Keine Zeit für Märchen
Wie liebevoll man einen Märchenabend beschreiben, bei dem mangels Besucher fast jeder Zuhörer seine eigene Geschichte vorgelesen bekam, zeigt Frank Saltenberger in einem Artikel der „Frankfurter Neuen Presse“. Nur 20 Usinger fanden demnach den Weg in den Saal der Hugenottenkirche, wo Anne Georgio unter dem Titel „Märchen ohne Wolf und ohne Geißlein“laut „FNP“ „teils dramatische, teils bizarre, in jedem Falle aber fantasievolle Geschichten von Herrmann Hesse, Novalis, Oscar Wilde und Kurt Tucholsky“ vortrug. Wie sehr Autor Saltenberger von den Geschichten gerührt wurde, zeigt folgende Passage:
Das Mädchen allerdings verschmähte die Rose, denn sie hatte eine besser gestellte Begleitung in Aussicht, und so warf der Student die Rose weg und wandte sich ernüchtert seinen Studien zu. «Das Leben ist ein hoher Preis für eine Rose», sagte die Nachtigall noch vor dem Handel mit dem welken Strauch. Wie sinnlos aber ist ein Tod für ein vermeintliches Ideal, das nichts bewegt? Dieses beklemmende Gefühl drängte sich dem Zuhörer auf.
Nach der Pause habe Georgio dann Tucholskys Märchen „Die verzauberte Prinzessin“ vorgelesen, „eine heitere Erlösungsgeschichte voller ironischer Seitenhiebe auf die Bürokratie und surrealer Komik“. Begeistert von der Vortragsweise Anna Georgios und der Klavierbegleitung Waltraud Bartls konnte sich die „FNP“ einen Seitenhieb auf die Kulturverschmähung der Usinger nicht verkneifen:
Die in Friedrichsdorf lebende Pianistin und die Frankfurter Sprecherin haben das Programm „Märchen ohne Wolf und ohne Geißlein“ 2002 zum ersten Mal aufgeführt und konnten seitdem positive Kritiken verbuchen. Bedauerlich, dass die Hugenottenkirche nicht einmal halb gefüllt war.
Da der „Usinger Anzeiger“ ebenfalls präsent war, machten Journalisten alleine zehn Prozent des Publikums aus. Auch in dieser Rezension wurde der Vortrag mit viel Wohlwollen aufgenommen, wobei der Text mit einer etwas kryptischen literarischen Einschätzung endet:
Die Schauspielerin ließ Dorfköter bellen und Betrunkene zu Wort kommen und brachte die in beißenden Humor gekleidete Kritik Tucholskys an Monarchie und Militär auf den Punkt. Wenn in dem Märchen der Portier den Prinzen anschnauzt: „Heute wird hier nicht erlöst“, und der die Prinzessin bewachende erkältete Drachen für die Stelle des Personalchefs im Ministerium des Inneren empfohlen wird, wird beinahe auch die Kunstform des Märchens selbst ad absurdum geführt.
Nennt man so etwas nicht einfach Parodie?
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