6.10.2005

Journalismus an und für sich

In diesem Jahr reiht sich ein 60. Zeitungsgeburtstag an den anderen. Nach „Berliner Zeitung“ und „Frankfurter Rundschau“ war heute die „Süddeutsche Zeitung“ dran. Und die „SZ“ zeigt der Konkurrenz natürlich, was eine richtige Zeitung ist. Ihre Jubiläumsbeilage umfasst beinahe hundert Seiten, von denen 32 immerhin noch deutschlandweit verbreitet wurden.

Bei so viel Platz lässt sich Journalismus fast aus jedem beliebigen Blickwinkel betrachten. Die politischen Journalisten sind dabei eher für das Grundsätzliche zuständig, – die Möglichkeiten von Journalismus an und für sich. Der Ressortleiter Innenpolitik und Tucholsky-Preisträger Heribert Prantl stellt sich die berechtigte Frage nach der Sinnhaftigkeit des politischen Journalismus. Warum das politische Geschehen kommentieren, wenn selbst Größen wie Tucholsky und Joseph Roth mit ihren Analysen zwar ins Schwarze trafen, aber nichts bewirken konnten? Eine Antwort darauf hat Prantl einmal von einem Feuilletonredakteur erhalten, und man muss vermutlich einer dieser völlig uneitlen Feuilletonredakteure sein, um auf einen solch trivialen Gedanken zu kommen:

Als ich die Frage einmal einem geschätzten Kollegen vom Feuilleton stellte, war dessen Antwort verblüffend. Warum schreibt man einen Kommentar? Antwort: Dass ihn kein anderer schreibt.

Der 2003 verstorbene Herbert Riehl-Heyse befasst sich mit der Frage, wie das „Schreiben im Jahr 2045“ aussieht. Der hypothetischen Antwort nähert er sich dadurch, dass er sich den Journalisten in 40 Jahren vorstellt. Und gerät dabei ins Schwärmen über die gute, alte Zeit:

Sie alle und später Kurt Tucholsky und Karl Kraus, Theodor Wolff und Egon Erwin Kisch, Alfred Polgar und Carl von Ossietzky haben in Zeitungen und Zeitschriften berichtet und kritisiert und sich eingemischt in eine öffentliche Debatte, die ohne Zeitungen überhaupt nicht stattgefunden hätte. Auf diesem Fundament gründet noch heute, was sich an Demokratie und Meinungsfreiheit in Deutschland durchgesetzt hat gegen den Obrigkeitsstaat, der vor nichts so sehr Angst hatte und hat wie vor dem freien Wort.

Riehl-Heyse blendet dabei jedoch aus, die oben genannten Namen alles andere als repräsentativ für den Gesinnungs-Journalismus der damaligen Zeit waren. Daher kann er zu dem folgenden, recht negativen Schluss kommen:

Im Übrigen haben heute die Käuflichen und Feiglinge und Sprachverhunzer auch deshalb mehr Chancen, in den Beruf zu kommen, weil der Bedarf an Journalisten immer größer geworden ist, weshalb der Medienbetreiber vielleicht nicht immer so genau hinschauen kann, wen er sich da ins Blatt geholt hat oder in den Sender.

27.9.2005

Schöne alte Welt

In welch beneidenswerten Paralleluniversen manche Menschen leben, zeigt ein Artikel von Matthias Biskupek über den 100. Geburtstag der „Weltbühne“. Darin erfindet sich der Autor eine Welt, in der die führenden deutschen Tageszeitungen ausführlich jenes Jubiläum gewürdigt haben. Biskupek schreibt in der „Thüringer Allgemeinen“:

Ein solcher Verstand war den meisten der verehrten Kollegen, die sich in diversen Blättern in den vergangenen Tagen über „Die Weltbühne“ verbreiteten, eher nicht gegeben. Alle wussten nämlich – und schrieben es pflichtschuldigst -, dass die Weltbühne bis 1933 eindrucksvoll war, dann von einem gewissen Budzislawski in Prag geleitet worden war, aber von 1946 bis 1993 ein überaus gruseliges Blatt gewesen sein muss, das den Namen „Weltbühne“ nimmer verdient hatte und folglich unerwähnt bleiben sollte.

All diese schreibenden Kollegen in den so gern meinungsführenden Blättern waren mit Spiegel und Bild, mit FAZ und vielleicht ein bisschen taz groß geworden.

„All diese schreibenden Kollegen“ reduzieren sich in der realen Welt leider auf Peter Jacobs und Detlef Jena, die in der „Berliner Zeitung“ beziehungsweise in der „Thüringischen Landeszeitung“ über die „Weltbühne“ geschrieben haben. Und auf den Text von Jena bezieht sich Biskupek offensichtlich, wenn er den Journalismus der DDR-„Weltbühne“ gegen dessen harsche Kritik zu verteidigen versucht. Das gelingt ihm in keiner Weise, denn alle Beispiele und Zitate, die er anführt, machen mehr als deutlich, wie wenig diese Zeitschrift mit ihrem Original unter Jacobsohn, Tucholsky und Ossietzky gemeinsam hatte. Aber zumindest ist Biskupek ehrlich genug, den Grund für seinen Verteidigungsversuch anzugeben: Als „Weltbühne“-Mitarbeiter von 1978 bis 1993 sei er nun mal befangen.

25.9.2005

Der Medienmensch Tucholsky

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft (KTG) hat das Programm ihrer Jahrestagung 2005 veröffentlicht. Die Tagung, die vom 3. bis 6. November in Berlin statt findet, widmet sich dem Medienmenschen Kurt Tucholsky. Mitveranstalter ist die Internationale Hanns Eisler Gesellschaft. Als Referenten konnten unter anderem der Kabarettautor Peter Ensikat und der Vorsitzende der Tucholsky-Stiftung, Fritz J. Raddatz, gewonnen werden. Anmeldungen für die Tagung sind auch online möglich.

Eine Kuriosität am Rande: Wie aus dem September-Rundbrief der KTG hervorgeht, hat „Zeit“-Kolumnist Harald Martenstein seinen geplanten Vortrag über den „Medienmenschen Tucholsky“ wieder abgesagt. Ursache für diese Entscheidung war vermutlich eine Begegnung mit einem KTG-Vorstandsmitglied auf dem Sommerempfang des Rowohlt-Verlages. Wenn man Martensteins Schilderungen in einer Kolumne vom Juli dieses Jahres Glauben schenken darf, hat er sich auf diesem Empfang nicht gerade als Tucholsky-Experte geoutet. Und da er einer weiteren Kolumne zufolge in den vergangenen Monaten sehr stark durch den Wahlkampf in Anspruch genommen war, wollte er diese angeblich so wütende Frau vermutlich nicht noch ein weiteres Mal durch inkompetente Tucholsky-Bemerkungen reizen.

20.9.2005

An der schönen Moselanerin

Sowohl bei der „Netzeitung“ als auch bei „Spiegel Online“ fand sich am Wochenende eine wortgleiche Reisereportage über die weinselige Mosel. Eingeleitet wurde der Text mit einem Zitat Tucholskys:

„Wir soffen uns langsam den Fluss hinunter“, notierte Kurt Tucholsky 1930 auf seiner Moselreise von Trier nach Koblenz. Angesichts der Fülle von Weingütern ist das wahrlich nicht schwer.

Davon abgesehen, dass sich Tucholsky und seine Freunde Jakopp und Karlchen den Fluss hinab, und nicht hinunter gesoffen haben, fand die feucht-fröhliche Moselreise bereits im Oktober 1929 statt. Im Gegensatz zu seiner berühmten Spessart-Wanderung hat Tucholsky über diese Reise nicht in einem größeren Feuilletonstück berichtet. Statt dessen verband er einen Bericht über die Fahrt mit einer wüsten Beschimpfung des Denkmals am Deutschen Eck, die in der Frage gipfelte, wann eine Regierung „einen solchen gefrorenen Mist“ endlich abkarren würde.

Weit weniger politisch war dagegen Tucholsky zweiter Reisetext. Darin bewunderte er die Schönheit einer Moselmaid:

Die Kellnerin nannten wir die ‚Tochter der Legion‘, und sie hieß Marietta. Sie war so schön, daß mir, als ich sie an diesem Nachmittag zum ersten Male sah, die Pfeife ausging; das geschieht alle Jahr nur dreimal: diesmal also in den „Drei Königen“ zu Bernkastel – so schön war sie.
Peter Panter: „Fräulein Marietta“, in: Vossische Zeitung, 19.6.1930

Nachtrag 25.9.2005: Der Reisetext über die Mosel kam vielen Medien offenbar sehr gelegen. Er erschien am 24.9. im „Darmstädter Echo“, der „Thüringischen Landeszeitung“, der „Thüringer Allgemeine“ und der „Ostthüringer Zeitung“. Und der Herbst ist noch nicht vorbei.

19.9.2005

Stretching auf dem Rummelplatz

Wenn irgendwo im Lande Wahlen vor der Tür stehen, wird in den Medien selten darauf verzichtet, aus Tucholskys bekanntester Wahlkampfglosse zu zitieren. Der „ältere, aber leicht besoffene Herr“ torkelt dann wieder durch die Kommentare und gibt sein klassisches Statement zum besten, wonach Wahlen der „Rummelplatz des kleinen Mannes“ seien.

Insofern ist es endlich einmal konsequent, dass ein Journalist sich selbst auf eine solche Tour begibt. Dies wird zumindest in einem Text bei „Spiegel Online“ angekündigt:

Jede Zeit hat ihre Zeugen. Bei Tucholsky war es ein „älterer, leicht besoffener Herr“, der laut über Politik nachdachte. Für uns war Dimitri, ein Einwanderer aus Russland, in der letzten Phase des Wahlkampfs unterwegs. Henryk M. Broder hat ihn exklusiv begleitet.

Im Gegensatz zum literarischen Vorbild ist Broders Zeitzeuge ist somit ein Mensch aus Fleisch und Blut. Außerdem hat er keinen „selbständjen Jemieseladn“, sondern ist stolzer Besitzer einer sieben Meter langen Stretchlimousine. Letztere verschafft Dimitri und seinem Chronisten problemlos Zugang zum Backstage-Bereich der Macht, worin sich leider die Pointe des gesamten Artikels erschöpft. Damit die Leser dennoch was zu schmunzeln haben, hat „Spiegel Online“ geschickterweise das Original Tucholskys beigefügt.

11.9.2005

Recycleberg

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat den 100. Geburtstag der „Weltbühne“ nicht ganz vergessen und liefert in ihrer Wochenendbeilage eine ganzseitige Reportage über Rheinsberg nach. Der Autor des Textes ist Wiglaf Droste, und er fügt darin seine gesammelten Weisheiten über Tucholsky, Rheinsberg und die „Weltbühne“ zusammen. Was bereits hier, oder da, oder auch dort zu lesen war. Drostes diesbezügliche Erkenntnisse lassen sich in drei Sätzen zusammenfassen:

  1. Else Weil war eine viel emanzipiertere Frau als Claudia Roth.
  2. „Tucholsky war ein scharfer Gänger.“
  3. „Politik in Deutschland heißt Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung.“

Für seine nächste Selbstgeißelung möge sich Droste schon vormerken:

  1. Alfred Kerr hat in der „Weltbühne“ keinen einzigen Artikel veröffentlicht.
  2. Die DDR-„Weltbühne“ existierte nicht bis 1990, sondern bis 1993.

9.9.2005

Auch Bush spielt auf der Weltbühne

Es ist schon sehr merkwürdig, an welchen Schlagwörtern die Medien manchmal ihre Artikel aufhängen. Setzte die „Berliner Zeitung“ gestern die Überschrift „Auch Thomas Mann schrieb hier“ über einen Text zum hundertsten Geburtstag der „Weltbühne“, macht es die „Thüringische Landeszeitung“ heute noch ein bisschen bizarrer: „Old Shatterhand auf der ‚Weltbühne'“ steht über der an sich recht schönen Würdigung des Blattes durch Detlef Jena.

Wie der Autor auf den Zusammenhang zwischen der Karl Mayschen Romanfigur und der „Weltbühne“ kommt, ist schnell erklärt: In dem Wikipedia-Artikel über die Zeitschrift werden auch einige der selteneren Tucholsky-Pseudonyme erwähnt, darunter Paulus Bünzly, Theobald Körner und eben jener Old Shatterhand, den Tucholsky zwei Mal verwendet hat. Dass Detlef Jena den Wikipedia-Artikel gelesen hat, ist offensichtlich, hat er sich doch einen Absatz lang sehr stark an der Enzyklopädie orientiert.

Eine solch enge Anlehnung hat Jena eigentlich gar nicht nötig. Denn dass er zu eigenständigen Urteilen und Formulierungen fähig ist, zeigen folgende Passagen:

„Die Weltbühne“ war das anständigste Blatt der Weimarer Republik, weil es, frei von parteipolitischen Intrigen, ein intellektuelles Zukunftsmodell einer praktischen Demokratie in Deutschland entwarf, frei von Nationalismus, Rassismus, Korruption, Vetternwirtschaft, Kriegstreiberei oder sozialer Ungerechtigkeit. (…)
Die ganze Kraft, die antifaschistische Intellektuelle in den Erhalt der „Weltbühne“ investierten, verpuffte im Grunde im Streit um Rechte, Zuständigkeiten oder Empfindlichkeiten bei Herausgebern und Autoren.

7.9.2005

100 Jahre „Die Weltbühne“

Heute vor 100 Jahren, am 7. September 1905, ist in Berlin zum ersten Mal die Theaterzeitschrift „Die Schaubühne“ erschienen. Sie war von 1913 an Tucholskys wichtigstes Publikationsorgan und sollte sich unter seinem Einfluss einem breiteren Themenspektrum öffnen, was 1918 zur Umbenennung in „Die Weltbühne“ führte.

Sollte das Jubiläum nicht Grund genug für die Medien sein, die Zeitschrift kurz zu würdigen? Natürlich nicht, meint das „Altpapier“ der „Netzeitung“, denn schließlich erführen die Medienjournalisten aus der Zeitschrift nichts Neues. Alles schon mal da gewesen: vom Caroline-Urteil über Pressekorruption bis hin zu rein kulinarischen Pressereisen.

Aber wenigstens eine Ausnahme gibt es: In der „Berliner Zeitung“ würdigt Peter Jacobs die Geschichte der Zeitschrift. Dem Artikel allerdings die Überschrift „Auch Thomas Mann schrieb hier“ zu verpassen, zeugt nicht von einer besonders tiefen Kenntnis der Materie. Als müssten sich die Journalisten Jacobsohn, Tucholsky oder Ossietzky hinter einem Schriftsteller verstecken, von dem in der Zeitschrift gerade einmal ein Handvoll Texte erschienen sind. Das klingt so, als würde man die Geschichte Italiens auf die Schlagzeile „Auch Goethe war da“ komprimieren.

Einen anschaulicheren Überblick über die Geschichte der Zeitschrift ermöglicht dagegen eine Ausstellung, die am 10. September im Tucholsky-Literaturmuseum in Rheinsberg eröffnet wird. Die Ausstellung ist bis 13. November 2005 zu sehen. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 9.30 – 12.30 Uhr und 13 – 17 Uhr.



Umschlag der „Weltbühne“ vom 12.3.1929

6.9.2005

Geschminkte Hintern

Ludwig Stiegler ist allgemein dafür bekannt, dass er vor deftigen, bisweilen deplazierten Vergleichen nicht zurückschreckt. Gebildet scheint er ebenfalls zu sein, der Vizevorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Hat er doch dem Sozialexperten Bert Rürup einmal eine Ejaculatio praecox vorgehalten und US-Präsident George W. Bush vorgeworfen, er benehme sich „als sei er der Princeps Caesar Augustus und Deutschland die Provincia Germania“. Dass Stiegler Tucholsky-Zitate kennt, war daher nicht anders zu erwarten. So steht im aktuellen „Spiegel“ denn auch zu lesen (laut Vorabmeldung):

Merkels Konzepte erinnerten ihn an ein Zitat von Kurt Tucholsky. Stiegler: „Man kann den Hintern schminken, wie man will, es wird kein ordentliches Gesicht daraus.“

Dieses Zitat findet sich in der Tat in einem Tucholsky-Text. Im dritten Kapitel von „Schloß Gripsholm“:

„Hast du das gesehn, Karlchen“, sagte ich; „der Alten haben sich richtig die Haare gesträubt! Ich habe so etwas noch nie gesehn …“ – „Man kann den Hintern schminken, wie man will“, sagte Karlchen, „es wird kein ordentliches Gesicht daraus. Die Frau …“ – „Still!“ sagte die Prinzessin.

Aber ob das Zitat deswegen auch von Tucholsky stammt? Stiegler scheint es so gut zu gefallen, dass er in den vergangenen Jahren regelrecht hausieren damit gegangen ist. Und meistens gab er einen anderen Urheber an:

Es ist eine einzige Maskerade für den Sozialabbau, den die CSU betreiben will. Aber mit Georg Christoph Lichtenberg kann man dazu nur sagen: „Man kann den Hintern schminken, wie man will, es wird nie ein ordentliches Gesicht daraus.“

31.8.2005

Friedliche Wahl-Kampagnen

Nichts sollte einem für gewöhnlich ferner liegen, als für die „Bild“-Kolumnen des früheren FAZ-Herausgebers Hugo Müller-Vogg Partei zu ergreifen. Bei dem aktuellen Beitrag zu „Berlin-Intern“ liegt die Sache dagegen anders. In diesem Falle liefern sich Müller-Vogg und die SPD-Granden Erhard Eppler, Egon Bahr und Hans-Jochen Vogel einen bizarren Streit darüber, wie und warum manchen Leuten der Friedensnobelpreis verliehen wurde.

Der Hintergrund: Die vergangene Woche verbreitete Meldung, wonach Bundeskanzler Gerhard Schröder für den Friedensnobelpreis nominiert worden sei, hat Müller-Vogg zu einem kleinen historischen Ausflug animiert. Nach dem Motto: „Ja, ja, wir wissen schon, wie eine solche Nominierung zustande kommt“, insinuiert er zunächst, dass der Schriftsteller und bekennende Schröder-Fan Günter Grass da wohl seine Hände im Spiel hatte. Um diese „Unterstützer-These“ zu belegen, erinnert er darin, dass es auch für Willy Brandts Nominierung prominente Fürsprecher gab. Und es bleibt nicht unerwähnt, dass Brandt aktiv daran beteiligt war, Mitte der 1930er Jahre das Nobelpreiskomitee dazu zu bewegen, den Preis dem KZ-Häftling Carl von Ossietzky zu verleihen.

Gegen diese Darstellung wehrt sich nun die SPD. In einem „offenen Brief“ Brief an „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann bezeichnen Bahr, Eppler und Vogel die Kolumne als „schändliches Schmierenstück“, in dem Brandt und von Ossietzky nachträglich „diffamiert“ würden. Und warum?

Willy Brandt ist von der Entscheidung des Komitees im November 1971 genauso überrascht worden wie seine engsten Mitarbeiter. ‚BILD‘ kennt die festgelegten Prozeduren der Nominierung, von denen natürlich nicht zugunsten von Deutschen abgewichen wird.

Kaum anzunehmen, dass Bahr, Eppler und Vogel selbst glauben, was sie da geschrieben haben. Wird ein Mensch etwa dadurch diffamiert, dass sich andere für ihn einsetzen? Im Gegenteil. Die verdeckte Nobelpreiskampagne für Ossietzky war wohl eine der bewundernswürdigsten Leistungen der deutschen Exil-Literaten. Und selbst Brandt räumte in einem Vorwort zu einer Ossietzky-Biographie ein:

Bei dieser „Kampagne“ ging es uns 1935/36, am Beispiel Ossietzkys, um das Schicksal der politischen Gefangenen. Es ging uns auch um die Entlarvung einer wahnwitzigen Politik, die zum Krieg führen musste. Es war nicht leicht, dafür Gehör zu finden.
Hermann Vinke: Carl von Ossietzky. Mit einem Vorwort von Willy Brandt. Hamburg 1978, S. 4

Auch im Falle Brandts dürfte es einigen Menschen darum gegangen sein, an dessen Beispiel eine friedensfördernde Politik zu unterstützen. Und vielleicht mag das sogar bei Schröders Nominierung zutreffen.

Die Kampagne für Ossietzky ging im wesentlichen auf den „Freundeskreis Carl von Ossietzky“ zurück, dem rund 20 deutsche Emigranten und nicht-deutsche Helfer angehörten. Die meiste Arbeit im Hintergrund leisteten aber die drei Frauen Hedwig Hünicke, Hilde Walter, Milly Zirker sowie Konrad Reisner. Auch Tucholsky beobachtete die Kampagne aufmerksam, wie folgende Briefausschnitte zeigen:

Die Nobelpreis-Aussichten für jenen scheinen vorhanden. Ich habe kräftig nachgestoßen.
7.10.1934

Die Tatsache, daß er für den Nobelpreis vorgeschlagen worden ist, soll einen „Übergriff niederer Instanzen“ bisher verhindert haben – andererseits ist die Gefahr gewachsen, weil er ihn nicht bekommen hat. Kameraden sollen ihm in der aufopferndsten Weise geholfen haben, aber das ist für sie selbst gefährlich.

Über den Nobelpreis werde ich nichts sagen und kaum etwas schreiben – darauf hat keiner einen Anspruch, und es erscheint mir als ein Denkfehler, die Kommission zu beschimpfen, die ihm den nicht gibt – natürlich aus Feigheit nicht gibt, was die Norweger auch ganz deutlich sagen. Aber diese Kritik gefällt mir nicht, wenn sie von mir kommt.
19.12.1935

Tucholsky sollte die Verleihung des Preises nicht mehr erleben. Seine letzte publizistische Anstrengung bestand darin, Knut Hamsun in norwegischen Medien schärfestens dafür anzugreifen zu dürfen, dass dieser sich abfällig über Ossietzky geäußert hatte. Aber selbst das blieb ihm verwehrt.

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