Ein Kind meines Pubs
Deutsch: Lächerliches Zerpflücken der Klassiker; törichte Aufsätze, schludrig und unverständig korrigiert; mittelhochdeutsche Gedichte wurden auswendig gelernt, niemand hatte einen Schimmer von ihrer Schönheit.
Mit diesen scharfen Worten beschwerte sich jemand über den Schulunterricht, der wegen seiner schlecht benoteten Deutsch-Aufsätze mit 17 Jahren das Gymnasium verlassen musste. Zum Glück durfte er später unbehelligt Artikel wie „Ein Kind aus meiner Klasse“ veröffentlichen und nach Herzenslust über das verhasste Schulsystem herziehen.
Ob Christoph später ähnlich schlecht von seiner Schulzeit reden wird? Immerhin durfte er sich als Schüler des Homberger Theodor-Heuss-Gymnasiums in in einem Irish-Pub auf das Abitur vorbereiten. So steht es in einem Artikel der Hessen Nassauischen Allgemeinen (HNA) geschrieben, der leider nicht für die Qualitäten des derzeitigen Bildungssystems spricht. Autorin Anne Weber legt gleich richtig los:
Tucholsky ist überall. Sogar im Homberger Irish Pub. Der Mann, der den legendären Satz erfunden hat „Jeder Mensch ist Ausländer und das fast überall“ stand im Mittelpunkt einer außergewöhnlichen Weiterbildung von künftigen Abiturienten.
Wer auch immer diesen „legendären“ Satz „erfunden“ hat, – Tucholsky war es nicht. Von ihm stammt der ähnlich lautende Aphorismus:
Man ist in Europa ein Mal Staatsbürger und zweiundzwanzig Mal Ausländer. Wer weise ist: dreiundzwanzig Mal.
Der Schluss des Artikels hat es leider auch in sich:
Über 30 Zuhörer saßen nun im Hinterzimmer des Pubs „Dragon Inn“ und erfuhren, dass die in dem Buch beschriebene Urlaubsreise des bedeutenden deutschen Satirikers in das Schloss Gripsholm (Schweden) der Wahrheit entspricht. Darin spielt der Gesellschaftskritiker als linkspolitisch engagierter Mann auf die Inflation 1923/24 und auf die Reichtagsauflösung 1930 an, verdeutlichte der Schüler. Ihm gefalle vor allem die Art, wie Tucholsky mit Sprache umgehe, auch wenn das manchmal vulgär ausfalle.
Der Aufenthalt Tucholskys bei Schloss Gripsholm entsprach in der Tat der Realität, aber wo in der heiteren Sommergeschichte auf die Inflationsjahre 1922/23 und die Reichstagsauflösung von 1930 Bezug genommen wird, wissen nur die HNA oder der Primaner Christoph. Dass Tucholskys Sprache als „vulgär“ empfunden wird, ist dagegen ein schöner Beweis für die Unverdorbenheit der hessischen Landjugend.
Bleibt nur zu hoffen, dass im Abitur keine Fragen zu Schloß Gripsholm gestellt werden. Sonst müssten die Schüler mit Tucholsky klagen: „Ich weiß lange nicht so viel, wie ich wissen müßte – vieles fehlt mir.“
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