8.8.2007

Bahnstreik vor Gericht ohne Tucholsky

Bei Kurt Tucholsky verlor die Richterin die Geduld. Das Gedicht über die „Eisenbahner“ durfte Ulrich Fischer vor dem Arbeitsgericht Frankfurt nicht mehr vortragen. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte der Rechtsanwalt der Gewerkschaft der Lokführer das Gericht, die Vertreter der Deutschen Bahn und diverse Journalisten schon mehrere Stunden in Atem gehalten mit seinen Ausführungen zum Arbeitskampf seiner Mandanten.

Heißt es in der FAZ. Und man wundert sich natürlich, dass nach atemraubenden Ausführungen eines lebenden Juristen die Worte eines profilierten toten eher als weitere Anstrengung denn als Entspannung gesehen werden – zumindest von der Journalistin Melanie Amann.

Doch bevor sich nun die engagierte FAZ-Leserschaft selbst an ihr Tucholsky-Bücherregal begibt und Fischer möglicherweise dadurch missversteht, dass sie den Text „Eisenbahner“ von 1930 statt den von Fischer vorzutragen beabsichtigten „Eisenbahnerstreik“ von 1922 liest, sei er hiermit dargebracht:


Eisenbahnerstreik

Unnötig.
Aber ohne jedes Recht.
Die Frau, die Kinder wollen Schuhe.
Wißt ihr, wie solcher Dienst den Körper schwächt?
Tag-, Nachtschicht und das bißchen Ruhe.

Ja, standet ihr schon mal am Führerstand?
Der Kessel glüht – es ziehn die Winde.
Heiß-kalt, kalt-heiß wird seine Führerhand . . .
Wo ist sein Sinn! Bei seinem Kinde?

Wo ist sein Sinn? Die Augen spähn: »Fahrt frei!«
Er darf nicht einen Griff versäumen.
Er sieht das Vorsignal und Weiche III –
Ihr könnt auf weichen Polstern träumen,

Wollt ihr nicht sichere Fahrt durch euer Land?
Wie soll der Dienst tun mit den Sorgen?
Zweihundert Leben in der einen Hand –
und dieser Hand will keiner, keiner borgen?

Er hats nicht leicht der Mann vom Flügelrad.
Stets droht der Tod. Er soll nicht ein Mal fehlen.
Ihr tuts für euch. Macht seine Kinder satt!
Wer fünf Milliarden für die Reichswehr hat:
der darf uns nichts von Sparsamkeit erzählen!

Autorenangabe: Theobald Tiger
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 09.02.1922, Nr. 6, S. 149

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