Würdigungen zum 75. Todestag
Am 21. Dezember jährte sich Tucholskys Todestag zum 75. Mal. Ein Anlass für die Medien, den Mann, der die »die Fackel ätzender Satire in die unheilschwangeren Bezirke der Weimarer Republik« schleuderte (Passauer Neue Presse), ausgiebig zu würdigen. Nach Tucholskys 75. Geburtstag (1965) bemerkte der Journalist Erich Kuby:
ARGUS, das Ausschnittbüro, vermochte aus Anlaß dieses 75. Geburtstages ein paar hundert Artikel über ihn zu sammeln.
Vom Hamburger Abendblatt bis zum Neuen Deutschland wird Tucholsky gefeiert, jenes ein Hausblatt Springers, dieses ein Hofblatt Ulbrichts.
Seitdem hat sich viel verändert. Das Hamburger Abendblatt ist nicht mehr das Hausblatt Springers, das Neue Deutschland hat ein anderes Layout, der Ausschnittdienst ARGUS heißt Infopaq. Dessen Aufgabe kann das Sudelblog nicht ganz übernehmen. Aber ein paar Würdigungen können wir hier schon sammeln.
Der Deutschlandfunk sendet am ersten Weihnachtsfeiertag eine lange Tucholsky-Nacht. Ab 23.05 Uhr.
Wie war das nochmal mit der Selbstreferentialität? (For our english speaking readers)
Wie bekannt und selbstreferentiell ist Tucholsky eigentlich noch in Schweden?
Die FR druckt Tucholskys Eigen-Nachruf »Letzte Fahrt« ab. In der Online-Ausgabe sind die Begriffe »Überdosis Tabletten«, »Trauerhaus«, »Matrone« und »Nutten« mit einer Kontextsuche hinterlegt. Hat diese Auswahl mehr mit der FR oder Tucholsky zu tun?
Für die dpa versammelt Wilfried Mommert die gängigen Klischees zu Tucholsky. Ein zeitloser Text, wie man ihn in fünf oder zehn Jahren wieder veröffentlichen könnte. Beim nächsten Mal aber bitte folgende Passagen ändern:
Vor 75 Jahren, am 21. Dezember 1935, starb Tucholsky, geplagt von Krankheiten, vereinsamt im schwedischen Exil an einer Überdosis Tabletten.
Wie dichtete Tucholsky bereits im Oktober 1930:
Dein tiefstes Lebensgefühl –
wann hast du das gehabt?
Mit einem Freund?
Immer allein.
Nun soll er in Schweden auf einmal »vereinsamt« gewesen sein?
Und weiter:
Schweden lehnte seinen Antrag auf Einbürgerung ab.
Tucholsky hat nie einen Antrag auf Einbürgerung gestellt. Dazu hätte er sieben Jahre in Schweden seinen Wohnsitz haben müssen, was erst 1936 der Fall war.
Karl Pfeifer hat noch einmal die Geschichte hervorgeholt, warum er wegen Tucholsky 13 Jahre lang prozessieren musste.
Auch Alexandra Kedves hat sich anlässlich des Todestages das neue Buch von Raddatz angeschaut. Zwangsläufig geht es in ihrem Artikel vor allem um Tucholsky und Mary Gerold. Eigentlich schade, denn Tucholsky hatte seine letzte ernsthafte Beziehung mit einer Zürcherin, der Ärztin Hedwig Müller. Darüber hätte eine Zürcher Zeitung sicher das eine oder andere Wort verlieren können.
Mit dem neuen Tucholsky-Büchlein von Fritz J. Raddatz beschäftigt sich Christian Eger. Er wundert sich aus mehreren Gründen, dass dieses Buch nun erschienen ist:
Bereits im Frühjahr war ein sehr gut geschriebenes Buch von Klaus Bellin über Mary und Kurt Tucholsky erschienen (Es war wie Glas zwischen uns); der Herder-Verlag ist ein protestantisches Haus, in das man Tucholsky nicht sofort einweisen würde; schließlich der irreführende biografische Titel. Es verblüfft, dass das eigentlich Sensationelle dieses Buches nicht hervorgehoben wird: Über 50 Seiten wird aus Marys Tagebüchern zitiert, die bis heute noch nicht veröffentlicht sind; die Autorin starb 1987.
In der Tat erstaunt, warum Raddatz im erzkatholischen Herder-Verlag veröffentlicht und nicht bei Rowohlt. Ob Raddatz nun trotz oder wegen Bellin seine eigene Version der Geschichte zwischen Tucholsky und Mary Gerold aufschreiben wollte, kann er wohl nur selbst wissen. Es war für Raddatz schon immer wichtig, die anderen Frauen, die Tucholsky auch hatte, möglichst aus dessen Biografie zu verdrängen (vor allem Lisa Matthias). Diese Frauen fanden bei Bellin zumindest ausreichend Platz. Nun kontert Raddatz offenbar mit dem Material, das er von Mary Gerold für die Tucholsky-Stiftung »geerbt« hat. Dass er damit macht, was er will, hat er seit ihrem Tod aber schon häufig genug bewiesen.
Matthias Biskupek, früherer Autor der DDR-Weltbühne, nimmt Tucholsky vor dem Vorwurf in Schutz, zu früh resigniert, zu früh mit dem Schreiben aufgehört zu haben:
Darf ein solcher manischer Schreiber sich nicht mit vierzig Jahren ausgeschrieben haben? Hatte er nicht alles versucht, was man in der Publizistik nur machen kann, vom knackigen Reim bis zum berlinernden Monolog, vom Schnipsel bis zum fingierten Schulaufsatz, von der Buchbesprechung bis zur Zeitgeist-Analyse? Hatte er nicht auch immer wieder Formen probiert und kreiert, die bis heute von beginnenden wie auch ausgelernten Journalisten durchaus studiert werden mit heißem Bemühn?
Der WDR 5 hat eine zweistündige Sendung zusammengestellt und würdigt
den großen deutschen Satiriker, Bühnenautor, Chansontexter, Erzähler, Literatur-, Filmkritiker und politischen Journalisten. Aus dem umfangreichen Werk Tucholskys wird Fröhliches, Nachdenkliches, Heiteres und Bedenkliches zu Gehör gebracht.
In literarischen Zeugnissen werden zudem Zeitgenossen zu Wort kommen, sowie seine Ehefrauen und Freunde.
Leider gibt es die Sendung nicht als Podcast.
Für die PNP würdigt Franz Baumer den Autor, der in »viele Gewänder« schlüpfte. Auch ansonsten greift Baumer gern in die Metaphernkiste:
Sein »Gedankenklavier« ist eher eine Riesenorgel, an der der Organist selbst philosophisch-religiöse Themen mit anklingen lässt.
Ergänzt wird der Beitrag durch die gekürzte Fassung eines dapd-Hintergrundbeitrags über Tucholskys Tod.
Der Historiker Kurt Pätzold veröffentlicht auszugsweise einen Tucholsky-Aufsatz, der anlässlich des 75. Todestages in der Edition Bodoni erschienen ist. (Mit Lateinisch überzeugt man keine Indianer. Nachdenken mit Kurt Tucholsky an seinem 75. Todestag). Von den Fehlern gleich am Anfang sollte man sich nicht abschrecken lassen: Anders als dort behauptet hat Tucholsky seine Villa in Hindas nicht gekauft, sondern nur gemietet. Und Mariefred liegt nicht südöstlich von Stockholm (auf einer Schäreninsel?), sondern gerade westwärts. Der Rest ist bestimmt besser recherchiert.
Kleine Zeitung etc.
Verschiedene österreichische Medien haben eine Würdigung Tucholskys von der Nachrichtenagentur APA übernommen.
Ich weiß ja nicht, was nach Ihrer Definition ein „Hausblatt“ ist, aber das „Hamburger Abendblatt“ erscheint nach wie vor im Springer-Verlag – und liest sich auch so. Zumal „Die Welt“, seit die Hauptredaktion in Berlin sitzt, sich aus Hamburg eher zurückzieht und der Regionalteil stark geschrumpft ist.
Kommentar by o aus h — 20.1.2011 @ 17:56
Das „publizistische Flaggschiff“ des Springer-Verlages soll ja immer noch die „Welt“ sein. Und das verstehe ich unter „Hausblatt“.
Kommentar by fg — 21.1.2011 @ 9:11
Hinweis:
Vortrag und musikalische Soiree
mit Texten von und über Kurt Tucholsky
vorgeführt vom
Ratinger Ensemble
zu buchen:
siehe: http://www.antjedibella.de.vu
Programm
-Ideal und Wirklichkeit – Vertonung
-Hochverehrtes Publikum – Lied
-Der Graben – Vertonung
-Drei Minuten Gehör – Gedicht
-Wir sind ein armes Land – Gedicht
-Bürgerliche Wohltätigkeit – Lied
-Die rote Melodie – Lied
-Mutterns Hände – Vertonung
-Augen in der Großstadt – Vertonung
-Guter deutscher Mond – Lied
-Leere – Text
-Minuten Pause
-Nur das – Lied
-Malwine – Lied
-Heinrich Zille – Lied
-Hej – Gedicht
-Jubiläum – Gedicht
-Joebbels – Gedicht
-Aussage eines Nationalsozialisten vor Gericht – Satire
-Ein älterer aber leicht besoffener Herr – Glosse
-Wir machen einen Kompromiss – Lied
-Brief an Mary Tucholsky – Lesung
-Letzte Fahrt – Gedicht
Kommentar by Antje Di Bella — 18.9.2011 @ 12:08