14.1.2005

Das Buch der Deutschen

Schon seit ein paar Wochen prangt es einem dick und schwarz-rot-gold in den Buchhandlungen entgegen. „Das Buch der Deutschen“ heißt der Wälzer, und wer ihn ehrfürchtig in die Hände nimmt, möchte ihn am liebsten wie den römischen Messkanon vor sich hertragen und vor der versammelten Buchhandlungsgemeinde feierlich das Hochgebet anstimmen. Obwohl die Sammlung deutscher Textzeugnisse schon rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft in den Regalen stand, hat die taz erst im neuen Jahr Zeit gefunden, sie auf der „Wahrheit“-Seite zu zerpflücken.
Nach Ansicht von taz-Autor Rayk Wieland enthält das Buch eben nicht „alles, was man kennen muss“ (Verlagswerbung), sondern das, was „man überhaupt nicht kennen muss, sei es, weil es einem schon zum Halse raushängt, sei es, weil es gröblich verkürzt ist, oder sei es, weil man es in dieser beflissenen Ausführlichkeit nie zu kennen begehrte“. Vor allem die Literatur sei unzureichend vertreten:

Schlecht weggekommen hingegen ist im Vergleich zur dumpfen Beamtenprosa die Literatur. Walther von der Vogelweide grausam übersetzt und stranguliert. Friedrich Gottlieb Klopstock, vertreten bloß mit seinem „Vaterlandslied“. Das Nibelungenlied, auf zwei Seiten gekürzt. Kurt Tucholsky, kommt zum Zuge mit seinem Gedicht „Mutterns Hände“, das nun wirklich niemand nicht kennt. Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“, selbstverständlich komplett. Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“, selbstverständlich nur die ersten Strophen. Am Schluss der Jahrtausendsammlung befindet sich dann Grönemeyers Lied „Mensch“, ein brutalstmögliches Bekenntnis zum Sonderschulweg der deutschen Geschichte.
Rayk Wieland: „Der Sonderschulschinken“, in: taz, 14.1.2005, S. 20

Nun ist es allerdings nicht so, dass beispielsweise von Tucholsky nur das Gedicht „Mutterns Hände“ abgedruckt wäre. Auch den unvermeidlichen Text Heimat sollte nach Ansicht der Herausgeber wohl jeder kennen (kennt auch jeder). Ebenfalls in die Sammlung geschafft hat es die antimilitaristische Polemik „Deutschland, ein Kasernenhof“, die es sicherlich verdient gehabt hätte, in der Weimarer Republik öfter von den Kanzeln vorgelesen zu werden. Mit drei Texten und sieben von 800 Seiten ist Tucholsky im „Buch der Deutschen“ somit durchaus angemessen repräsentiert. Goethe, Schiller, Heine und Brecht wird natürlich noch ein bisschen mehr Platz eingeräumt. Und dass Carl von Ossietzkys „Rechenschaft“ Eingang in die Sammlung gefunden hat, spricht auch nicht unbedingt gegen die Herausgeber. Weyland stößt sich in seiner Kritik aber weniger an Idee, Titel und Aufmachung als an dem Inhalt des Buches:

Vollständigkeitswahn, Aktenfimmel, vaterländisches Gewürge und Züchtigungsexzesse – alles das, was die deutsche Geschichte im Übermaß aufbietet, prägt auch dieses Werk. So gesehen hat Johannes Thiele, der Herausgeber, einen exquisiten Job gemacht.

Als ebensolcher Züchtigungsexzess ist Weylands Rezension ein Kandidat für den zweiten Band der Sammlung. Vorschläge bitte hier abgeben. Vielleicht sollte zusätzlich angeregt werden, die ganze Anthologie lediglich auf CD zu brennen und jedem Geschichtsbuch als Quellenedition beizufügen. Dann hätte sie ihren Zweck voll und ganz erfüllt, wobei es Verlag und Herausgeber damit sicher nicht in die deutschen Feuilletons geschafft hätten.

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