26.11.2024

Merkwürdige Schigolche und eine neue Romanze – Rezension zu Stephan Berelsmanns „Kurt Tucholsky Neuschnee“

Wenn man Tucholsky Glauben schenken darf, gibt es im wirklichen Leben keinen Neuschnee. Das hat den Braunschweiger Pädagogen Stephan Berelsmann nicht davon abgehalten, seine Sammlung von Tucholsky-Texten, die nicht in der Gesamtausgabe enthalten sind, mit „Neuschnee“ zu betiteln.

Daher fragt man sich verwundert: Sind die Texte denn nun „neu“, oder sind sie es nicht? Und vor allem: Sind sie überhaupt von Tucholsky?

Dass hin und wieder unbekannte Texte oder Briefe von Tucholsky auftauchen, ist hingegen nichts Neues. Selbst auf dem Sudelblog wurde vor einigen Jahren ein solcher Brief erstmalig veröffentlicht. In „Neuschnee“ ist er jedoch nicht zu finden. Berelsmann war die Veröffentlichung nicht bekannt.

Wie kam der 61-Jährige, der schon seine Examensarbeit über Tucholsky schrieb, an seine Fundstücke? Der Einleitung zufolge verdankt das Buch seine Entstehung dem Internet (wem sonst) und zunächst dem Portal Europeana.eu. Für eine Recherche in historischen Zeitungen dürfte inzwischen das Deutsche Zeitungsportal besser geeignet sein. Während Europeana zwischen 1911 und 1933 nicht einmal 200 Fundstellen für „Tucholsky“ auflistet, kommt das Zeitungsportal auf mehr als 1.000.

Das Problem bei einer solchen Archivsuche: Tucholsky schrieb bekanntlich nicht nur unter seinem bürgerlichen Namen, sondern unter allerhand Pseudonymen. Dabei verfügte der Mann mit den 5 PS über deutlich mehr Pferdestärken. Neben Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel gehörten dazu auch Schigolch, Die Claire oder Horatio von Massarena. Manche Texte unterzeichnete er mit „Von einem Berliner“, oder, gerade in den Anfangsjahren, einfach mit Kurt, Peter, Ignaz, Kaspar, K.T., tu., iwro. und bisweilen gar nicht. Es ist daher praktisch ausgeschlossen, nur über eine Volltextsuche im digitalen Heuhaufen auf Neuschnee zu stoßen.

Nicht nur aus diesem Grund ist es eine erstaunliche Leistung, dass Berelsmann auf diese Weise überhaupt Texte ausfindig gemacht hat, die von Tucholsky sind oder von ihm sein sollen. So enthält der Band gleich acht Texte, die unter dem Pseudonym Schigolch in deutschen Zeitungen erschienen sind. Schigolch ist eine literarische Figur aus dem Drama „Erdgeist“ von Frank Wedekind. Der Ganove Schigolch ist der Vater der Hauptfigur Lulu. Tucholsky nutzte das Pseudonym zweimal in der „Schaubühne“ im Jahr 1913. Laut Gesamtausgabe erfolgte die Zuschreibung durch ein Widmungsexemplar des betreffenden Jahrgangs, in dem Tucholsky die von ihm verfassten Beiträge angestrichen hatte.

Was neben den vielen Pseudonymen bei der Suche erschwerend hinzukommt: Die Digitalisate der Zeitungsbibliothek sind alles andere als perfekt. So ist der Autorenname Schigolch mal mit „Sohigoloh“, mal mit „Schigo.oh“ oder gesperrt mit „S ch i g o l ch“ vom Texterkennungsprogramm erfasst worden. Man findet die angegebenen Texte zwar in dem Archiv, aber nur, wenn man nach anderen Begriffen oder bestimmten Phrasen sucht.

Berelsmann hat fünf Schigolch-Texte aus dem Zeitraum Februar 1921 bis Februar 1924 im Vorwärts (4) und in der Freiheit (1) entdeckt. Die Autorschaft Tucholskys darf sowohl von den Inhalten als auch vom Stil her angenommen werden. Auch das Ende des genannten Zeitraums ist plausibel: Im April 1924 zog der von der Situation in Deutschland frustrierte Journalist nach Paris. Der Artikel „Das neue Berlin„, ein fiktiver Brief des „Fraulein Liselotte v. X an ihre Freundin Ursula v. Y.“ erschien in der Heimwelt, der Unterhaltungsbeilage des Vorwärts.

Doch Berelsmann hat noch mehr Schigolche ausfindig gemacht. Diese erschienen in den Jahren 1925 und 1926 in Provinzblättern wie den Westfälischen neuesten Nachrichten oder der Badischen Presse. Exemplarisch sei der Artikel „Die Fahrprüfung“ vom Oktober 1925 genannt.

Darin schildert der Autor, wie er zusammen mit 14 anderen Personen, darunter zwei Frauen, in Berlin seine Fahrprüfung absolviert. Und sie am Ende sogar besteht. Der Text ist zwar eine Glosse und macht sich über Prüfungssituation lustig. Aber biografische Details, die Schigolch erwähnt, sprechen gegen eine Autorschaft Tucholskys. So bezeichnet sich der Autor als gedienter Einjährig-Freiwilliger, was auf Tucholsky nicht zutrifft. Dieser machte das sogenannte Einjährige zwar zwei Mal, absolvierte aber nicht den einjährigen Wehrdienst, sondern machte erst 1915 als Weltkriegssoldat seine Bekanntschaft mit dem Militär.

Außerdem darf als ausgeschlossen gelten, dass Tucholsky Zeit seines Lebens den Autoführerschein machte oder selbst Auto fuhr. So heißt es in der Autobiografie von Lisa Matthias, Tucholskys Lottchen, auf Seite 113:

Die gemeinsamen Reisen in meinem Wagen wurden in Zukunft eine Quelle des Vergnügens für uns beide. Tucholsky verstand absolut nichts von Technik oder Mechanik und war deshalb ein sehr angenehmer Beifahrer.

In einem Brief an seinen Freund Walter Hasenclever vom 4. Januar 1934 schrieb er: „Gratulor zum Auto. Für Sie ist das gut und vernünftig. Sie brauchen Bewegung, und ich verstehe das durchaus. Ist es ein schöner Wagen? War der Kauf wenigstens günstig?“ In seinen Texten und Briefen findet sich kein Hinweis darauf, dass Tucholsky selbst einmal am Steuer saß oder ein Auto kaufte.

Dieses Detail spielt in einem anderen Schigolch-Text aber eine wichtige Rolle. So steht in dem Artikel „Das Todesrennen auf der Avus“ vom 16. Juli 1926 in der Badischen Presse der Satz:

Ein herrlicher Tag voller Sonne und Hitze, ich kam mit meinem Wagen nicht rasch durch die Straßen, Auto hinter Auto stand eingepfercht in den Zufahrtsstraßen und die Insassen saßen aufgebracht in ihren Polstern, und ich muss sagen, dass ich, der ich selbst geduldig bin, ebenfalls aufgebracht war, denn wir hielten in einer asphaltierten Seitenstraße und die Sonne brannte und die Motoren von vielen Hunderten von Wagen liefen und brummten und entwickelten eine infernalische Hitz, uns allen lief der Schweiß beinahe in die Augen.

Berelsmann schließt die Autorschaft Tucholskys für diesen Text aus, weil dieser zum Zeitpunkt des Todesrennens nicht in Berlin weilte, sondern zusammen mit Alfred Polgar in Garmisch-Partenkirchen an einer Revue schrieb.

Das heißt: Es gab also offensichtlich einen anderen Autor, der in den Jahren 1925 und 1926 in Berlin lebte und unter dem Pseudonym Schigolch Texte über Berlin veröffentlichte. Tucholsky hielt sich hingegen zwischen Januar 1925 und September 1926 vermutlich gar nicht in Berlin auf.

Daher verwundert, dass Berelsmann ihm ebenfalls einen Schigolch-Artikel aus 1926 zuschreibt, der mit „Berlin, im August“ eingeleitet wird. Der Text „Berlins Atmosphäre. Episoden aus der Straße“ aus der Badischen Presse liest sich bisweilen wie ein Schüleraufsatz.

Er wird, wenn er etwa nach Wannsee hinausfährt, höchstens oben im Walde durch die Bäume den neuen Golfplatz sich ansehen, vor dessen schönen Gebäuden jederzeit, vom Morgen bis zum späten Abend eine Auslese von herrlichen Autos steht, er wird, wenn es hoch kommt, sich das Stadion ansehen, mit den weitgeschweiften Bahnen und Tribünen, er wird müde vom Sehen und Laufen sich am Kurfürstendamm niederlassen und den Reitern und Reiterinnen zusehen, die in der Mitte dieser schönen Straße unter den Bäumen, die man nun bald fällen wird, daherreiten, um in den Tiergarten zu kommen oder in den Grunewald, kurz, er wird nur einen Hauch von Berlin atmen, und dieser Hauch wird ihn alsbald sehr ermüden.

Ermüdend wie die Wanderung durch Berlin sind auch solche Endlossätze. Die Episoden, die Schigolch schildert, haben sich erst kurz vor dem Verfassen des Artikels ereignet. Sehr unwahrscheinlich, dass Tucholsky sie in Berlin erlebt und geschildert hat.

Was an der Sammlung ebenfalls verwundert: Die beiden Stücke des Proletarischen Kasperle-Theaters von Kaspar Hauser („Die entartete Prinzess“, „Kasperle als Spitzel“) werden ebenfalls Tucholsky zugeschrieben. Dabei wurde in der Literaturwissenschaft bislang Jörg Mager als Autor angenommen, wozu in „Neuschnee“ entsprechende Arbeiten genannt werden, zuletzt 2013 die Diplomarbeit von Magdalena Schnitzer. Nun schreibt Berelsmann jedoch lapidar: „Zehn Jahre später geht man jedoch von Kurt Tucholsky als Verfasser aus.“

Ist das wirklich so? Und wer genau ist „man“? Auf Nachfrage schrieb Berelsmann:

Belege aus der Literaturwissenschaft kenne ich nicht, aber wenn man die Titel z.B. im Katalog der gvk sucht, wird KT als Autor genannt.

Der GVK ist ein gemeinsamer Verbundkatalog der beiden großen deutschen Bibliotheksverbünde GBV und SWB.

Im GVK findet sich in der Tat ein entsprechender Eintrag. Das könnte man beispielsweise zum Anlass nehmen, um bei der verantwortlichen Berliner Staatsbibliothek nachzufragen, auf welcher Basis die Zuordnung erfolgte. Schließlich hatten die Herausgeber der Gesamtausgabe ihre Gründe, weder das „Proletarische Kasperletheater“, noch „Die verkehrte Welt: in Knüttelversen dargestellt“ als Tucholsky-Werke aufzunehmen. Doch Berelsmann ficht das nicht an.

Das ist auf der einen Seite bedauerlich, macht es auf der anderen Seite aber verständlich, warum der Rowohlt-Verlag die Sammlung als “ zu disparat“ empfand und sie nicht als Ergänzung der Gesamtausgabe verlegen wollte. Das Buch ist stattdessen im Würzburger Verlag Königshausen & Neumann erschienen.

Bedauerlich auch deswegen, weil es den Blick auf die übrigen Fundstücke stark trübt. Zwar sind darunter keine Texte, die völlig neue Facetten von Tucholskys Werk aufzeigen. Glitzernder Neuschnee ist hingegen der Brief an Käthe Löffler vom 10. Dezember 1933.

Tucholskys rechnet darin unter anderem mit der Situation im nationalsozialistischen Deutschland ab und empört sich über die Haltung Frankreichs, Englands und des Papstes. Die Exilpresse findet wenig Gnade.

Das Tagebuch ist lebendig und ganz nett, die Neuen Deutschen Blätter in Prag gesinnungstüchtig links, ach Gott, und die „Sammlung“ so indecis und lau wie Kläuschen Mann, der sie macht und der nun vergeblich versucht, ein kleiner Held zu sein.

Dieser Brief enthält zudem Formulierungen, die aus anderen Briefen Tucholskys bereits bekannt sind. So das bekannte Diktum:

Die Haltung der deutschen Juden ist eine Affenschande. Nicht die Germanen sind verjudet, sondern diese Juden sind verbocht.

Deren nachgiebiges Verhalten kritisiert er weiter mit den Worten:

Ebert hat einen neuen Typus in die Politik eingeführt: den Judas ohne Silberlinge. Die deutschen Juden eifern ihm wacker nach.

Laut Berelsmann harrt das Diktum zu Ebert „seines Eingangs in die ‚Litteraturgeschichte'“. Allerdings findet sich diese von Tucholsky häufig verwendete Formulierung erstmals schon 1925 in dem Text „Zwei Sozialdemokratien“.

Aber wer ist die Adressatin des Briefes, Käthe Löffler? Die Gesamtausgabe konnte hinter ihrem Nachnamen, der in einem Brief erwähnt wird, noch keine Person ermitteln.

Tucholsky verabschiedet sich von ihr mit den Worten:

Dies ist wie die Bekanntschaft zweier Liebender auf dem Lande, die sich erst „brieflich nähertreten“. Na, dann treten wir also.

Wo und wann sich die beiden kennenlernten, konnte auch Berelsmann nicht ermitteln. Ein erster Brief Tucholskys an die „Liebe Doktorin“ datiert vom Februar 1932. Darin bedankt er sich über zwei Briefe, die er bereits von ihr erhalten hat. Offenbar war er von der Ärztin sehr angetan:

Sie sind ein guter Mann, und ich beginne, Sie in mein wertes Herz zu schließen.

Das ist bemerkenswert. Denn wenn Tucholsky Frauen besonders schätzte, neigte er dazu, sie zu vermännlichen. Seine zweite Frau Mary Gerold sprach er in Briefen stets mit „Er“ an.

Im August 1933 schrieb Tucholsky an seinen nach Prag emigrierten Bruder Fritz: „Die Adresse der Löffler hätte ich gern.“ Zu diesem Zeitpunkt war die sozialistische Ärztin jedoch schon nach Brasilien ausgewandert. Tucholsky bedauert, dass er den Schritt nach Südamerika nicht selbst wagen kann.

Ich wünschte, ich könnte Ihnen nachfolgen. Aber meine Rolle war ja schon prekär hier; wie sollte sie da sein?

Ein weiterer Brief an Löffler ist in dem Band nicht enthalten.

Kann man aber mit den recht wenigen Texten und Briefen, die gesichert von Tucholsky stammen, ein 540-seitiges Buch füllen? Mit Sicherheit nicht. Den größten Teil des Buches machen mit mehr rund 230 Seiten zwei Versionen einer Revue aus, die Tucholsky zusammen mit Alfred Polgar verfasste. „Der Untergang des Abendlandes“, nach dem gleichnamigen Buch Oswald Spenglers benannt, wurde jedoch nie aufgeführt.

Tucholsky veröffentlichte anschließend fünf Texte daraus in der „Weltbühne“: „Gebet eines Zeitungslesers“, „Wendriners setzen sich in die Loge“, „Lied der Kupplerin“, „Der Traum – ein Leben“ und „Theater“.

Immerhin scheinen die Autoren in der Revue schon das Lebensmotto Donald Trumps vorweggenommen zu haben:

Wir zischeln und flüstern
wir sagens zehn Mal.
Wir wissen das schon:
Lüge wird Wahrheit durch Repetition.

Eine junge Frau, Baby genannt, singt treffend:

Der Schlager, so viel steht einmal fest
Ist eine musikalische Pest.
Ansteckung: leicht. Heilung: schwer.
Der Kranke leidet wenig. Die andern sehr –

Auf weiteren rund 40 Seiten hat Berelsmann ungesicherte Texte zusammengetragen. Die meisten davon stammen aus dem Prager Tagblatt, das Berelsmann nach eigenen Angaben komplett durchgeblättert hat. Manche Artikel davon sind nur mit Peter oder P.P. unterzeichnet, manche mit Kaspar oder gar nicht. Die Autorschaft ergibt sich dabei für Berelsmann beispielsweise aus dem Sujet „Theater“ und dem Tonfall.

Nicht von Tucholsky dürfte wohl der „Brief aus dem Ruhrkohlenrevier“ stammen, der im April 1919 in der Castroper Zeitung erschien und „Von einem Berliner“ unterzeichnet ist. Der Text passt weder von Sujet noch Tonfall zu Tucholsky, der im Frühjahr 1919 sehr stark in Berlin eingespannt war und in dieser unsicheren Zeit vermutlich nicht mit dem Zug nach Köln gefahren ist.

Im Text „Der gesprochene Liebesbrief“ nahm ein pp im Prager Tagblatt schon 1925 die Sprachnachrichten von Whatsapp vorweg:

Aus Berlin kommt eine neue Erfindung, der „sprechende Brief“. Man spricht, was man bisher dem Papier anvertrauen wollte, in einen kleinen Aufnahmeapparat (…)

Dieser Aufnahmeapparat war allerdings kein Smartphone, sondern ein „Stückchen Karton“, das dann per Post verschickt werden musste. Von Tucholsky ist nicht bekannt, dass er eine solche Sprachnachricht hinterlassen hat. Die Reichspost führte das Verfahren ohnehin erst im August 1938 ein.

Zu guter Letzt listet Berelsmann auf fast 50 Seiten noch Nachdrucke von Tucholskys Werken auf, die noch nicht in der Gesamtausgabe aufgeführt sind. Was man halt so alles findet, wenn man die Vorzüge der Digitalisierung bei der Suche nach Neuschnee zu nutzen weiß.

Angesichts der genannten Einwände stellt sich daher die Frage, ob sich die Anschaffung des Softcover-Buches zum Preis von 48 Euro lohnt. Neben echten Fundstücken wie den Löffler-Briefen besteht der Großteil der Sammlung aus den Kasperle-Stücken und den beiden Revue-Versionen.

Die Entscheidung fiele leichter, wenn Berelsmann etwas kritischer mit den Zuschreibungen umgegangen wäre und versucht hätte, in Zusammenarbeit mit anderen Tucholsky-Kennern und -Sammlern weitere Texte zu finden. Eine Diskussion über die Attribution der Texte wäre sicherlich auch ein lohnenswertes Thema für eine wissenschaftliche Tagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft. Das wäre allemal besser, als dieselben Themen wie „Tucholsky und die Medien“ oder „Tuchosky und der Pazifismus“ immer und immer wieder durchzukauen.

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