode oder zu Freiheitsstrafe von wenigstens sechs Monaten verurteilt worden ist, durch ein neues Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen eine Freiheitsstrafe verwirkt, und geht aus der neuen Tat in Verbindung mit den früheren Taten hervor, daß er ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist … “ Das ist keine Erklärung – das ist eine Handhabe.
Danach können also Bettler und herumlungernde Arbeitslose zu lebenslänglicher ›Sicherungsverwahrung‹ verdonnert werden. Keine Gewähr gibt es, daß diese in einem ›Arbeitshaus‹ zu verbüßende Strafe nicht unter viel grausameren Bedingungen abgemacht wird als im Gefängnis – die öffentliche Kontrolle dieser ›Erziehungsanstalten‹ ist sehr gering, und was sich da an privatem Sadismus, an wahnsinnig gewordenem Geltungsbedürfnis breit macht, wissen nur die, die unter den Direktorial-Subalternen leiden.
Viel schlimmer, viel gefährlicher aber ist der politische Mißbrauch, der mit dieser Strafe getrieben werden wird.
Die Delikte ›Hochverrat‹, ›Landesverrat‹, ›Störungen der Beziehungen zum Ausland‹ und ›Angriffe gegen die Wehrmacht oder die Volkskraft‹ haben nicht nur den von den Franzosen erfundenen Begriff ›potentiel de guerre‹ in das neue Strafgesetz eingeschmuggelt, sondern sind derartig formuliert, daß ihre zu befürchtende Anwendung zu einer völligen Knebelung der freien politischen Meinung führen wird, soweit die noch frei ist. Es ist für jeden Reichsgerichtsrat eine Spielerei, aus einem konsequenten Politiker einen ›Gewohnheitsverbrecher‹ zu machen und damit einen, den man – hei! – lebenslänglich einsperren kann. Er kann froh sein, wenn man ihn nicht, wie Herr Böters das neulich im ›Berliner Tageblatt‹ vorgeschlagen hat, kastriert.
Auf diese Richter ist nicht der leiseste Verlaß. Eine solche unerhörte Erweiterung ihrer Ermächtigung ist unangebracht, gefährlich und ein Verbrechen an der politischen Entwicklung Deutschlands, die, wenn es mit diesem Gesetz ernst wird, damit aufgehört haben wird, zu existieren. Dann ist es aus.
Über die ›Begründung‹ dieses Anschlags ist, wie über die gesamte Begründung des Entwurfs, kein ernsthaftes Wort zu verlieren. Seine Begründung begründet gar nichts – in traurigem Deutsch wird dort der Gesetzestext wiederholt, breitgewalzt, kommentiert –: von einer echten Begründung ist auch nicht ein Hauch zu spüren. Die ›Sicherungsverwahrung‹ darf in keiner Form Gesetz werden – in keiner.
Wenn die Sozialdemokratie wiederum – zum wievielten Male! – ihre Anhänger verraten will, so ist das deren Sache. Wenn diese Partei aber glaubt, höchst listig gehandelt zu haben, so muß ihr gesagt werden, daß sie, wie immer, höchst dämlich handelt – sie hat bisher bei allen Koalitionen kein Kompromiß, sondern immer nur Kompromittierungen erreicht – und was sie dieses Mal vor hat, ist schlimmer als das.
Da haben sich im Dunkel der Ministerien ein paar Ärzte, wie der Doktor Heindl, dieser Schädling der Kriminalistik, ein paar Jugendpfleger, die weder wissen, was Jugend ist, noch imstande sind, jemand zu pflegen, ein paar Pastöre und ein paar Professoren etwas ausgeknobelt, über dessen Folgen sich nur die sehr gerissenen Juristen vom Bau klar sind. Das wird in fast unannehmbarer Form den Volksvertretern vorgeworfen. Nun wird geschachert.
Und diese Hammel lassen sich wirklich auf den Handel ein, der um ihre eigenen Hälse geht – um die ihrer Auftraggeber, um das Leben ihrer Wähler. Sie glauben ganz im Ernst, sie hätten etwas erreicht, wenn sie ein paar Ornamente entfernen, und weil die Referenten am Reichswehr-Etat gelernt haben, wie man das macht, so bleibt das Fundament unverändert. Denn das kann kein Deutscher: zu einem Entwurf, der von der Regierung kommt, schlicht Nein sagen. Mit Feuerfaulheit stürzt er sich darauf, blättert, macht sich Notizen, schwätzt und tut der Regierung den Gefallen, zuzustimmen, nachdem er stolz seinen kleinen Antrag eingebracht hat: „Im zweiten Absatz wird das Wort ›und‹ durch ›oder‹ ersetzt.“ Sieg auf der ganzen Linie.
Nämlich auf der andern. Die lachen sich ins Fäustchen. Die paar Tage, in denen dieses finstere Werk überhaupt dem ›Volk unterbreitet‹ ist, gehen rasch vorüber, und mit vollen Mappen und zufriedenen Mienen verlassen die Vertreter der Bürokratie das Schlachtfeld, auf dem kaum gekämpft worden ist. Ihre Scheuern sind voll. Ein paar Brocken hat auch die Opposition zugestanden bekommen, denn dem Ochsen, der da drischet, soll man das Maul nicht verbinden.
Der Kuhhandel: hie Todesstrafe – hie Sicherungsverwahrung ist eine Schande. Die arbeitenden Massen, die Angestellten, die oppositionellen Politiker, die Pazifisten – sie alle sollen wissen, was ihnen blüht. Die lebenslängliche Deportation ins eigne Land.
Mit diesem Gesetz kann jeder Esel regieren; wie sollte Leipzig damit nicht fertig werden! Gibt sich die Sozialdemokratie zu diesem Schimpf her, so hat sie damit das letzte, mögliche Maß überschritten, das ihr auch der Nachsichtigste einräumen kann.
Wir andern aber stehen gegen einen Versuch auf, dessen Autoren selber mit Sicherungsverwahrung zu strafen sind, und zwar mit der umgekehrten: das Betreten öffentlicher Gebäude hat diesen Männern untersagt zu sein.
Die herrschende Klasse schmiedet sich eine Kette, die ein neues Patent darstellt: man kann sie beliebig verlängern, verkürzen, verstärken – wie man sie braucht. Schlagt diese Kette in Stücke! Nieder mit Kahl! Nieder mit der Sicherungsverwahrung –!
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4.12.1928, Nr. 49, S. 838.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 326 ff.
Da stehn die Werkmeister – Mann für Mann.
Der Direktor spricht und sieht sie an:
„Was heißt hier Gewerkschaft! Was heißt hier Beschwerden!
Es muß viel mehr gearbeitet werden!
Produktionssteigerung! Daß die Räder sich drehn!“
Eine einzige kleine Frage:
Für wen?
Ihr sagt: die Maschinen müssen laufen.
Wer soll sich eure Waren denn kaufen?
Eure Angestellten? Denen habt ihr bis jetzt
das Gehalt, wo ihr konntet, heruntergesetzt.
Und die Waren sind im Süden und Norden
deshalb auch nicht billiger geworden.
Und immer noch sollen die Räder sich drehn …
Für wen?
Für wen die Plakate und die Reklamen?
Für wen die Autos und Bilderrahmen?
Für wen die Krawatten? die gläsernen Schalen?
Eure Arbeiter können das nicht bezahlen.
Etwa die der andern? Für solche Fälle
habt ihr doch eure Trusts und Kartelle!
Ihr sagt: die Wirtschaft müsse bestehn.
Eine schöne Wirtschaft!
Für wen? Für wen?
Das laufende Band, das sich weiterschiebt,
liefert Waren für Kunden, die es nicht gibt.
Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug
sacht eure eigne Kundschaft kaputt gemacht.
Denn Deutschland besteht – Millionäre sind selten –
aus Arbeitern und aus Angestellten!
Und eure Bilanz zeigt mit einem Male
einen Saldo mortale.
Während Millionen stempeln gehn.
Die wissen, für wen.
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 27. Januar 1931, Nr. 4, S. 123
Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1931, S. 250.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 9, S. 121-122
Es kommt in der Politik nicht dar-
auf an, wie eine Sache ist; es
kommt darauf an, wie sie wirkt.
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4. Februar 1930, Nr. 6, S. 198.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 75 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 38 ff.
Du hast mir mal im Sommer geschrieben, was es denn nur mit dem ‹Simplicissimus› wäre, und es wäre doch ganz erschröcklich. Ich habe mir also das Blatt genau angesehen und schließlich an den Herrn Redakteur geschrieben. Von dieser Korrespondenz gebe ich Dir Kenntnis – bitte schicke sie mir nach Lesung zurück.
Ersterscheinung: Vossische Zeitung, 21. Januar 1928
Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928, S. 58 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 31 ff.
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4. März 1930, Nr. 10, S. 351.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 125 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 60 ff.
Für Hans M.
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 3. März 1925, Nr. 9, S. 315.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1925, S. 126 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 4, S. 51 ff.
Wenn sie sanken, wenn sie lagen,
wurden sie halbtot geschlagen;
mancher, wenn sein Krafthieb saß,
scherzte: „Hure, Saustück, Aas!“
Greise haut man über ’n Kopp;
rote Suppe … na und ob.
Leidet’s Kinder, gebt nicht acht –
wenn ihr man Geschäfte macht!
Die Agrarier
…
Das rafft sich aus des Lebens Schüssel
Und nimmt sich, ohne lang zu schauen
Und will nicht erst ästhetisch kauen
Und trägt die Seligkeit im Rüssel.
Und was euch andre sagen mögen –
So einfach ist ihr ganzes Wesen!
Sie wünschen ohne Federlesen
Allein zu sein an vollen Trögen.
Nichts von Ideen, Interessen!
Nichts in das Allgemeine schweifen,
Nichts Unbegreifliches begreifen
Nein, weiter nichts als einfach fressen.
Und steht das Futter bis zum Rande,
Beginnt’s wohl einem aufzustoßen,
So nebenbei ein Wort vom großen,
Von unserm teuren Vaterlande.
Doch wie ich dieses Hundsvieh kenne,
hilft alles nichts:
das Luder beißt!
Ersterscheinung: Dresdner Volkszeitung, 14. Mai 1912, Nr. 110.
„Ich, Ignaz Wrobel, liebe es, den Schaffner auf dem Omnibus zu betrügen, dann fahre ich umsonst. Ich bin jähzornig: ich habe schon zweimal meinen Bademantel zerrissen, um ihn zu strafen; Krawatten zerschnitten; ein Glas auf den Boden hingefeuert. Ich kann kein Blut sehen. Doch: ich kann Blut sehen, von Tieren. Ein merkwürdiges Gefühl – nicht angenehm; eigentlich doch angenehm, ich traue mich nicht, das zu sagen: doch angenehm. Ich habe häufig zwei Frauen geliebt, sie wußten nichts voneinander, aber ich wußte. Einmal habe ich nachts um ein Uhr eine merkwürdige Anwandlung gehabt: ich lag neben Conrad auf dem Sofa, wir sprachen von Frauen, da begann ich zu zittern, ich wollte ihn anrühren. Ich habe es nicht getan – ich hatte Angst vor der Lächerlichkeit, vor nichts anderm. Ich träume mitunter blutige Begebenheiten. Ich esse unregelmäßig – manchmal tagelang nichts – dann unmäßig. Ich bin unsolide – ich habe nur Angst vor Krankheiten, sonst spräche ich mindestens alle paar Tage ein Mädchen auf der Straße an. Ich bin feige und tückisch: ich habe meinem Vetter Tinte in seinen neuen Hut gegossen, der Mutter ein Spitzentaschentuch zerrissen – nachher, mit dem harmlosesten Gesicht: ‚Keine Ahnung. Donnerwetter … ganz zerrissen! Das ist hin!’ – Ich höre gern zu, wenn sich Menschen lieben. Auch, wenn sie sich schlagen. Ich lüge um der Lüge willen, mit Herzklopfen, ob es herauskommt. Meist kommt es nicht heraus. Ich kann ganz gut lügen. Ich hasse meinen Vater. Ich habe als Junge mit meinem Bruder zu tun gehabt und ihn hinterher furchtbar prügeln wollen, aber er war stärker. Ich lebe unregel … das sagte ich schon. Was ist das alles?“
„Nichts Besonderes. Sehen Sie sich um –: solchen kleinen oder großen Packen trägt jeder, jede, jeder mit sich herum … alle tragen ihn. Sie haben einen seelischen Buckel, dessen sie sich schämen. So nackt sich auch einer auszieht –: den zeigt er Ihnen nicht. Meist nicht einmal sich. Es ist nichts Besonderes.“
„Es ist nichts Besonderes –? Ich habe nichts zu fürchten –?“
„Es ist nichts Besonderes. Sie haben nichts zu fürchten. Wenn Sie nicht –“
„ –?“
„Wenn Sie nicht vor Gericht stehen. Wenn nicht irgendein schwerer Verdacht auf Sie fällt wegen einer Tat, die Sie bestreiten. Dann …“
„ –?“
„Nun … dann wandeln sich diese Tatsachen, die Sie mir eben erzählt haben, in etwas andres. Dann sind es nicht mehr die Anomalien, die jeder Richter, jeder Staatsanwalt, jeder Geschworene, jeder Schöffe im Keim bei sich fühlen könnte, wenn er nur ehrlich sein wollte. Dann, Bauer, ist auf einmal alles ganz anders.“
„Was … was ist dann -? Wenn es aber alle haben?“
„Im Salon des Gerichts gibt es dergleichen nicht. Da spielen sich alle ein Leben vor, das sie nicht haben; eine Moral, die sie nicht besitzen; eine Reinheit, deren kein Mensch fähig ist. Kinder in Sonntagsanzügen begreifen auf einmal nicht, wie es Schmutzflecke auf der Welt geben kann. Da sind diese kleinen Züge plötzlich etwas Neues –“
„Und was –?“
„Indizien, Herr Wrobel.“
Wieder in: Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen. Montiert von John Heartfield. Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1929
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928, S. 664 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 297 ff.
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