Tucholsky und die Statistik des Todes
Als engagierter Pazifist und Antimilitarist hat sich Kurt Tucholsky in seinen Texten intensiv mit dem Thema Krieg beschäftigt. Sein Diktum „Soldaten sind Mörder“ wird immer noch stark rezipiert und ist heute so umstritten wie im Jahr 1931, in dem es geprägt wurde.
Kaum weniger häufig wird Tucholsky ein Spruch zugeschrieben, der eine sehr zynische Auffassung vom Wert des Menschenlebens vertritt:
„Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe; aber hunderttausend Tote: das ist eine Statistik.“
Dieser Satz findet sich in der Tat in einem Artikel Tucholskys aus dem Jahr 1925. In „Französischer Witz“ beschäftigt er sich mit mehreren neu herausgekommenen Witzsammlungen in seinem Gastland. Die gesamte Passage lautet:
Das Spezifische des französischen Witzes ist seine Leichtigkeit, seine Delikatesse, seine Eleganz. Da schreibt etwa der zurückgetretene Minister an den Staatssekretär des Post- und Telegraphenwesens eine Stunde nach seinem Sturz: „Sehr verehrter Herr Kollege! Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern …“ Die Handbewegung, mit der eine Formulierung herausgebracht wird, ist ganz locker. Es wird von den Schrecknissen des Krieges gesprochen. Darauf sagt ein Diplomat vom Quai d’Orsay: „Der Krieg? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe; aber hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!“ Die Sprache dieser Diplomaten ist eben die französische, und die Definition des Berufes heißt so: „Ein Diplomat, mein liebes Kind, ist ein Mann, der das Geburtsdatum einer Frau kennt und ihr Alter vergessen hat!“
Es ist also ganz offensichtlich, dass Tucholsky diesen zynischen Spruch nicht selbst geprägt hat. Dass dieser ebenso häufig dem sowjetischen Diktator Stalin zugeschrieben wird, dürfte Tucholsky sicherlich nicht als schmeichelhaft empfunden haben. In mehreren Untersuchungen zum Ursprung des Zitats, beispielsweise auf Quote Investigator oder bei Oxford Reference, wird Tucholsky dennoch ausdrücklich als Urheber genannt.
Das Problem an der bisherigen Quellenlage: Aus Tucholskys Text geht nicht hervor, in welcher der genannten Sammlungen sich dieser Witz befindet. Daher war eine exakte Quellenangabe bislang nicht möglich.
Über die Antiquariatsplattform ZVAB kann man jedoch an die besprochenen Bücher gelangen. Und siehe da, gleich in dem erstgenannten wird man fündig. Der Witz findet sich in: J.-W. Bienstock et Curnonsky: T.S.V.P. Petites histoires de tous et de personne. Paris: Crès 1924, S. 6f
Un soir, dans un salon mondain. Des gens dissertent sur la guerre. Un ancien combattant raconte en termes émus la mort d’un de ses amis. Une dame pleure, elle songe à son mari mort au champ d’honneur.
– La guerre est une chose terrible, unjustifiable, soupire-t-elle.
Alors, un diplomate bien connu du quai d’Orsay, qui jusque-là n’avait pas pris part à la conversation, dit avec une tranquille suffisance.
– La guerre? ce n’est pas si terrible! La mort d’un homme est en effet chose épouvantable, mais cent mille morts, c’est une statistique.Eines Abends in einem mondänen Salon. Einige Leute unterhalten sich über den Krieg. Ein Veteran erzählt in bewegten Worten vom Tod seines Freundes. Eine Frau weint und denkt an ihren Mann, der auf dem Feld der Ehre gefallen ist.
– Der Krieg ist etwas Schreckliches, nicht zu rechtfertigen, seufzt sie.
Da sagt ein bekannter Diplomat vom Quai d’Orsay, der sich bis dahin nicht an dem Gespräch beteiligt hatte, mit ruhiger Selbstgefälligkeit.
– Der Krieg? Der ist gar nicht so schlimm! Der Tod eines Menschen ist in der Tat etwas Furchtbares, aber hunderttausend Tote, das ist eine Statistik.
Der Witz im Original.
Doch wer sind die Autoren Bienstock und Curnonsky?
Jean-Wladimir Bienstock war laut Wikipedia ein französisch-russischer Rechtsanwalt, Schriftsteller und Übersetzer. Er wurde 1868 in der Ukraine geboren und starb 1933 in Paris. Der zum Katholizismus konvertierte Jude übersetzte wichtige russische Autoren wie Tolstoi und Dostojewski ins Französische.
Hinter dem Pseudonym Curnonsky verbirgt sich Maurice Edmond Sailland (1872-1956), ein französischer Romanautor, Gastronom, Humorist und Restaurantkritiker, der zum „Prinz der Gastronomen“ avancierte.
Von wem nun Bienstock und Curnonsky den Witz aufgeschnappt oder ob sie ihn sich selbst ausgedacht haben, wird wohl für immer deren Geheimnis bleiben. Zumindest, solange keine frühere Quelle dafür auftaucht.
Erstaunlich bleibt auf jeden Fall die Tatsache, dass der Spruch in seinem Ursprungsland nicht so verbreitet ist wie im deutsch- oder englischsprachigen Raum. Der französische Jura-Professor Patrick Morvan, der sich ebenfalls mit Ursprung des Zitats beschäftigt hat, brachte dessen Irrwege wie folgt auf den Punkt:
Der Satz, der in den Augen eines frankophilen Deutschen und Liebhabers von Bonmots die Quintessenz des französischen satirischen Geistes war, landete über einen Umweg, dessen Geheimnis die Geschichte kennt, in Stalins Mund!
Umschlag des Buches.
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