Die Verbreitung einer Gedicht-Legende
Es war wohl kaum anders zu erwarten, als dass sich das vermeintliche Tucholsky-Gedicht »Höhere Finanzmathematik« mit der Geschwindigkeit eines Computerwurms im Internet verbreiten würde. Aber diesmal wurden nicht die Rechner, sondern die Gehirne der Leser befallen. Ein poetischer Hoax.
Hat sich wenigstens der hier zuvor geäußerte Wunsch erfüllt, dass die Presse ihre Leser über dieses kollektive Missverständnis aufklärt? Von wegen. Gleich mehrere Zeitungen sind der falschen Zuschreibung auf den Leim gegangen und haben das Gedicht unter der Urheberschaft Tucholskys abgedruckt. So in Deutschland die Westdeutsche Zeitung und die Nürnberger Nachrichten (die zwei Tage später den Fehler berichtigten), oder in der Schweiz die Basler Zeitung und das St. Galler Tagblatt. Was wiederum das Boulevardblatt Blick für einen kleinen Seitenhieb auf die Kollegen nutzte:
Doch geschrieben hat die etwas holprigen Reime ein Österreicher im September, berichtet die «Financial Times Deutschland». Trotzdem hat es die «Basler Zeitung» in ihrem Kulturteil abgedruckt und als Autor Tucholsky vermerkt.
Das Tagblatt sah sich ebenfalls zu einer Berichtigung genötigt und schrieb unter der etwas irreführenden Überschrift »Lug & Trug«:
Es ist ein Gedicht, stimmig und aktuell. Tucholsky wird als sein Urheber genannt — auch gestern, in diesem Blatt. «Wenn die Börsenkurse fallen»: So fing es an. Doch Tucholsky war’s nicht, das erklären die Fachleute, auch wenn das Gedicht unter seinem Namen quer durchs Netz floriert.
Wenig rühmlich auch, dass der ehemalige Zeit-Chefredakteur Roger de Weck das Gedicht im Medienmagazin des RBB zitierte. Und als »Finanzexperte« hätte Oswald Metzger vor der Veröffentlichung in seinem Blog etwas vorsichtiger sein können. Dennoch sei zur Ehrenrettung der Medien erwähnt, dass viele Zeitungen skeptisch waren und vor einem möglichen Abdruck des Gedichtes bei der Tucholsky-Gesellschaft nachfragten, ob Tucholsky der Urheber sei. Die Financial Times Deutschland sprach sogar mit dem tatsächlichen Autor, dem 69 Jahre alten Wiener Richard Kerschhofer. Der kann die Verwechslung gar nicht nachvollziehen und meinte mit Blick auf die starken stilistischen Unterschiede zu den Versen Theobald Tigers: »Kurt Tucholsky hat nicht annähernd so saubere Reime geschrieben wie ich.«
Kerschhofers Nähe zum rechten politischen Lager — er schreibt auch für die österreichische Zeitschrift Zeitbühne — müsste nun eigentlich linke Kapitalismuskritiker in Erklärungsnöte bringen. Etliche haben das Gedicht unter dem Autornamen Tucholsky oder anonym veröffentlicht (so auch die KPÖ). Worüber sich nicht nur die Wiener Presse, sondern auch Kerschhofer selbst amüsiert:
Offene Ohren fand das Gedicht vor allem bei linksgerichteten Kapitalismuskritikern. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass laut dem Gedicht das Finanzsystem aufgrund der »Spekulantenbrut« eine Umverteilung nach oben bewirkt, für die der »kleine Mann zu blechen hat«. Der Urheber ist politisch jedoch eher auf der anderen Seite zu finden. »Ich bin sicher kein Linker. Und ich fand es zuerst unglaublich, dass diese es sofort für sich reklamiert haben«, sagt Kerschhofer im Gespräch mit der »Presse«. Für ihn sei es nun aber eine »Genugtuung«, dass sein Gedicht – wenn auch unter falscher Urheberschaft – so große Berühmtheit erlangt hat.
Aber schon zu Zeiten Tucholskys waren lechts und rinks bisweilen zu velwechsern. Ein Leser der Westdeutschen Zeitung geht die Debatte daher sehr unideologisch an und meint: »Na egal wer es geschrieben hat, ob linker Weltverbesserer oder rechte Ätzbacke, das Gedicht ist trotzdem gut.«
Letzterem kann die Berliner Morgenpost hingegen nicht zustimmen. In einer ausführlichen Analyse der angerichteten Verwirrung schreibt Hendrik Werner:
Als erdrückendes Indiz, das von Anfang an gegen eine Urheberschaft Tucholskys hätte sprechen müssen, kommt noch hinzu, dass seine Lyrik zeitlebens sehr viel sperriger war als das ihm jetzt angehängte Gedicht. So hingegen klingt ein echter Tucholsky: »Ihr, in Kellern und in Mansarden, / merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird? / mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird? / Komme, was da kommen mag. / Es kommt der Tag, / da ruft der Arbeitspionier: / Ihr nicht. / Aber Wir. Wir.« Dies ist die Schlussstrophe eines Gedichts namens »Die freie Wirtschaft«, das unter dem Pseudonym Theobald Tiger am 4. März 1930 in der »Weltbühne« veröffentlich wurde. Auch diese Verse sind kämpferisch und kritisch. Aber sie sind, anders als der Fake »Höhere Finanzwirtschaft«, nicht von dieser monotonen Betulichkeit, die bei einem formal konventionelleren Dichter wie Erich Kästner weit eher anzutreffen ist. Nichts gegen behäbige Paarreim-Strophen; Tucholsky indes war in ästhetischen Dingen um einiges avancierter.
Warum Werner aber dauernd von »Fake«, »Lug und Trug« und »Fälschung« spricht, ist nicht ganz ersichtlich. Eine Fälschung liegt laut Wikipedia dann vor, »wenn einer eigenen Leistung die Urheberschaft eines Anderen unterstellt wird«. Diesen Vorwurf kann man Kerschhofer nicht machen. Und der Person, die die »Höhere Finanzmathematik« wohl erstmals mit Tucholsky in Verbindung brachte, ist wohl eher Schusseligkeit vorzuwerfen. Bei der weiteren Verbreitung des Fehlers gelten dieselben Mechanismen, die auch die Weiterleitung von Hoaxes befördern: eine gewisse Gutgläubigkeit und Unbedarftheit gepaart mit fehlendem Hintergrundwissen. So entgegnet Thomas Wendt, der das Gedicht auf der Website des SPD-Ortsvereins Rerik Salzhaff Kröpelin veröffentlicht hat, auf den Vorwurf der ungeprüften und unreflektieren Übernahme dieser »Ente«:
Ungeprüft, das mag sein. Ein gewisser Grad an Plausibilität ist gegeben und das darf in diesem Falle reichen. Ob Tucholsky oder nicht, ist für die Aussage egal. Aber der Vorwurf, hier wäre etwas unreflektiert übernommen worden trifft auf keinen Fall zu. Da scheint mir eher der Vorwurf selber unreflektiert zu sein. ;-)
Um diese höhere Form der Dialektik zu beherrschen, muss man wohl Jahrzehnte auf Parteischulungen verbracht haben.
Vielleicht sollte man inzwischen dazu übergehen, wie es die Börsen-Zeitung gemacht hat, statt der Kerschhofer’schen Finanzmathematik den »Kurzen Abriß der Nationalökonomie« von Kaspar Hauser abzudrucken. Das ist immer noch unterhaltsamer, zutreffender und aktueller als alles, was sich beispielsweise Frank Schirrmacher im Feuilleton der FAZ zur Finanzkrise zusammenschreibt.
[…] Geschrieben von Thomas Trueten in Eklektizismus um 00:38 Querfrontversuch: Wie redok und das Sudelblog berichten, handelt es sich bei dem angeblich von Kurt Tucholsky stammenden Gedicht »Höhere […]
Pingback by Was mir heute wichtig erscheint #44 - trueten.de - Willkommen in unserem Blog! — 3.11.2008 @ 1:42
[…] aaaaber… leider ein Hoax […]
Pingback by Aus welchem Jahr stammt dieses Gedicht…und von wem? at N:SIGN//BLOG — 3.11.2008 @ 19:20
Gedicht Fail, oder: Mal wieder ist man einem Österreicher auf den Leim gegangen……
Dem “Gedicht Fail” bin anscheinend nicht nur ich auf den Leim gegangen Kommt davon, wenn man per Copy&Paste einfach alles übernimmt, ohne es zu Prüfen. Sollte einem eine Lehre sein. Mir war es eine. Diese Geschichte um das Gedicht he…..
Trackback by widdes weblog — 4.11.2008 @ 14:43
[…] Anmerkung zum Gedicht: Dieses Gedicht über die Höhere Finanzmathematik soll angeblich von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1930 stammen und in der Zeitschrift ‘Die Weltbühne’ veröffentlicht worden sein – der tatsächliche Dichter ist laut der ‘Kurt Tucholsky Gesellschaft’ Richard Kerschhofer. Eine ausführliche Erläuterung findet sich auch im Sudelblog. […]
Pingback by Blog Antriebstechnik» Blogarchiv » Finanzkrise? - Ein alter Hut! — 8.11.2008 @ 2:18
[…] tatsächliche Autor ist der 69jährige Richard Kerschhofer aus Wien, schreibt das Sudelblog. Aber keine Sorge, sogar die Presse ist ab und an drauf […]
Pingback by Blog-abfertigung » Blog Archiv » Nettes Tucholsky-Gedicht ist leider ein Hoax — 12.11.2008 @ 20:24
[…] lest selber! >>> Sudelblog Einsortiert unter: Das Leben und der ganze Rest Tags: Medien, Tucholsky « […]
Pingback by » Ein letztes mal noch… Der Erdrandbewohner — 13.11.2008 @ 16:46
http://www.indymedia.org/de/2008/11/916666.shtml
Kommentar by apk — 23.11.2008 @ 17:47
[…] fast zwei Monaten war hier in dem Beitrag »Die Entstehung einer Gedichtlegende« vorgeschlagen worden: Vielleicht sollte man inzwischen dazu übergehen, wie es die Börsen-Zeitung […]
Pingback by Sudelblog.de - Das Weblog zu Kurt Tucholsky » Statt eines Gedichts — 28.12.2008 @ 15:09
[…] welches – frei bearbeitete – Tucholsky-Wort es sich dabei handel, verrät die NOZ nicht. Doch nicht etwa schon wieder um […]
Pingback by SpiegelKritik » Blog Archive » Aus dem Kopf zitiert — 27.1.2009 @ 9:19
[…] dass das Kerschhofersche Gedicht von der »Höheren Finanzmathematik« als Ganzes Tucholsky zugeschlagen wurde. Nun fangen die Kollegen aber schon an, einzelne Verse daraus herauszuklauben und als […]
Pingback by Sudelblog.de - Das Weblog zu Kurt Tucholsky » Mit Schmus und Zitatenschatz (4) — 30.1.2009 @ 22:53
[…] schon herumgesprochen, dass das vielzitierte Gedicht von den fallenden Börsenkursen wohl doch nicht von Tucholsky […]
Pingback by Sudelblog.de - Das Weblog zu Kurt Tucholsky » Wir können alles außer Tucholsky — 1.2.2009 @ 20:54
[…] Nachtrag: Nicht nur im Internet, auch in der Presse wurde das Gedicht mehrfach unter Angabe des falschen Autors verbreitet. […]
Pingback by Börsenkurse, Finanzkrise - ein altes Spiel « PlauderTesch — 2.4.2009 @ 10:43
[…] gibt’s bei der Tucholsky Gesellschaft (Eintrag des 29.10.2008), im Sudelblog hier und hier oder bei Frank […]
Pingback by Totontli » Nicht von Kurt Tucholsky… — 11.3.2010 @ 22:07
[…] Ich möchte hier gerne drauf hinweisen, das es eben nicht von ihm stammt! Mehr dazu hier und hier. […]
Pingback by Riffers kleine Welt » Das Gedicht, das nicht von Tucholsky stammt — 22.11.2012 @ 9:19
[…] Quelle: Sudelblog: Die Verbreitung einer Gedicht-Legende […]
Pingback by Kurt-Tucholsky-Gedicht zur Finanzkrise? | Fließendes Geld Stammtisch Torgau — 15.5.2014 @ 22:08
[…] wurde mit wenig Prüfaufwand aus Print- und Webquellen erstellt. Wer es genau wissen will, liest die «Sudelblog»-Meldung von Tucholsky-Experte Friedhelm Greis («Aus Teutschland Deutschland machen», Lukas-Verlag Berlin, 2008). […]
Pingback by Und wieder einmal ist die ganze Presse drauf reingefallen | Zürcher Presseverein — 29.9.2015 @ 9:12