Satirischer Mehrwert
Am Ende der ersten unfreiwilligen europäisch-islamischen Satriewoche versucht Irmtraud Gutschke im Neuen Deutschland Bilanz zu ziehen. In „Wer möchte, dass die Lunte brennt?“ fragt Gutschke brav nach dem cui bono und gibt die Antwort: „Den Medien sowieso“. Aber nicht nur denen könnte die Debatte nützen:
Stell dir vor, übermorgen stürmt eine aufgebrachte Menge die USA-Botschaft in Teheran. Fotos von Ermordeten gehen um die Welt. Der amerikanische Präsident … Nein, man soll den Teufel nicht an die Wand malen. Aber der historisch versierte Leser weiß, wie Kriege oft beginnen.
Andererseits gereicht der Konflikt auch den islamischen Fundamentalisten zum Vorteil.
Wenn die Geschichte des nächsten Golfkriegs einst geschrieben wird, wird man sich an die warnenden Worte des Neuen Deutschland erinnern. Aber was steckt eigentlich hinter dem Ganzen? Gutschke kennt auch ihren Tucholsky und weiß von ihm, dass Satire übertreiben muss und in ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht ist. Sie aber hätte aus „Anstand“ auf die Veröffentlichung der Karikaturen verzichtet, denn sie hat es offenbar nicht nötig, zum Zwecke „einer kurzfristigen Befreiung von eigenen inneren Bedrückungen“ blasphemisch zu werden. Das scheine aber bei vielen Journalisten und Künstlern der Fall zu sein, so dass man die Debatte eigentlich nur mit psychologischen Maßstäben beurteilen könne. Und wie bekommt man jetzt die Kurve zum historischen Materialismus?
Auch das gehört zur Scheinwelt, von der wir umgeben sind: In der Gesellschaft des Kapitals ist nichts, aber auch gar nichts mehr heilig. Marx und Engels haben es ja im Kommunistischen Manifest vorausgesagt. Was Menschen hier schon weh tut, auch wenn sie es verdrängen und unter dem Begriff Freiheit verbuchen, wie sehr mag es jene treffen, die sich in anderen Wertzusammenhängen befinden und den westlichen Kapitalismus nicht akzeptieren wollen, an dessen Reichtum sie nicht teilhaben.
Na geht doch.
Wie schön war doch die Zeit, als anständige Sozialisten entscheiden durften, was in den heiligen Parteiblättern zu stehen hatte.
Glaubenskrieger
Nach langem hin- und her überlegen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass diese Karikaturen doch veröffentlicht werden müssen, im Interesse der freien Meinungsbildung:
Ich hoffe, dass ich jetzt nicht in den Fokus von Karikaturisten, Journalisten …
Trackback by Ulysses Streitzüge — 4.2.2006 @ 16:31
[…] Die Welt blickt heute aus gegebenem Anlass auf die Geschichte juristsch verfolgter Gotteslästerung in Deutschland zurück. Autor Uwe Wittstock weist zu Beginn seines Textes darauf hin, dass die liberalen europäischen Traditionen längst nicht so tief verwurzelt seien, wie von vielen geglaubt werde. Seine Reihe von Beispielen, die diese These belegen sollen, führt von Heinrich Heine über Oskar Panizza bis George Grosz, auf dessen Fall sich Tucholsky in dem Text "Die Begründung" bezog. Doch der Fall Grosz sei nicht der einzige derartige Fall in der Weimarer Republik gewesen: Kurt Tucholsky mußte sich vor Gericht wegen eines angeblich gotteslästerlichen Gedichtes verantworten, Franz Masareel wegen der Holzschnittfolge "Die Kirche", Kurt Weill wegen einer religionskritischen Oper. Carl Einstein wurde für "Die schlimme Botschaft", eine Parodie auf die christliche Passionsgeschichte, trotz 14 Verteidigungs-Gutachten – darunter eines von Thomas Mann – mit seinem Verleger Ernst Rowohlt zu Geldstrafen oder mehrwöchiger Haft verurteilt. […]
Pingback by Sudelblog.de - Das Weblog zu Kurt Tucholsky » Blasphemische Verse — 5.2.2006 @ 20:16