21.3.2023

Rezension: Man hat etwas gegen Sie vor. Kurt Tucholsky in Köln 1928/29

Auf den ersten Blick mutet es ein bisschen verwegen an, die wenigen Aufenthalte Kurt Tucholskys in Köln zu einem kompletten Büchlein auszuwalzen. Was in den gängigen Tucholsky-Biografien kaum mehr als eine Fußnote wert ist, hat der Kölner Historiker Mario Kramp auf knapp 90 Seiten dargestellt. Da Kramp einen sehr weiten Boten schlägt, – von Tucholsky Umzug nach Paris im Jahr 1924 bis zu dessen Tod im schwedischen Exil elf Jahre später -, hat das Büchlein dennoch genug Substanz und Unterhaltungswert. Nicht nur, aber gerade auch für Tucholsky-Fans.

Funktionieren kann nur, weil Kramp möglichst alle ihm verfügbaren Quellen auswertet, die sich mit Tucholskys Besuchen in der „Domstadt“ befassen. Und diese gibt es zuhauf. Denn Tucholsky weilte am Rhein nicht zum Vergnügen. In den Jahren 1928 und 1929 hat er vier Vorträge in Köln gehalten. Einen davon sogar im damals recht neuen Rundfunk.

Kramp fördert dabei interessante Berichte zutage, die ein gutes Licht auf die zeitgenössische Tucholsky-Rezeption werfen. Wie kaum anders zu erwarten, zeigten die damaligen Zeitungsartikel die tiefgehenden Risse, die durch die Gesellschaft der Weimarer Republik gingen.

Tucholsky war damals ebenso populär wie verhasst. Sein Kampf gegen den Militarismus passte den nationalistischen und reaktionären Kreisen ebenso wenig wie sein Werben für eine deutsch-französische Verständigung. Gerade am Rhein, der immer noch von französischen Truppen besetzt war. Die Tucholsky-Rezeption in Köln kann dabei exemplarisch für die Situation in der deutschen „Provinz“ stehen, was dieser in einem gleichnamigen Text in der Weltbühne vom Mai 1929 analysiert hat.

Von einer eindringlichen Warnung eines unbekannten Unterstützers ließ sich Tucholsky nicht davon abbringen, am 27. September 1928 einen Vortrag im Gebäude des Kunstvereins am Friesenplatz zu halten. „Man hat etwas gegen Sie vor“, hieß es in dem maschinengeschriebenen Hinweis.

Anders als im November 1929 in Wiesbaden sind Tucholskys Vorträge in Köln jedoch nie gestört worden. Ganz im Gegenteil. Seine Zuhörer waren meist begeistert über Inhalt und Art des Vortrags. Kronzeuge dafür ist auch bei Kramp der damalige Germanistikstudent Hans Mayer, der sich später als Literaturwissenschaftler mit dem „pessimistischen Aufklärer“ Kurt Tucholsky auseinandergesetzt hat.

Der Kölner Stadt-Anzeiger notierte damals:

Intellektuelles Volk drängt sich zuhauf im Kunstverein. Kein Stuhl bleibt unbesetzt. An den Wänden stehen Zuhörer, in den Gängen, an allen Ecken und Enden des überhitzten Raumes.

Das Thema des Vortrags lautete „Frankreich heute“. Laut Mayer versuchte Tucholsky den Zuhörern „die völlig andere Lebens- und Denkart des bürgerlichen Frankreich darzustellen“.

Deutlich mehr Aufsehen und Kontroversen erzeugte Tucholskys nächster Vortag in Köln. Denn damit erreichte der Schriftsteller nicht nur seine Fans, sondern auch seine Gegner. Am 22. März 1929 las er im Westdeutschen Rundfunk aus seinen Werken vor. Anschließend beschwerte sich ein Kreisverband der rechtskonservativen DNVP bei Rundfunkintendant Ernst Hardt über den Vortrag. Es sei

eine ungeheure Brüskierung weitester Kreise der Hörerschaft, einen Mann wie Tucholsky, Panther, Ignatz Wrobel usw. im Westdeutschen Rundfunk sprechen zu lassen, dazu noch am Tag des Buches.

Hardt entgegnete mit dem bemerkenswerten Satz:

jeder Hörer, welcher Tucholski nicht schätzt und nicht zu hören wünscht, konnte sich ja seiner Vorlesung durch Abschalten des Apparates entziehen.

Die Cancel Culture ist wahrlich kein neues Phänomen.

Leider ist von dem Vortrag keine Aufzeichnung erhalten. Sonst wäre auf diese Weise die Stimme Tucholskys der Nachwelt überliefert worden.

Am folgenden Tag, Karsamstag, gab es einen weiteren Vortrag. Dieses Mal in der Kölner Lesegesellschaft in der Langgasse. Tucholsky trug dabei wohl aus seinen Sammelbänden Mit 5 PS und Das Lächeln der Mona Lisa vor. Das Kölner Tageblatt lobte den Autor für „die glänzendste und überlegenste Zeitkritik, die man sich nur denken mag“.

Nicht ganz zutreffend scheint Kramps Behauptung, wonach Tucholsky am nächsten Morgen, dem 24. März 1929, nach Berlin aufgebrochen sein soll, um dort an einer Matinee mit seinen Werken teilzunehmen. Anders als von Kramp behauptet, endete dort auch nicht seine kleine Lesereise. Nach der Biografie von Michael Hepp trat Tucholsky noch am 25. März in Frankfurt und 27. März in Mannheim auf. Warum sollte er zwischendurch für einen Morgen nach Berlin gereist sein?

Der vierte und letzte Vortrag in Köln bildete am 18. November 1929 den Auftakt zu einer großen Lesereise, die Tucholsky über zehn Stationen durch große Teile Deutschlands führte. Dieses Mal widmete er sich vor allem juristischen Themen, darunter der Reform des Sexualstrafrechts. Dass er in dem Vortrag auch die Sexualmoral der Kirche kritisierte, gefiel der Presse im katholischen Rheinland jedoch gar nicht. Seine Auffassungen seien „armselig“ und nichts weiter als eine „snobistische Abendunterhaltung“, monierte die katholische Kölnische Volkszeitung.

Recht bekannt ist Tucholskys pessimistisches Resümee der Lesereise, das er in einem Brief an seine Ex-Frau Mary Gerold zog:

Im übrigen: für wen ich das eigentlich mache … das weiß ich nach dieser Reise weniger als je. Es ist trostlos. Allerdings bezieht sich das auf die Bürgerschaft – vor Arbeitern habe ich nicht gesprochen. Das ist dann vielleicht anders.

Damit endet Kramps Buch jedoch noch nicht. Im letzten Kapitel, mit Schicksale überschrieben, widmet er sich den Lebensläufen der Personen, die an den Kölner Vortragen mittel- oder unmittelbar beteiligt waren. Dazu zählt neben Rundfunkintendant Hardt auch der Buchhändler Paul Wolfsohn, der Tucholsky im Jahr 1928 engagiert hatte. Der jüdische Kaufmann Erich Leyens, der Tucholsky vor dem kriegerischen Revanchegeist im Rheinland gewarnt hatte, musste über Italien und Kuba in die USA emigrieren.

Dann sind die rund 90 Seiten von Kramps Büchlein auch schon vorbei. Es hätten ruhig ein paar mehr werden können, dann hätte man die Fußnoten im Anhang nicht ganz so klein drucken müssen.

Mario Kramp: Man hat etwas gegen Sie vor. Kurt Tucholsky in Köln 1928/29, Greven Verlag Köln, 2022, 92 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-7743-0952-4

8.3.2023

Tucholsky und die Statistik des Todes

Als engagierter Pazifist und Antimilitarist hat sich Kurt Tucholsky in seinen Texten intensiv mit dem Thema Krieg beschäftigt. Sein Diktum „Soldaten sind Mörder“ wird immer noch stark rezipiert und ist heute so umstritten wie im Jahr 1931, in dem es geprägt wurde.

Kaum weniger häufig wird Tucholsky ein Spruch zugeschrieben, der eine sehr zynische Auffassung vom Wert des Menschenlebens vertritt:

„Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe; aber hunderttausend Tote: das ist eine Statistik.“

Dieser Satz findet sich in der Tat in einem Artikel Tucholskys aus dem Jahr 1925. In „Französischer Witz“ beschäftigt er sich mit mehreren neu herausgekommenen Witzsammlungen in seinem Gastland. Die gesamte Passage lautet:

Das Spezifische des französischen Witzes ist seine Leichtigkeit, seine Delikatesse, seine Eleganz. Da schreibt etwa der zurückgetretene Minister an den Staatssekretär des Post- und Telegraphenwesens eine Stunde nach seinem Sturz: „Sehr verehrter Herr Kollege! Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern …“ Die Handbewegung, mit der eine Formulierung herausgebracht wird, ist ganz locker. Es wird von den Schrecknissen des Krieges gesprochen. Darauf sagt ein Diplomat vom Quai d’Orsay: „Der Krieg? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe; aber hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!“ Die Sprache dieser Diplomaten ist eben die französische, und die Definition des Berufes heißt so: „Ein Diplomat, mein liebes Kind, ist ein Mann, der das Geburtsdatum einer Frau kennt und ihr Alter vergessen hat!“

Es ist also ganz offensichtlich, dass Tucholsky diesen zynischen Spruch nicht selbst geprägt hat. Dass dieser ebenso häufig dem sowjetischen Diktator Stalin zugeschrieben wird, dürfte Tucholsky sicherlich nicht als schmeichelhaft empfunden haben. In mehreren Untersuchungen zum Ursprung des Zitats, beispielsweise auf Quote Investigator oder bei Oxford Reference, wird Tucholsky dennoch ausdrücklich als Urheber genannt.

Das Problem an der bisherigen Quellenlage: Aus Tucholskys Text geht nicht hervor, in welcher der genannten Sammlungen sich dieser Witz befindet. Daher war eine exakte Quellenangabe bislang nicht möglich.

Über die Antiquariatsplattform ZVAB kann man jedoch an die besprochenen Bücher gelangen. Und siehe da, gleich in dem erstgenannten wird man fündig. Der Witz findet sich in: J.-W. Bienstock et Curnonsky: T.S.V.P. Petites histoires de tous et de personne. Paris: Crès 1924, S. 6f

Un soir, dans un salon mondain. Des gens dissertent sur la guerre. Un ancien combattant raconte en termes émus la mort d’un de ses amis. Une dame pleure, elle songe à son mari mort au champ d’honneur.
– La guerre est une chose terrible, unjustifiable, soupire-t-elle.
Alors, un diplomate bien connu du quai d’Orsay, qui jusque-là n’avait pas pris part à la conversation, dit avec une tranquille suffisance.
– La guerre? ce n’est pas si terrible! La mort d’un homme est en effet chose épouvantable, mais cent mille morts, c’est une statistique.

Eines Abends in einem mondänen Salon. Einige Leute unterhalten sich über den Krieg. Ein Veteran erzählt in bewegten Worten vom Tod seines Freundes. Eine Frau weint und denkt an ihren Mann, der auf dem Feld der Ehre gefallen ist.
– Der Krieg ist etwas Schreckliches, nicht zu rechtfertigen, seufzt sie.
Da sagt ein bekannter Diplomat vom Quai d’Orsay, der sich bis dahin nicht an dem Gespräch beteiligt hatte, mit ruhiger Selbstgefälligkeit.
– Der Krieg? Der ist gar nicht so schlimm! Der Tod eines Menschen ist in der Tat etwas Furchtbares, aber hunderttausend Tote, das ist eine Statistik.


Der Witz im Original.

Doch wer sind die Autoren Bienstock und Curnonsky?

Jean-Wladimir Bienstock war laut Wikipedia ein französisch-russischer Rechtsanwalt, Schriftsteller und Übersetzer. Er wurde 1868 in der Ukraine geboren und starb 1933 in Paris. Der zum Katholizismus konvertierte Jude übersetzte wichtige russische Autoren wie Tolstoi und Dostojewski ins Französische.

Hinter dem Pseudonym Curnonsky verbirgt sich Maurice Edmond Sailland (1872-1956), ein französischer Romanautor, Gastronom, Humorist und Restaurantkritiker, der zum „Prinz der Gastronomen“ avancierte.

Von wem nun Bienstock und Curnonsky den Witz aufgeschnappt oder ob sie ihn sich selbst ausgedacht haben, wird wohl für immer deren Geheimnis bleiben. Zumindest, solange keine frühere Quelle dafür auftaucht.

Erstaunlich bleibt auf jeden Fall die Tatsache, dass der Spruch in seinem Ursprungsland nicht so verbreitet ist wie im deutsch- oder englischsprachigen Raum. Der französische Jura-Professor Patrick Morvan, der sich ebenfalls mit Ursprung des Zitats beschäftigt hat, brachte dessen Irrwege wie folgt auf den Punkt:

Der Satz, der in den Augen eines frankophilen Deutschen und Liebhabers von Bonmots die Quintessenz des französischen satirischen Geistes war, landete über einen Umweg, dessen Geheimnis die Geschichte kennt, in Stalins Mund!


Umschlag des Buches.

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