Zum Weinen gut
Es ist hinreichend bekannt, dass Tucholsky bis kurz vor seinem Tod den norwegischen Schriftsteller Knut Hamsun sehr verehrte. Was für Hamsum galt, traf erst recht auf Leo Tolstoi zu, der am 7. November/20. November (greg.) vor 100 Jahren gestorben ist. Eine geradezu hymnische Lobpreisung des russischen Schriftstellers findet sich in einem »Q-Tagebuch« vom 28. und 29. März 1935. Seiner in Zürich lebenden Freudin Hedwig Müller schrieb Tucholsky aus dem schwedischen Exil über Tolstois Hauptwerk Krieg und Frieden:
Dieses Buch ist alles in einem: Bibel, Kriminalroman, Essai und Gesangbuch und was Du willst. Es ist ein Wunder. Den Epilog zum Beispiel konnte nur ein Genie schreiben. Wie da die schwarzäugige, romantische, etwas sinnliche und muntere Natascha als Mutter und Frau gezeigt wird, »sieben Jahre später« – das ist inspiriert. Sie wird gezeigt, durchaus mit ihren Windeln befaßt, in denen – Gott sei gelobt! – statt eines grünen ein gelber Fleck zu sehen ist; sie ist nicht unsympathisch, aber auch nicht sehr angenehm; sie vernachlässigt sich und ihr Äußeres, ist aber maßlos eifersüchtig, sie ist eine gute Mutter und Gluckhenne – und das Leben geht, geht. Tolstoi zeigt das, er kritisiert es nicht, er hebt gar nicht die Stimme. Nur einmal bedauert ein ehemaliger Verehrer diese Veränderung ganz leise, ihr Mann ist damit durchaus zufrieden. Und dann wachsen junge Kinder auf, eine neue Generation, und es geht alles weiter. Es ist ein Wunder.
Bevor ich wußte, daß Hamsun zu den Nazis übergegangen ist, wäre ich vor ihm aufgestanden, wenn er hereingekommen wäre. Vor Tolstoi hätte ich geweint. Und das ist keineswegs literarische Hysterie. Ich hatte in Berlin einen juristischen Repetitor, der hat Tolstoi einmal in einer Kino-Wochenschau gesehn. »Man kann doch den lieben Gott nicht filmen«, sagte er. Und Gorki schildert ihn, am Meer sitzend, »wie ein alter Stein, der zur See gehört«.
Dabei ist er mir, wenn er moralisiert, unerträglich; es gibt im Deutschen ein Wort, das man von miauenden kleinen Kindern sagt: er greint. Dann schiebe ich ihn fort, ich mag das nicht. Aber als Gestalter, als Former, als Bändiger der Formen, – das hat seinesgleichen nicht.
Ungefähr drei oder vier lange Kapitel sind in diesem Roman, den man nur in einer ungekürzten Ausgabe lesen darf, der Lehre gewidmet, daß es nicht die Gedanken und nicht die Worte sind, also daß es nicht die ratio ist, die den Menschen leitet. Das Irrationale in der Geschichte, das der Marxismus einfach nicht kennt, wird hier so klar ausgesprochen, soweit die Sprache, die vom Hirn kommt, etwas aussprechen kann, was im sympathischen Nervensystem begründet liegt. Wie »es« die Masse vorwärtsschiebt, warum? Weil.
Und eben darum glaube ich an den Fortbestand der Nazis in Deutschland – sie sind, es ist ihr Schicksal, es ist nicht eine Durchgangsstation, es ist eine Vollendung. Wieweit sie das selbst fühlen, steht dahin – aber es ist so.
P.S.: Ist eigentlich schon irgendeinem Tolstoianer aufgefallen, dass eine gewisse Lena Meyer-Landrut die ideale Verkörperung der Natascha darstellt? So wie Natascha als Jugendliche die Petersburger Hofgesellschaft begeisterte, schwärmte vor einigen Monaten das deutsche Feuilleton von Lena. Der Epilog dieser Geschichte muss jedoch noch geschrieben werden.
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