8.1.2005

Tucholsky-Abend in Hamburg

Am 9. Januar 2005 wäre Kurt Tucholsky 115 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass wiederhole die Schauspielerin Christel Lohse ihren Tucholsky-Abend, schreibt das Hamburger Abendblatt in einer kurzen Meldung. Da die Meldung alle wichtigen Angaben für potenzielle Besucher enthält, kann man darüber hinwegsehen, dass die Überschrift so klingt, als würde Tucholsky bei der Hommage selbst vorbeikommen.

7.1.2005

Zum Glück nur fast

Die Süddeutsche Zeitung präsentiert den neu erschienenen Band über den französischen Germanisten Robert Minder (1902-1980). Laut SZ war Minder

zu seiner Zeit eine der wichtigen Brücken zwischen Frankreich und Deutschland. Er gründete schon 1923 als Student an der Ecole Normale Supérieure eine Gruppe, die deutsche Intellektuelle wie Kurt Tucholsky, Heinrich Mann, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Walter Mehring nach Frankreich einlud und Lebensmittel an hungernde Kinder im Ruhrgebiet versandte.
Hartmut Kaelble: „Der Vermittler“. In: SZ, 7.1.2005, S. 14

Im Falle Tucholskys und Mehrings waren diese Einladungen allerdings überflüssig, schließlich lebten sie in den zwanziger Jahren ohnehin in Paris. Tucholsky berichtete am 11. Februar 1926 an die Schauspielerin Kate Kühl, dass er „etwa 40 Vorträge gehalten“ habe. Meistens war er von der „Ligue des Droits de L`Homme“ eingeladen worden. Wie Vorträge von Thomas Mann und Alfred Kerr auf das Pariser Publikum wirkten, schilderte Tucholsky in dem Artikel „Deutsche Woche in Paris“. Darin heißt es:

Sehr bezeichnend ist das Publikum dieser pseudopazifistischen Veranstaltungen. Was sofort auffällt, ist der fast vollkommene Mangel an Jugend. Wo ist die -? Auf der andern Seite. Aber wäre ich zwanzig Jahre: ich ginge auch dorthin, wo etwas getan wird, wo Schwung sitzt, Kraft, Aktion, blutgeschwellte Adern. Wenn man in der Liebe stets zwanzig Jahre ist, dann ist man in der demokratischen Politik immer hundert. Manche werden gleich so geboren.
„Deutsche Woche in Paris“. In: Die Weltbühne, 9.2.1926, S. 206

Vielleicht war Robert Minder einer der Gründe für das Wörtchen „fast“ im zweiten Satz des Zitates.

6.1.2005

Was Wotan weihen wolle

Die Germanistin Anette Schaumlöffel hat sich nach Angaben ihres Verlages Random House während ihres Studiums mit nordischer Mythologie und Kurt Tucholsky beschäftigt. Herausgekommen ist dabei keine trockene Abhandlung über „Das Verhältnis Kurt Tucholskys zu den völkischen Bewegungen unter besonderer Berücksichtigung des Gedichtes ‚Olle Germanen'“, sondern ein „herrlicher Gesellschaftsroman im Fantasy-Pelz“ (Nautilus). „Die vergessenen Götter“ heißt das Buch, in dem laut Klappentext die junge Kölner Assistentin Ariane „eine verheißungsvolle Männerbekanntschaft“ macht, bei der es sich in Wahrheit um Gott Odin handelt. Was das Ganze vielleicht doch mit Tucholsky zu tun haben könnte, hat auch die taz in ihrer Rezension nicht herausfinden können.

2.1.2005

Die Mühen des Patriotismus

Die taz beschäftigt sich in ihrer Silvesterausgabe 2004 auf zwei Seiten mit den „Mühen des Patriotismus“. Wenn es um die Themen Deutschland und Heimat geht, darf eine Erwähnung von Tucholskys Buch „Deutschland, Deutschland über alles“ – und insbesondere des abschließenden Textes „Heimat“- nicht fehlen. Christian Semler, der gerne mal ein paar Verse als Tucholsky-Zitat ausgibt, die gar nicht von „Tucho“ (Christian Semler) stammen (im Falle Tengelmann von Victor Arnold), hat dieses Mal richtig in den Text geschaut:

„Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt … nein, wer gar nichts andres spürt, als daß er zu Hause ist; daß das da sein Land ist, sein Berg, sein See – auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt … es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land.“
Aus: Heimat. In: Deutschland, Deutschland über alles. Berlin 1929, S. 227.

In seinem Kommentar „Auf vertrautem Boden“ zieht Semler daraus den Schluss, dass Tucholsky die deutschen Landschaften nur „menschenleer“ geliebt habe. Zwischen den Bewohnern des Landes, auch wenn es sich um „gute“ Deutsche wie „Kommunisten, Sozialisten, Freiheitsliebende aller Grade“ handele, und den Landschaften stelle Tucholsky keine Verbindung her. Semler hält eine solche Liebe zwar für „wenig human, aber durchaus vorstellbar“.

Was ist das Sudelblog?

„Sudelbuch“ nannte der deutsche Schriftsteller und Journalist Kurt Tucholsky sein Notizbuch, das er von 1928 bis 1935 mit sich führte. In Anlehnung an die „Sudelbücher“ von Georg Christoph Lichtenberg notierte Tucholsky darin eigene Beobachtungen und sprachliche Einfälle, aber auch Bemerkungen und witzige Äußerungen anderer Personen.
Der letzte Eintrag im „Sudelbuch“, kurz vor seinem Tod am 21. Dezember 1935 aufgezeichnet, war die berühmte Treppe:

Eine Treppe

In diesem Sudelblog soll notiert werden, wo und in welchem Zusammenhang Tucholsky in den Medien zitiert oder sein Leben und Werk besprochen werden. Die Hinweise auf diese Fundstellen werden nach Möglichkeit mit Angaben zur exakten Zitatstelle und zur Entstehung des Originaltextes ergänzt. Gelegentlich werden mit Tucholsky-Zitaten auch aktuelle politische Ereignisse kommentiert.
Sudelblog.de ist daher eine Art literarisches Medienblog für Tucholsky-Fans.


Aus dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm:

SUDELBUCH, n., buch, in welches man die erste nachlässige fassung eines später sorgfältig abzuschreibenden textes schreibt, kladde, besonders die geschäftskladde des kaufmanns: sudelbuch adversaria, libellus collectaneorum, ein buch darein man täglich schreibet, sudel oder kleckbuch GOLIUS onom. (1585) 149; adversaria, rapulatus oder sudelbuch oder papier, darinn man etwas ohne ordnung auffzeichnet und rapuliret, das nachmals mit fleisz wirdt abgeschrieben HEUPOLD dict. (1620) 14, vgl. STAUBTOBLER 4, 993: strazze, in der handlung, das sudelbuch, wie kladde VOIGT hwb. f. d. geschäftsführ. (1807) 2, 466; nach Lichtenbergs beispiel habe ich mir ein sogenanntes wastebook (sudelbuch) angeschafft PLATEN tageb. 1, 509, vgl. LICHTENBERG verm. schr. 1, XIX; entsprechend 2sudeln 3 e auf den inhalt gedruckter bücher bezogen: ich weisz, Stöcklein, dasz sie an das schnelle dahinfahren und versterben der sudelbücher (der minderwertigen bücher) sich am wenigsten stoszen JEAN PAUL 37, 66 Hempel; woher haben sie denn das abgeschrieben, aus welchem sudelbuche? LASSALLE red. u. schr. 2, 451.

1.1.2005

V.i.S.d.MDStV.

Friedhelm Greis
c/o Borsig,
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2.1.2004

Originaltexte

Folgende Originaltexte und -briefe von Kurt Tucholsky sind bislang auf www.sudelblog.de dokumentiert worden:

Originaltexte anderer Weltbühne-Autoren finden sich hier.

1907

1912

1914

1918

1919

1922

1924

1925

1926

1928

1929

1930

1931

1932

1934

1935

Originaltexte von Weltbühne-Autoren

Alfred Behne

Helmut von Gerlach

Siegfried Jacobsohn

Georg Metzler (Richard Witting)

1.1.2004

Wie mache ich mich unbeliebt?

Da gibt es nun mehrere Mittel. Man kann einer Dame, die man ein Jahr nicht gesehen hat, sagen, man habe sie sofort wiedererkannt, und, wenn sie fragt, woran, antworten: „An Ihrem Hut, gnädige Frau!“ – Man kann in einer Gesellschaft, wo der Hausherr Stahlhelmvorsitzender ist, die Sowjets loben und außerdem dreimal von der Käsetorte nehmen. – Man kann eine junge Frau, die man nicht kennt und die in Umständen ist, fragen, wann sie denn zu heiraten gedächte … Aber damit verschnupft man immer nur einen kleinen Kreis von Leuten, und das ist nicht das Richtige. Wenn man ganz sichergehen will, gleich eine ganze Kompanie auf Jahre hinaus zu verärgern, dann braucht man nur Witze über einen Stand zu reißen. Man tue es – gehe aber unmittelbar nach Begehung des Delikts außer Landes.
Du darfst auf den Grafen von Henning sagen, er sei ein Ritter von der traurigen Gestalt. Du darfst auf den Postschaffner Krause sagen, er malträtiere seine Frau und verprügele sie jeden Abend mit einem (neuen) Plätteisen. Du darfst auf den Kaufmann Lämmle sagen, er sei ein böser Pedant. Darüber wird zu reden sein. Wenn du aber auf alle Grafen, auf die Postschaffner und auf den Kaufmannsstand etwas sagst – und nun gar etwas Lustiges –: dann verteile die Güter dieser Erde – Anzüge, Blumentöpfe und Zeitschriftenabonnements – an deine Kinder; ordne deine Schulden – Miete, Effekten und Zeitschriftenabonnements – und entwetze. Dein Leben ist verwirkt.
Denn nichts ist so groß wie die Gruppeneitelkeit.
Nun ist ja verständlich, daß sich eine wirtschaftliche oder geistige Gruppe gegen die Beleidigungen anderer schützt. Aber schon die Schilderung ihrer Berufseigentümlichkeiten wird mit äußerstem Mißtrauen betrachtet, und Gnade Gott, wenn der Spaß gar etwas in die Einzelheiten geht! Die seligen ›Fliegenden Blätter‹ hatten so ihre traditionellen Heiligtümer: die Zahnärzte, die weinpanschenden Wirte, die Studenten. (Die Schwiegermütter scheiden aus – es gab damals noch keinen Reichsverband Deutscher Schwiegermütter e. V.) Ich möchte heutzutage nicht Fliegenderblätterredakteur sein – es regnete wahrscheinlich Boykotts, Beleidigungsklagen und Kontrahagen aller Art. Hier ist ein großes Tabu.
Schade. Denn die Aufgabe eines modernen Humoristen wäre eben nicht, sich spaßige Einzelfälle auszudenken, sondern den Querschnitt zu ziehen, die ungeheure Gleichheit, hervorgerufen durch die Zivilisation, aufzuzeigen, die vollkommene Kongruenz selbst in den Gefühlen, die absolute Übereinstimmung aller Wesen unter gleichen wirtschaftlichen Bedingungen.
In Amerika ist diese Art von Humor viel verbreiteter. Ich weiß nicht, woran das liegt: ob die Leute da mehr Spaß verstehen, ob sie empfänglicher für diese Selbstironie sind – jedenfalls lebt der Humor Stephan Leacocks durchaus davon (die Leser der ›Vossischen Zeitung‹ kennen Arbeiten dieses Schriftstellers). Hier liegt die wirkliche Komik unserer Zeit.
„Ja, Sie dürfen aber nicht verletzend wirken –!“ Nachmachen verletzt immer. Das wissen schon die Kinder, wenn sie beim Spielen den Murmelpartner bis zur Erschöpfung damit ärgern, daß sie ihn nachahmen. Und es trifft immer ein bißchen schmerzlich, wenn man gut nachahmt, wenn man ›echt‹ kopiert. Bei uns darf man es gar nicht.
Natürlich hat jede Gruppe ihre besonderen Eigentümlichkeiten, ihre Eigenheiten, ihre lächerlichen Seiten. Hier ist nicht die Rede von ihren wirklichen Fehlern – sondern gerade von der Komik ihrer Betätigung, von dem eigentümlichen Humor, der immer entsteht, wenn Leute eine Sache ihr ganzes Leben lang immer wieder tun. Da ist keiner ausgeschlossen: die Buchhalter nicht und nicht die Redakteure, die Ärzte nicht und nicht die Modekaufleute, nicht die Schalterbeamten, die Bankiers und die Telegrafenbauuntersekretäre.
Beim Schutzmann gesteht man dem Spaßmacher gewisse Rechte zu. Bei der Marktfrau auch noch. Beim Bürokraten auch. Beim Schieber. (Je verwaschener der Begriff, desto weniger stößt man an.) Beim – ja, bei wem? Beim andern.
Denn bei jedem Gruppenspaß sagt der Angehörige der Gruppe unfehlbar: „Das ist generalisiert. Das mag’s ja vereinzelt geben. Aber ich bin jetzt dreißig Jahre in meinem Beruf – bei mir gibt’s so etwas nicht. Das ist eine Karikatur.“ Krach, grobe Briefe, Rechtsanwalt, Protest, beleidigt.
Anders ist’s mit Charakterisierungen von vorübergehenden Gruppen. „Der Reisende“ – das ist erlaubt. So hat L’Europe Novelle in ihrem Septemberheft eine reizende kleine Schilderung von Francis de Miomandre Kleiner Katechismus des Reisenden, wo er sich über alles lustig macht: über den Reisenden, die Reisende, die großen Schrankkoffer, in denen durch die Treffsicherheit der Gepäckträger alles durcheinanderpurzelt; er zieht über das Meer, den Wald und das Gebirge her, jeder Absatz hört immer auf: „Im allgemeinen ist es dort mächtig kalt“ – ja, das darf er alles. Sobald er aber präzise, konkret und genauer wird, dann geht’s schief.
Dahinter liegen ganz ernsthafte soziologische Fragen verborgen – ich weiß wohl. Aber man sollte doch etwas weitherziger sein. Denn der Humor der Einzeltypen, der Individuen, der schrulligen Sonderlinge ist dahin und vorbei. Was heute gilt, ist die Komik des Typus.
Die Komik des ärztlichen Sprechzimmers, die Komik der Sekretärin, des Delikateßwarenhändlers, des Portiers, des Ministerialdirektors, des Schriftstellers, der Studentin – ein scharfer Beobachter, der da aus Hunderten von gut gesehenen Typen den Typ herausschält –: der ist, wenn er auch noch Humor hat, ein Humorist. Und man sollte es ihm nicht so verdenken. Besinnen Sie sich auf diese Komiker, die manchmal auf dem Varieté eine Kammerzofe nachahmen, mit den Bewegungen, die alle Zofen haben? Denken Sie an Chaplin, der sämtliche Handwerke der Welt erfühlt hat und die allzu leichten, vor Mühelosigkeit ein bißchen gezierten Handhabungen eines Friseurs ebenso kopiert wie einen Mixer, der mit seinen Flaschen herumwirtschaftet. Darin ist schon leise Parodie, überlegener Humor, vielleicht Kritik.
Dem Satiriker gab ein Gott zu sagen, was sie treiben. Man kann ja nun nicht gerade verlangen, daß der Großpapa, dem der Enkel einen kleinen Flitzbogenpfeil in die hintere, untere Schlafrockseite bohrt, dem guten Kind auch noch einen Bonbon gibt. Aber nicht gleich aufspringen und mit harten Gegenständen werfen. Die Würde muß es sich gefallen lassen, daß sie manchmal am Bart gezupft wird. (Auch Bartlose haben einen Bart, mitunter.)
Denn die moderne Sorte Humorist muß heute noch mit einem Schutzpanzer umhergehen:
Gute Leute! Nicht schießen!

Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Vossische Zeitung, 2. Oktober 1924, Nr. 468.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1924, S. 253 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 10, S. 158 ff.

Etwas vom Humor

Beim alten Schopenhauer steht, wie alles, so auch das: »Denn näher betrachtet, beruht der Humor auf einer subjektiven, aber ernsten und erhabenen Stimmung, welche unwillkürlich in Konflikt gerät mit einer ihr sehr heterogenen, gemeinen Außenwelt, der sie weder ausweichen, noch sich selbst ausweichen kann; daher sie zur Vermittlung versucht, ihre eigene Ansicht und jene Außenwelt durch die selben Begriffe zu denken, welche hierdurch eine doppelte, bald auf dieser, bald auf der andern Seite liegende Inkongruenz zu dem dadurch gebrachten Realen erhalten, wodurch der Eindruck des absichtlich Lächerlichen, also des Scherzes entsteht, hinter welchem jedoch der tiefste Ernst versteckt ist und durchscheint. Fängt die Ironie mit ernster Miene an und endigt mit lächelnder, so hält der Humor es umgekehrt.« Das ist keine Kathederdefinition eines Pedanten, sondern die tiefste Erkenntnis eines Stoffes, der alle lachen und so wenige nachdenken macht. Das ist seine Erklärung. Das ist Humor.

Die nordischen, die germanischen Völker haben Humor – die Engländer zum Beispiel einen grotesken (den der ernsthafte Deutsche leicht albern findet, was er aber nicht ist); jener englische Humor macht sich über das menschliche Gehirn und seine Funktionen lustig und schlägt die gedankliche Abstraktion mit der platten Nüchternheit der realen Welt. Das ist nichts Ausgedachtes – jeder gute Clown beweist es immer aufs neue.
Wir Deutschen haben Humor – ja, man kann fast versucht sein, zu sagen, deutscher Humor, das sei fast ein Pleonasmus, so wie deutsche Musik. Und beinahe ist es in der Tat auch so.
Doch haben wir nicht viele Humoristen. (Der oben zitierte alte Herr: »Demgemäß heißt heut zu Tage ein Humorist, was ehemals ein Hanswurst genannt wurde.«) Jeder Humorist ist ein Philosoph, und ein solcher arbeitet nicht schludrig. Gerade er muß das feinste Gefühl für die Form haben, für die Sprache – und er muß nicht nur fühlen, er muß auch arbeiten können. Daher sind in der Kunst die Humoristen so selten.
Nun gibt es aber – wie in der Lyrik – ein Naturburschentum des Humors, das mit Kunst nur sehr mittelbar etwas zu tun hat, insofern sein Niederschlag aufgeschrieben wird wie ein literarisches Kunstwerk auch. In den meisten Fällen wirds aber gar nicht aufgeschrieben.
In Walter Rathenaus »Reflexionen« stehen zwei gute Seiten, auf denen er sagt, daß der Mann des Lebens überhaupt nicht schreibt. (Wenn ers einmal tut, belügt er sich meist.) Er schweigt und lebt. Taut ihm aber einmal die Zunge auf, in einer gemütlichen Kneipstunde um einen runden Tisch herum, am Kaminfeuer, unterwegs auf einer stillen Wanderung zu zweien – dann kommen Köstlichkeiten ans Tageslicht, von denen sich der Literat nichts träumen läßt. Behaglich Tiefgeschautes, lächelnd Beobachtetes, schmunzelnd Festgestelltes. Und abermals: auch das ist Humor.
Wir haben uns der seltenen Fälle zu freuen, wo ein solcher Mann das aufgeschrieben hat, was er sonst – krafterfüllt und auf alles andere bedacht als auf Wirkung – seinen Freunden, mit der Pfeife in den Zähnen, zu erzählen pflegte. Solcher: das ist zum Beispiel Stefan v. Kotze; und was er erzählt hat, heißt »Australische Skizzen« (im Verlage der Täglichen Rundschau in Berlin neu herausgegeben). Stefan v. Kotze ist tot, berühmt ist er nie gewesen. Man darf ihn auch gar nicht literarisch werten; das verträgt er weder, noch kommt man ihm damit einen Schritt näher. Und doch strotzt er von Leben, und doch ist er ein Humorist.
Es sind einfach kleine Skizzen, Geschichtchen, lose Schilderungen Australiens der achtziger und neunziger Jahre. Kotze hat verteufelt wenig von Nationalökonomie und Prinzipien der Geschichte, von Geographie und Geologie gewußt, und vielleicht hat er auch nicht daran »geglaubt«. (Denn mit manchen Wissenschaften ist es wie mit dem Schwimmen: man muß daran glauben.) Er erzählt einfach so hin. Aber was ist für ein Saft und für eine Kraft in diesen kleinen Dingern!
In anekdotengespickten Aufsätzen macht er sich daran, das Leben und Tummeln fremder Menschen im fremden Erdteil zu ergründen. Was ihm sofort und zuallererst auffällt, ist das Getue. (Gustav Wied: »Der Mensch unterscheidet sich vom Tier hauptsächlich durch sein Getue.«) Wie die einfachen Cowboys ihre eingefleischten Sitten haben, wie sie spucken und wie sie sprechen, das hat er ihnen trefflich abgeguckt. Obgleich, nein, weil er von außen kommt, ist ihm die Komik ihrer ernst gemeinten Tätigkeiten aufgegangen. Jahrzehntelang treiben sie ihr Spiel, immer mit denselben Gebräuchen, denselben Worten, denselben Gedankenverbindungen und denselben Regeln. Und dann kommt einer und schöpft die Sahne ab: und wir müssen lächeln. Und spüren bei jedem Wort: das ist humoristisch, weil es so lebensecht ist.
Da ist eine Geschichte von einer Känguruhjagd – mir kullern noch jedesmal die hellen Tränen heraus, wenn ich das lese. Die Sache fängt ganz vergnügt an, die Reiter reiten aus, das Wetter ist gut, das Wild ist da; aber allmählich geht das Ding schief, der »alte Mann«, wie das Känguruh dort genannt wird, boxt beinahe den Herrn Viehstationsvorsteher zu Tode, es wird mit Mühe erlegt, ein Pferd geht durch, eins bockt, und schließlich rast die unvermutete Flut das bisher ausgetrocknete Flußbett herunter und verschlingt: Frühstück, Hunde, wahrscheinlich einen Nigger und die Hoffnung aufs Nachhausekommen. Und wie nun alles in die Binsen gegangen ist, wie auch nicht eine Sache bei dem ganzen Jagdausflug geklappt hat, da – »Der Vorsteher blickte wehmütig auf das wirbelnde Wasser. Dann drehte er sich langsam im Sattel um und sagte, ehrfurchtsvoll seinen Hut hebend: ›Gott segne dieses Land!‹« Das ist Humor.
Und es gibt eine andere Geschichte von einem, der von einem Baum halb totgeschlagen wurde, aber eben nur halb, und er warf seinen Lasso nach seiner Flinte, die ein paar Fuß davon lag, und er bekam sie nicht. Und dann kamen die großen Ameisen … Und so fanden sie ihn denn. Der Kutscher, der Kotze das erzählt, zeigt ihm auch das Grab. Und Kotze liest: »›Tantalus. 15.12.1890.‹ ›Tantalus?‹ wiederholte ich erstaunt. Der Alte schmunzelte. ›Und da ich ihn nicht selbst kannte, so schnitt mein Passagier das ausländische Wort da in die Rinde. Das wäre sein Familienname, sagte er. Aber er grinste dabei, und ich glaube, er hat mich aufziehen wollen. Haben Sie je so einen Namen gehört?‹ setzte er hinzu, mit der Peitsche knallend. Ich klammerte mich vorbereitend an die Lehne meines Sitzes. ›Ja‹, antwortete ich leise. ›Das ist sogar eine sehr weit verbreitete Familie.‹« –
Wem es da nicht den Buckel herunterläuft, dem ist nicht zu helfen. Und auch dies ist Humor.
Und Humor ist es, die tausenderlei Arten des Fluchens (im Englischen eine Art Eintrittbillet für das Fegefeuer) so pedantisch und scheinbar gewissenhaft zu schildern. »Er fluchte wirklich schön. Und offenbar tat es ihm wohl.«
Und Humor ist es, in all dem herzbrechenden Jammer, den das Wort Australien einschließt – die Menschen quälen sich und rackern sich ab, eigentlich nur, um sich auch weiterhin abquälen zu dürfen -, fast sachlich und bis zum Symbol gesteigert, still den Werdegang eines Buschreiters, eines Arbeiters festzustellen. Der Ritt, den ein Goldwäscher alljährlich mit gefüllter Brieftasche in die Stadt unternimmt, in die Freiheit, aber nicht an der nächsten Buschkneipe vorbeikommt, aus der er am nächsten Tage zerschunden, verkatert und mit leerem Beutel herausfliegt, das ist mehr als eine Allegorie.
Stil hat Kotze gar nicht. Wenn er bewußt spaßig sein will, erinnert er an den barocken Humor der Romantiker – aber das ist nichts. Am lustigsten bleibt er, wenn er so schnoddrigkoddrig seins hinschreibt, wie ihm der Schnabel wuchs. »Bewaffnet war er mit einem penetranten Geruch.« Oder von einem Wasserloch, in dem ein toter Ochse liegt, getrunken wird aber doch draus: »›Geben Sie mal den Topf her!‹ Der Squatter nahm das Geschirr, stieg in das Loch hinab und holte sich eine Quantität des flüssigen Düngers heraus, gerade wo ehemals der Magen des Seligen gewesen war.« Wer sich so über eine verdammte Mühsal lustig machen kann, der hat Humor.
Und Kotze war ein Mann. (Es gibt noch so einen unter den Weltenbummlern; ja nicht Hännschen Heinzchen Ewerschen, diesen Poseur der Roheit. Ich meine den Reichsfreiherrn Eugen v. Binder-Krieglstein, der sich zu Beginn des Krieges erschossen hat. Seine beiden Bücher sind im Verlage von Egon Fleischel erschienen. Sie heißen: »Zwischen Weiß und Gelb« und »Im Lande der Verdammnis«.) Kotze war ein Mann und erkannte das, was in ihm war, auch bei anderen: die Kraft. Und er kannte die Frauen – nicht so die Damen, aber das Weib. Allein den Satz »Hysterie ist keine Romantik, selbst bei einem Backfisch nicht!« – den kann man sich nicht ausdenken, den muß man aus einem ganzen Leben herausdestillieren.
Er war ein Mann, und er sah. So, wenn er von dem überflüssigen Missionswesen spricht, von der Wilhelmstraße und dem berliner Assessor (ein schmerzliches Thema!) – so, wenn er vorausschaut, welch ein großer Kampf sich einmal am Stillen Ozean abspielen wird. (Diese Prophezeiung steht auch bei Wilhelm Raabe, in den »Leuten aus dem Walde«.) Er war ein Mann und ein ganzer Kerl mit rotem deutschem Herzblut.
Man hat ihn zu Unrecht mit dem amerikanischen Erzähler Bret Harte verglichen. Das trifft nur die Form – manchmal glaubt man in der Tat, eine Übersetzung aus dem Englischen vor sich zu haben. Aber zutiefst in der Seele war Kotze kein Literat und kein Schriftsteller. Ihm schlug in der Brust das ewig unruhige, nie zufriedene, in Sehnsucht emporverlangende Herz des Deutschen. Und in einer Kammer dieses Herzens: da wohnt der Humor.

Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Frankfurter Zeitung, 23.10.1918.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1918

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