2.6.2024

Zum 100. Todestag: „Kafka. Ganz großer Mann. Ich habe ihn noch gekannt“

Zu den Verdiensten, die sich Tucholsky auf literarischem Gebiet zurechnen kann, gehören die frühe „Entdeckung“ und anhaltende Wertschätzung Franz Kafkas. Schon Anfang 1913, nur kurz nach dem Erscheinen im Rowohlt-Verlag, besprach er Kafkas Erstlingswerk „Betrachtung“. Darin verglich er dessen „singende Prosa“ mit derjenigen Robert Walsers und schreib:

Wenn sich über die Berechtigung solcher Literaten streiten läßt, so bestimmt das nicht über das große Können Kafkas (…) Hier scheint mir der Weg zu liegen, der zum Parnaß führt: so etwas ist tief und mit den feinfühligsten Fingern gemacht.

Die Besprechung „Drei neue Bücher. Max Brod, Franz Kafka, Ernst Blaß“ im Prager Tagblatt vom 27. Januar 1913 war kein Zufall. Tucholsky verehrte Kafkas Freund und Förderer Max Brod schon länger und hatte ihm zusammen mit seinem Freund Kurt Szafranski im September 1911 einen Besuch in Prag abgestattet. Damals lernte Tucholsky den blinden Dichter Oskar Baum und den literarisch noch ziemlich unbekannten Kafka kennen. Zurück in Berlin, schrieb Tucholsky in einem Brief an Brod:

Ich bitte Sie, mich Herrn Dr. Kaffka und Herrn Baum zu empfehlen.

Auf Kafka schien der Besuch der jungen Berliner Freunde ebenfalls Eindruck hinterlassen zu haben. In seinem Tagebuch notierter er am 30. September 1911:

Tucholsky und Szafranski. Das gehauchte Berlinerisch, in dem die Stimme Ruhepausen braucht, die von „nich“ gebildet werden. Der erste ein ganz einheitlicher Mensch von einundzwanzig Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Will Verteidiger werden, sieht nur wenige Hindernisse gleichzeitig mit der Möglichkeit ihrer Beseitigung: seine helle Stimme, die nach dem männlichen Klang der ersten durchredeten halben Stunde angeblich mädchenhaft wird – Zweifel an der eigenen Fähigkeit zur Pose, die er sich aber von größerer Welterfahrung erhofft – endlich Angst vor einer Verwandlung ins Weltschmerzliche, wie er es an ältern Berliner Juden seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig gar nichts davon. Er wird bald heiraten.

Szafranski, Schüler Bernhards, macht während des Zeichnens und Beobachtens Grimassen, die mit dem Gezeichneten in Verbindung stehn. Erinnert mich daran, daß ich für meinen Teil eine starke Verwandlungsfähigkeit habe, die niemand bemerkt. Wie oft mußte ich Max nachmachen. Gestern abend auf dem Nachhauseweg hätte ich mich als Zuschauer mit Tucholsky verwechseln können. Das fremde Wesen muß dann in mir so deutlich und unsichtbar sein wie das Versteckte in einem Vexierbild, in dem man auch niemals etwas finden würde, wenn man nicht wüßte, daß es drin steckt. Bei diesen Verwandlungen möchte ich besonders gern an ein Sichtrüben der eigenen Augen glauben.

Zu einer weiteren Begegnung zwischen Tucholsky und Kafka ist es offenbar noch einmal in Berlin gekommen. Das geht aus einem Brief Tucholskys an Marierose Fuchs aus dem Oktober 1930 hervor:

Kafka. Ganz großer Mann. Ich habe ihn noch gekannt – aus Berlin und Prag. Willy Haas hat schön über ihn geschrieben. Ein großer Dichter.

Vermutlich traf sich die beiden vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin, als Kafka seine damalige Freundin Felice Bauer dort besuchte. Mehr Details sind dazu jedoch nicht bekannt.

Nach dem Krieg lobte Tucholsky in der Weltbühne Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ überschwänglich.

Dieses schmale Buch, ein wundervoller Drugulin-Druck, ist eine Meisterleistung.

Seit dem Michael Kohlhaas ist keine deutsche Novelle geschrieben worden, die mit so bewußter Kraft jede innere Anteilnahme anscheinend unterdrückt, und die doch so durchblutet ist von ihrem Autor.

(…) dieses Kunstwerk ist so groß, daß es keiner Entschuldigung bedarf, und eine Allegorie ist erst recht nicht vonnöten. Es ist ganz etwas andres.

Ihr müßt nicht fragen, was das soll. Das soll garnichts. Das bedeutet garnichts. Vielleicht gehört das Buch auch garnicht in diese Zeit, und es bringt uns sicherlich nicht weiter. Es hat keine Probleme und weiß von keinen Zweifeln und Fragen. Es ist ganz unbedenklich. Unbedenklich wie Kleist.

Peter Panter, Die Weltbühne, 3. Juni 1920

Im darauf folgenden Jahr besuchte Tucholsky eine Lesung des Vortragskünstlers Ludwig Hardt, die er zu einer weiteren Eloge nutzte:

Franz Kafka. Wer das ist, wissen leider noch viel zu Wenige – ich habe einmal über seine „Strafkolonie“ referiert und will es nächstens über den ganzen Mann tun. Er ist ein Großsohn von Kleist – aber doch ganz selbständig. Er schreibt die klarste und schönste Prosa, die zur Zeit in deutscher Sprache geschaffen wird. Er blüht von Phantastischem und Phantasie – aber fest und sachlich sind Sätze und Rhythmus gestaltet. Nichts von der konventionellen Weichheit Prags, in welcher Stadt er wohnt – nichts von Modeströmung. Das ist auf einer andern Welt gewachsen.

Peter Panter, Die Weltbühne, 1. Dezember 1921

Zu dem Referat „über den ganzen Mann“ kam es jedoch nicht mehr.

Am 14. Juni 1924 schrieb Tucholsky aus Paris an seine Frau Mary Gerold:

Franz Kafka ist gestorben, von dem „In der Strafkolonie“ ist. Ludwig Hardt hat ihm einen schönen Nachruf geschrieben

Wenige Tage später erläuterte er in einem weiteren Brief an seine Frau:

Kafka ist mit 41 Jahren gestorben, an Lungenschwindsucht. Er wußte das seit Jahren. Ich kannte ihn – vor dem Kriege – als einen langen, magern, braunen Menschen, dunkel, sehr schweigsam, sehr schüchtern und zurückhaltend. Im Gegensatz zu Max Brod, der mir nicht recht gefiel und mir in Prag und Berlin eine große Enttäuschung war, liebte ich Kafka – ohne eine Zeile von ihm zu kennen. Er wollte nie etwas veröffentlichen – Brod mußte ihm alles einzeln aus der Schublade ziehen. Es heißt, er habe einen großen Roman vernichtet. Ich sehe in seinen Sachen das beste klassische Deutsch unserer Zeit. – Er war Schreiber bei einer Versicherungsgesellschaft.

Bekanntlich ging Kafkas literarische Karriere nach seinem Tod erst richtig los. Denn Brod veröffentlichte postum mehrere Werke, die er eigentlich vernichten sollte. So konnte Tucholsky im Herbst 1925 den „Prozeß“ in den Händen halten und schrieb im November 1925 an Brod:

Mit der größten Erschütterung habe ich den Prozeß von Franz Kafka gelesen. Ein Brief reicht nicht aus, um zu sagen, was ich empfunden habe.

An den Kunsthändler Eduard Plietzsch schrieb Tucholsky wenige Tage später:

Kafka, Der Prozeß, scheint mir eine ganz dicke Sache zu sein. Mir ist es immerzu den Rücken herauf- und wieder runtergelaufen. Lesen Sie das mal, bitte.

Die Rezension in der Weltbühne folgte erst drei Monate später. Gleich am Anfang verlieh Tucholsky seiner Ratlosigkeit Ausdruck:

Wenn ich das unheimlichste und stärkste Buch der letzten Jahre: Franz Kafkas „Prozeß“ (im Verlag Die Schmiede zu Berlin) aus der Hand lege, so kann ich mir nur schwer über die Ursachen meiner Erschütterung Rechenschaft ablegen. Wer spricht? Was ist das?

Peter Panter, Die Weltbühne, 9. März 1926

Schon unmittelbar nach der Lektüre hatte Tucholsky bei Brod um Interpretationshilfe gebeten.

Können und wollen Sie mir das schicken, was Sie etwa an anderer Stelle über das Buch geschrieben haben? Wenn es dergleichen nicht gibt: wollen Sie mir Ihre Ansicht – kurz, denn Sie werden andres zu tun haben – über Deutung, Anlage, Symbol des Werkes schreiben? Sie täten mir damit einen großen Gefallen.

In der Rezension selbst stellte er klar:

Mit Kafka selbst konnte man natürlich nie über Deutungen sprechen, auch bei der größten Intimität nicht. Er selbst deutete so, daß die Deutungen neuer Deutungen bedürftig wären. So wie ja auch sein Prozeß nie recht entschieden werden kann.

Dieser Prozeß ist selbstverständlich, wie auch aus Brods Darlegungen im Nachwort hervorgeht, niemals eine Allegorie gewesen. Er ist sofort als Symbol konzipiert, tatsächlich hat sich das Symbol selbständig gemacht, es lebt sein eignes Leben.

In der Besprechung des Romans hat Tucholsky den Kafka-Kult der vergangenen 100 Jahre bereits vorweggenommen.

Franz Kafka wird in den Jahren, die nun seinem Tode folgen, wachsen. Man braucht Niemand zu ihm zu überreden: er zwingt. Wände beleben sich, die Schränke und Kommoden fangen an zu flüstern, die Menschen erstarren, Gruppen lösen sich auf und bleiben wieder wie angebleit stehen, nur der Wille zittert noch leise in ihnen. Man sagt von Tamerlan, er habe einmal seine Gefangenen mit Mörtel zu einer Mauer zusammenmauern lassen, zu einer brüllenden Mauer, die langsam verzuckte. So etwas ist es. Ein Gott formt eine Welt um, setzt sie neu zusammen, ein Herz steht am Himmel und scheint nicht, sondern klopft; ein Fetisch wandelt, eine Apparatur wird lebendig, nur, weil sie da ist, die Frage Warum? ist so töricht, beinah so töricht wie in der realen Welt.

Deren Teile sind da – aber sie sind so gesehen, wie der Patient kurz vor der Operation die Instrumente des Arztes sieht: ganz scharf, überdeutlich, durchaus materiell – aber hinter den blitzenden Stücken ist noch etwas Andres, die Angst brüllt der Materie in alle Poren, erbarmungslos steht das Operationsbett, hab doch Mitleid! sagt der Kranke, auch du! Das Bett ist so fremd, aber es ist doch im Bunde.

Ein solcher Wille begründet Sekten und Religionen – Kafka hat Bücher geschrieben, einige wenige, unerreichbare, niemals auszulesende Bücher. Hätte sich der Schöpfer anders besonnen, und wäre dieser in Asien geboren: Millionen klammerten sich an seine Worte und grübelten über sie, ihr Leben lang.

Wir dürfen lesen, staunen, danken.

Weder Tucholsky noch die Weltbühne verwendeten den Begriff kafkaesk oder kafkisch, was laut Duden „nach Art der Schöpfungen Kafkas“ bedeutet.

Allerdings hat Tucholsky schon im Juli 1928 in einem Brief an Brod von der besonderen Wirkung berichtet, die von Kafkas Texten ausgeht:

Ich habe einmal eine Seite Aphorismen Kafkas gelesen, von denen mir ganz angst geworden ist. Man fragt sich immerzu: „Wer war das? Was ist das?“ Es gibt, wie mir scheint, überhaupt ein „Kafka-Gefühl“, ein Gefühl, das man nur beim Lesen seiner Werke hat. Über „Amerika“ schreibe ich bestimmt noch – das Buch hat eine ganz große Wirkung bei mir hinterlassen, größer noch als das „Schloß“ – es sind einige ganz vollendete Seiten darin.

Diese letzte Kafka-Rezension Tucholskys erschien im Februar 1929 in der Weltbühne.

Ich habe mich mit dem „Schloß“ Kafkas nicht im gleichen Maße befreunden können – es ist das ein Buch, in dem eine „Deutung“ der Vorgänge fast unumgänglich nötig erscheint, und weder hat mir die Deutung noch die Handlung gefallen. Hier in „Amerika“ aber ist jeder Vorgang Selbstzweck, dichterische Frucht und Blüte schmerzlicher Erkenntnis. Es läuft da ein Band vom Dostojewskischen Idioten über Schwejk zu der Hauptfigur des kleinen Karl – sie wehren sich gegen das Leben nicht, aber sie sind so allein und siegen noch in den Niederlagen. Was immer wieder an Kafkas Werk zur größten Bewunderung zwingt, ist die Unwiderruflichkeit der Szenen und ihre traumhafte Eindringlichkeit

Am schönsten an diesem großen Werk ist die tiefe Melancholie, die es durchzieht: hier ist der ganz seltene Fall, daß einer „das Leben nicht versteht“ und recht hat.

Peter Panter, Die Weltbühne, 26. Februar 1929

Zu seinem 100. Todestag hat Kafka sogar einen „Spiegel“-Titel bekommen. Tucholsky würde sich sicher darüber freuen und die Kafka-Lektüre mit den Worten empfehlen:

Sie meinen, das Buch sei schon vor langer Zeit erschienen? Ich meine, daß es eine Albernheit ist, nur „Neuerscheinungen“ zu kaufen – als ob man der Literatur mit der Fixigkeit nahe käme! Wir wollen nicht das Neuste lesen – wir wollen das Beste, das Bunteste, das Amüsanteste lesen. Ja, also Amerika.

Und natürlich immer mal wieder was von Tucholsky.

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