Selten so vermutet
Was dem einen sein Witz, ist dem anderen seine Beleidigung, lässt sich nicht nur anhand dieses aktuellen Beispiels belegen. Daher ist auch die Frage müßig, ob die eine Nation mehr oder weniger Humor als die andere hat. Bei Literaturen sind diese Vergleiche nicht viel sinnvoller, wie uns niemand Geringeres als Marcel Reich-Ranicki zu beweisen versucht. Wenn Sie diesen fragten, – was ein Mr. John Grey aus Brighton getan hat -, warum Schiller nicht so witzig wie Shakespeare dichtete, antwortete er, unter vielem anderen:
Dennoch wage ich zu vermuten, daß, von der englischen abgesehen, kaum eine Literatur der Welt so viel Humor habe wie die deutsche. Und daß also die gegenteilige Behauptung bloß ein Klischee sei, das von Generation zu Generation ungeprüft weitergereicht werde.
Erstaunlicherweise hat Tucholsky, für Reich-Ranicki ein Autor mit „Pfiff und Humor“, zu diesem Klischee sein Scherflein beigetragen. Allerdings versuchte er zwischen dem deutschen Humor an sich und seinem literarischen Niederschlag zu unterscheiden. So heißt es in „Etwas vom Humor“, einem der wenigen Tucholsky-Texte, die in der Frankfurter Zeitung erschienen:
Wir Deutschen haben Humor – ja, man kann fast versucht sein, zu sagen, deutscher Humor, das sei fast ein Pleonasmus, so wie deutsche Musik. Und beinahe ist es in der Tat auch so.
Doch haben wir nicht viele Humoristen.
Letzterem würde Reich-Ranicki widersprechen, aber Tucholsky bezog sich vermutlich auf die Gegenwart des Jahres 1918, das in dieser Hinsicht nicht viel zu bieten hatte. Denn wer erinnert sich noch an Stefan von Kotze, den Tucholsky in seinem Text als Naturbursche des Humors anpreist.
Wenn jemand wie Reich-Ranicki aber nur zu „vermuten“ und nicht zu „behaupten“ wagt, scheint er seiner Sache wirklich nicht sehr sicher zu sein. Wie lässt es sich sonst erklären, dass ausgerechnet Deutschlands prominentester Literaturkritiker in diesem Satz in einen falschen Konjunktiv verfällt. Vielleicht ist die deutsche Sprache einfach zu schwer, um gute Witze zu machen. Auch nur so ’ne Vermutung.
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