Ein Leben für den Frieden
Es war im Frühjahr vor den Olympischen Spielen. Das Regime wollte sich bei den Wettkämpfen der Welt von seiner besten Seite zeigen. Ein pompöser Fackellauf wurde organisiert. Doch die internationale Öffentlichkeit interessierte sich stark für die Situation der Menschenrechte in dem Land. Das Schicksal eines Mannes stand stellvertretend für die Unterdrückungsherrschaft der diktatorischen Machthaber. Der Druck zeigte Wirkung. Der Journalist und Pazifist Carl von Ossietzky, von dem hier die Rede ist, kam wenige Monate vor Beginn der Sommerspiele 1936 aus dem nationalsozialistischen Konzentrationslager frei. Doch er war todkrank. Zwei Jahre später, am 4. Mai 1938, starb er an den gesundheitlichen Folgen der Haft.
Für die Nationalsozialisten war der Fall Ossietzky eine ihrer größten außenpolitischen Niederlagen, für die deutsche Emigration eine ihre wenigen Erfolge. Mehrere Jahre hatte es gedauert, bis die internationale Aufmerksamkeit dazu führte, dass Ossietzky zumindest aus dem KZ entlassen wurde. Ein halbes Jahr später kam dann die sensationelle Nachricht: Das norwegische Nobelpreiskomitee verlieh Ossietzky den Friedensnobelpreis. Eine schallende Ohrfeige für das Naziregime, das den früheren Weltbühne-Herausgeber stets herablassend als verurteilten Landesverräter titulierte.
Wie zahlreiche andere Pazifisten, Kommunisten und Sozialdemokraten war Ossietzky schon in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet worden. Von einem Berliner Polizeigefängnis kam er schnell in das neu gegründete Konzentrationslager Sonnenburg bei Küstrin. Dort wurde er schwer misshandelt. Einer der ersten, die international auf sein Schicksal aufmerksam machten, war der einflussreiche englische Publizist Wickham Steed. In der englischen Zeitung The Times, die er zu Beginn der zwanziger Jahre selbst geleitet hatte, schrieb er am 23. Januar 1934 in einem Leserbrief:
(…) auf die dringende Bitte einer großen Zahl exilierter deutschen Schriftsteller und Personen des öffentlichen Lebens ersuche ich eindringlich um die Erlaubnis, über das schwere Schicksal Carl von Ossietzkys zu sprechen, einem ausgezeichneten deutschen Schriftsteller und Journalisten, der seit Monaten im Konzentrationslager Sonnenburg inhaftiert ist.
Glaubwürdigen Berichten zufolge ist Carl von Ossietzky nun ein gebrochener Mann, der den Qualen, die über ihn verhängt werden, nicht mehr lange standhalten wird. Körperliche Misshandlung, Unterernährung, schwere militärische Übungen und wiederholte Phasen von Einzelhaft in einer dunklen Zelle haben seine Gesundheit gebrochen – aber nicht seinen Geist. (…)
Auch wenn es zu viel wäre, auf seine Freilassung zu hoffen: Sein Anspruch auf das Mitgefühl der zivilisierten Welt sollte, denke ich, nicht vollständig unerhört bleiben.
An eine Freilassung war zu diesem Zeitpunkt in der Tat nicht zu denken. Allerdings schienen selbst den Nazis die Zustände im KZ Sonnenburg zu skandalös. Das Lager wurde aufgelöst und Ossietzky kam, ebenso wie andere Häftlinge, in das Lager Esterwegen im Emsland. Dort besserte sich sein Zustand bei der Zwangsarbeit in den feuchten Mooren keineswegs. Im Gegenteil. Der „Moorsoldat“ mit der Häftlingsnummer 562 erkrankte im Mai 1934 schwer. Zu diesem Zeitpunkt hatten Freunde bereits eine Kampagne gestartet, um Ossietzky mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen. Doch dem ersten Anlauf war kein Erfolg beschieden. Die Vorschlagsfrist für 1934 war bereits abgelaufen. Aber die Idee war in der Welt. Vor allem in Paris, um die Emigranten Hellmut von Gerlach, Milly Zirker und Hilde Walter, gewann der Vorschlag Unterstützung. Es gelang dem „Freundeskreis Carl von Ossietzky“ prominente Fürsprecher zu gewinnen. Dazu zählten unter anderem die früheren Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde und Jane Addams, die deutschen Exilanten Thomas und Heinrich Mann, Albert Einstein und Lion Feuchtwanger sowie die Schriftsteller Romain Rolland, Virginia Woolf und Aldous Huxley.
Von der internationalen Kampagne für einen KZ-Häftling zeigten sich die Nazis zunehmend beunruhigt. Reichsinnenminister Hermann Göring beauftragte die Geheime Staatspolizei damit, eine Art Argumentationshilfe für die deutschen Botschaften auszuarbeiten. Denn die diplomatischen Vertretungen erhielten viele Anfragen nach dem Gesundheitszustand Ossietzkys. Für die norwegische Regierung war die Nobelpreiskampagne eine heikle Angelegenheit. Im fünfköpfigen Preiskomitee saß unter anderem Außenminister Halvdan Koht. Der Regierung war klar, dass eine Auszeichnung Ossietzkys von den Nazis als Affront empfunden werden würde. Daher war es wohl kein großer Zufall, dass das Komitee sich 1935 dem Dilemma entzog, indem es gar keinen Preis vergab.
Doch damit war die Kampagne noch nicht gescheitert. Neuen Auftrieb bekam sie unter anderem dadurch, dass der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun gegen Ossietzky Partei ergriff und offen mit den Nazis sympathisierte. Das riss sogar Ossietzky langjährigen Weltbühne-Mitstreiter Kurt Tucholsky aus der Lethargie und veranlasste ihn dazu, sein selbst auferlegtes Schweigen im Exil brechen zu wollen, um mit seinem literarischen Idol Hamsun abzurechnen. Doch dazu kam es nicht mehr: Tucholsky starb am 21. Dezember 1935 in Schweden an einer Überdosis Schlaftabletten. Ein geplanter Artikel wurde nie veröffentlicht.
Dass Hamsuns Ausfälle der Kampagne helfen würden, erkannte ein junger deutscher Emigrant, der unter dem Decknamen Willy Brandt in der norwegischen Hauptstadt Oslo lebte. Er wollte unbedingt verhindern, „daß ein gefährliches Schweigen über den Fall O. eintritt“, wie er im November 1935 an Hilde Walter schrieb. Gegen das Vergessen half auch die Tatsache, dass Deutschland 1936 die Olympischen Sommerspiele in Berlin ausrichtete. Göring fürchtete weiteren außenpolitischen Schaden für das Regime und ordnete eine medizinische Untersuchung des Häftlings an. Die Diagnose war niederschmetternd: schwere offene Lungentuberkulose. Ossietzky galt als nicht mehr haftfähig und kam tatsächlich frei. Doch die Freiheit täuschte. Gestapo-Beamte bewachten ihn permanent im Krankenhaus Westend, wo er ein Zimmer bezogen hatte. Gegen Ende des Jahres 1936 stand ein weiteres Mal die Entscheidung über die Vergabe des Nobelpreises an. Die Nazis erhöhten den Druck auf Norwegen. Außenminister Koht und der ehemalige Ministerpräsident Johan Ludvig Mowinckel traten aus dem Preiskomitee aus, um die norwegische Regierung aus der direkten Schusslinie zu nehmen. Am 23. November 1936 erfüllten sich dann die Hoffnungen der gesamten deutschen Emigration: Ossietzky erhielt den Nobelpreis rückwirkend für 1935 zuerkannt. Den Preis für 1936 erhielt der argentinische Außenminister Carlos Saavedra Lamas. Thomas Mann bezeichnete in der Pariser Tageszeitung die Entscheidung als „eine der wenigen glücklichen Entscheidungen, die seit Jahren gekommen sind“.
Die New York Times begrüßte die Verleihung und schrieb:
Die Wahl Ossietzkys durch das Nobel-Komitee ist eine Würdigung von dessen militantem und kompromisslosem Pazifismus. Sie bedeutet tatsächlich die Verurteilung eines Regimes, das jahrelang ohne Verhandlung und ohne Gelegenheit zu rechtlichem Beistand Männer von heldenhaftem Charakter inhaftiert, die sich nichts anderes zu Schulden haben kommen lassen, als politische Ansichten zu vertreten, die den Machthabern nicht gefallen. Die Entscheidung ist vor allem für das kleine Land Norwegen, das wirtschaftlich von Deutschland abhängig ist, ein außerordentliches Zeichen von Mut in einer Zeit, in der Mut sehr niedrig steht.
Wie nicht anders zu erwarten, fühlten sich die Nazis durch die Entscheidung brüskiert und drohten Norwegen Konsequenzen an. Der Völkische Beobachter schrieb zynisch am 26. November 1936:
Im Gegensatz zum Sowjetstaat, der jeden politischen Gegner an die Wand stellen läßt, hat sich das nationalsozialistische Deutschland darauf beschränkt, Ossietzky am 28. Februar 1933 in Sicherheitsverwahrung nehmen zu lassen. Ossietzky ist vor längerer Zeit aus dieser Haft entlassen worden und befindet sich in Freiheit.
Die Verleihung des Nobelpreises an einen notorischen Landesverräter ist eine derart unverschämte Herausforderung und Beleidigung des neuen Deutschlands, daß darauf eine entsprechend deutliche Antwort erfolgen wird.
In Deutschland versuchten die Nazis noch, die Verleihung zu verhindern. In einem persönlichen Gespräch wollte Göring Ossietzky davon überzeugen, den Preis nicht anzunehmen. Doch dieser tat dem Regime nicht den Gefallen. Ossietzky erhielt allerdings nicht die Erlaubnis, den Preis in Oslo persönlich in Empfang zu nehmen. Das Preisgeld in Höhe von rund 100.000 Reichsmark konnte Ossietzky ebenfalls nicht dazu verwenden, seine Situation und die seiner Familie wenigstens materiell noch etwas zu verbessern. Ein betrügerischer Rechtsanwalt veruntreute den größten Teil der Summe. Den Rest seines Lebens verbrachte Ossietzky im Berliner Nordend-Krankenhaus, weiterhin ständig überwacht. Zuletzt soll er noch 72 Pfund gewogen haben. Dort starb er am 4. Mai 1938 an den Folgen der KZ-Haft. In ihrem Nachruf schrieb die New York Times:
Carl von Ossietzkys Eintreten für die menschliche Freiheit, sein Kampf für die Bewahrung der demokratischen Prinzipien in einem Europa, das zu diktatorischen Doktrinen verdammt war, und zu guter Letzt sein erfolgloser Kampf gegen die Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit waren eng mit Deutschlands Not während der Nachkriegszeit verbunden. Als leidenschaftlicher Pazifist war er sogar in den Augen liberaler Republikaner ein Radikaler. Für seine Gegner war er der „Pamphletist mit der beißenden Feder“. Für seinen Anhänger wurde er ein „Märtyrer der deutschen Kultur“.
Nur wenige Medien haben an diesem Wochenende den 70. Todestag Ossietzkys zur Kenntnis genommen. Nach Ansicht des Oldenburger Politikwissenschaftlers Gerhard Kraiker, Mitherausgeber der Ossietzky-Gesamtausgabe, ist es „angesichts starker Spannungen zwischen demokratischen Prinzipien und neoliberalem Kapitalismus (…) besonders wichtig, anlässlich seines 70. Todestags an Ossietzky zu erinnern“. Aber sicherlich nicht nur dann.
Ossietzky-Denkmal in Berlin
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