Schloß Gripsholm und das Rätsel des Polysandrions
Es ist 80 Jahre her, dass Tucholsky seine Sommergeschichte Schloß Gripsholm veröffentlichte. Seine Leser führte er darin in mancher Hinsicht an der Nase herum. Der Briefwechsel mit Verleger Rowohlt? Glatt erfunden. Übernachtung im Schloss? Dichterische Freiheit. Und seine Prinzessin, die Sekretärin Lydia? Die gebe es »nun aber gar nicht«, schrieb Tucholsky einst an einen Leser und schob seufzend hinterher: »Ja, es ist sehr schade.« Eine Episode jedoch, die der reinen Fantasie des Autors entsprungen zu sein schien, ist aber viel realer als jahrzehntelang geglaubt. Auf der Fahrt nach Schweden machten die Prinzessin und Tucholsky alias Daddy Station in Kopenhagen, wo er plötzlich einen Einfall hatte:
»Lydia!« rief ich, »Lydia! Beinah hätt ich es vergessen! Wir müssen uns das Polysandrion ansehn!« – »Das … was?« – »Das Polysandrion! Das mußt du sehn. Komm mit.« Es war ein langer Spaziergang, denn dieses kleine Museum lag weit draußen vor der Stadt.
»Was ist das?« fragte die Prinzessin.
»Du wirst ja sehn«, sagte ich.
Es ist schwer zu sagen, wie viele der Millionen Gripsholm-Leser sich in Kopenhagen schon auf die Spur des Polysandrions begeben haben. Fündig geworden ist dort niemand. Selbst im Kommentar der Gesamtausgabe, Band 14, heißt es nur lapidar: »Dazu nichts ermittelt.« Dabei hat Tucholsky selbst schon einige Andeutungen gemacht, was es mit Haus auf sich hat und wo das merkwürdige Gebäude zu finden sein sollte.
»Da haben sich zwei Balten ein Haus gebaut. Und der eine, Polysander von Kuckers zu Tiesenhausen, ein baltischer Baron, vermeint, malen zu können. Das kann er aber nicht.« – »Und deshalb gehn wir soweit?« – »Nein, deshalb nicht. Er kann also nicht malen, malt aber doch – und zwar malt er immerzu dasselbe, seine Jugendträume: Jünglinge … und vor allem Schmetterlinge.« – »Ja, darf er denn das?« fragte die Prinzessin. »Frag ihn … er wird da sein. Wenn er sich nicht zeigt, dann erklärt uns sein Freund die ganze Historie. Denn erklärt muß sie werden. Es ist wundervoll.« – »Ist es denn wenigstens unanständig?« – »Führte ich dich dann hin, mein schwarzes Glück?«
Da stand die kleine Villa – sie war nicht schön und paßte auch gar nicht in den Norden; man hätte sie viel eher im Süden, in Oberitalien oder dortherum vermutet … Wir traten ein.
»Oberitalien« ist schon ganz gut. Aber »dortherum« passt noch besser. Denn das reale Vorbild der Lydia, Tucholskys Geliebte Lisa Matthias, besaß ein Ferienhaus im Schweizer Kanton Tessin. Mehrere Male hielten sich die beiden dort in Lugano auf. Zudem verbrachte Tucholsky im Sommer 1930 einige Wochen in Locarno und Brissago. Genug Gelegenheit, das wirkliche Polysandrion kennenzulernen. In Gripsholm beschreibt er es als ein künstlerisches Kuriosum:
Die Prinzessin machte große Kulleraugen, und ich sah das Polysandrion zum zweiten Mal.
Hier war ein Traum Wahrheit geworden – Gott behüte uns davor! Der brave Polysander hatte etwa vierzig Quadratkilometer teurer Leinwand voll gemalt, und da standen und ruhten nun die Jünglinge, da schwebten und tanzten sie, und es war immer derselbe, immer derselbe. Blaßrosa, blau und gelb; vorn waren die Jünglinge, und hinten war die Perspektive.
»Die Schmetterlinge!« rief Lydia und faßte meine Hand. »Ich flehe dich an«, sagte ich, »nicht so laut! Hinter uns kriecht die Aufwärterin herum, und die erzählt nachher alles dem Herrn Maler. Wir wollen ihm doch nicht weh tun.« Wirklich: die Schmetterlinge. Sie gaukelten in der gemalten Luft, sie hatten sich auf die runden Schultern der Jünglinge gesetzt, und während wir bisher geglaubt hatten, Schmetterlinge ruhten am liebsten auf Blüten, so erwies sich das nun als ein Irrtum: diese hier saßen den Jünglingen mit Vorliebe auf dem Popo. Es war sehr lyrisch.
»Nun bitte ich dich …«, sagte die Prinzessin. »Still!« sagte ich. »Der Freund!« Es erschien der Freund des Malers, ein ältlicher, sympathisch aussehender Mann; er war bravbürgerlich angezogen, doch schien es, als verachtete er die grauen Kleider unsres grauen Jahrhunderts, und der Anzug vergalt ihm das. Er sah aus wie ein Ephebe a.D. Murmelnd stellte er sich vor und begann zu erklären. Vor einem Jüngling, der stramm mit Schwert und Schmetterling dastand und die Rechte wie zum Gruß an sein Haupt gelegt hatte, sprach der Freund in schönstem baltischem Tonfall, singend und mit allen rollenden Rrrs: »Was Sie hier sehn, ist der völlich verjäistichte Militarrismus!« Ich wendete mich ab – vor Erschütterung. Und wir sahen tanzende Knaben, sie trugen Matrosenanzüge mit Klappkragen, und ihnen zu Häupten hing eine kleine Lampe mit Bommelfransen, solch eine, wie sie in den Korridoren hängen –: ein möbliertes Gefilde der Seligen. Hier war ein Paradies aufgeblüht, von dem so viele Seelenfreunde des Malers ein Eckchen in der Seele trugen; ob es nun die ungerechte Verfolgung war oder was immer: wenn sie schwärmten, dann schwärmten sie in sanftem Himmelblau, sozusagen blausa. Und taten sich sehr viel darauf zu gute. Und an einer Wand hing die Photographie des Künstlers aus seiner italienischen Zeit; er war nur mit Sandalen und einem Hoihotoho-Speer bekleidet. Man trug also Bauch in Capri.
»Da bleibt einem ja die Luft weg!« sagte die Prinzessin, als wir draußen waren. »Die sind doch keineswegs alle so …?« – »Nein, die Gattung darf man das nicht entgelten lassen. Das Haus ist ein stehen gebliebenes Plüschsofa aus den neunziger Jahren; keineswegs sind sie alle so. Der Mann hätte seine Schokoladenbildchen gradesogut mit kleinen Feen und Gnomen bevölkern können … Aber denk dir nur mal ein ganzes Museum mit solch realisierten Wunschträumen – das müßte schön sein!«
»Und dann ist es so … blutärmlich!« sagte die Prinzessin. »Na, jeder sein eigner Unterleib! Und daraufhin wollen wir wohl einen Schnaps trinken!« Das taten wir.
Um den Erhalt des »Polysandrions« kümmert sich unter anderem der Schweizer Kunsthistoriker Rolf Thalmann. Er machte die Tucholsky-Gesellschaft auf das Museum aufmerksam, – und um das Rätsel endlich aufzulösen – das eigentlich »Sanctuarium Artis Elisarion« heißt. Thalmann schreibt:
In Wirklichkeit stand dieses Gebäude in Minusio bei Locarno im schweizerischen Kanton Tessin, und Tucholsky hat es nach mindestens mündlicher Überlieferung zweimal besucht, bevor er es in seiner Sommergeschichte »würdigte«. Die Erbauer waren tatsächlich zwei Balten, Elisàr von Kupffer (1872–1942), von dem die Bilder stammten, und Eduard von Mayer (1873–1960).
Nach längerer Pause soll das »Centro d’arte Elisarion« neu belebt werden. Den Auftakt bildet diesen Herbst eine Ausstellung des fotografischen Nachlasses der beiden Besitzer, der mit Hilfe verschiedener Organisationen gesichert worden ist. Er dokumentiert gleichzeitig den ursprünglichen Zustand des 1926 eröffneten Hauses, in dem das bereits 1924 gemalte Rundbild »Klarwelt der Seligen« eingebaut wurde. Die Ausstellung wird am 16. September eröffnet.
Wer sich bereits vorher über das Vorbild des Polysandrions orientieren will, dem stehen zwei hervorragende Quellen zur Verfügung:
– ein Buch von Fabio Ricci: Ritter, Tod & Eros. Die Kunst Elisàr von Kupffers (1872-1942), Köln Weimar Wien (Böhlau) 2007
– die Website www.elisarion.ch
Nachdem nun geklärt ist, wo sich das ominöse Polysandrion befindet, stellen sich weitere Fragen: Warum hat Tucholsky dieses Gebäude so verfremdet? Und warum hat er die Beschreibung in Schloß Gripsholm verwertet und nicht in einem Text in der Weltbühne oder anderen Medien?
Eine Erklärung könnte sein: Tucholsky fand das Ganze künstlerisch genauso despektierlich, wie er es beschrieben hat. Aber er wollte die Maler und deren Homosexualität nicht bloßstellen und verschlüsselte daher ihre Identität. Dies wäre natürlich in einem Zeitschriftenbeitrag nicht so leicht möglich gewesen. Und seine zeitgenössischen Leser? Konnte Tucholsky erwarten, dass sie seine Anspielungen verstanden? Vermutlich nicht. In der Weltbühne werden Kupffer und sein Elisarion nie erwähnt, in der Vossischen Zeitung nur einmal. Dort hieß es am 7. März 1931 über ihn:
Elisarion sei ein streng logischer Kosmo-Lyriker, dessen Gedichte an die leidende Menschheit, dessen Schau des verklärten Seins, dessen Drama »Feuer im Osten«, dessen Lebenswerk »die Klarwelt der Seligen« uns neue Offenbarungen über die kosmischen Jahreszeiten des Menschentums bringen sollen, indem sie Kraft des Mannes mit Anmut des Weibes vereinigen.
Vermutlich verstanden wenige Eingeweihte, wer mit »Polysander von Kuckers zu Tiesenhausen« gemeint war. Die anderen irrten stunden- oder tagelang durch Kopenhagen auf der Suche nach einem Museum, das gar nicht in den Norden passte.
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