26.1.2020

Was Kurt Tucholsky schmutzig fand

Schon Anfang der 1930er Jahre kannte Kurt Tucholsky das Problem, als Journalist und Buchautor die Rezeption der eigenen Werke nicht steuern zu können. „Der Leser hats gut: er kann sich seine Schriftsteller aussuchen“, seufzte er in den „Schnipseln“ vom 3. Februar 1931.

Doch seine Texte wurden von Leuten, die er eigentlich bekämpfte, nicht nur eifrig gelesen. Mehrmals beschwerte er sich in seinem Hausblatt Weltbühne darüber, dass nationalsozialistische Zeitungen sie unter falschem Namen sogar nachdruckten. So beklagte er sich am 29. März 1932:

Die armen Luder

Daß die Nazis keine Schriftsteller besitzen, die fähig sind, deutsch zu schreiben, weiß man aus den Leistungen ihrer Führer. Daß dieses Gesocks aber systematisch klaut, um den Lesern ihrer Papiere vorzuführen, was herzustellen sie selber nicht fähig sind …

Es ist jetzt der zweite Nazi-Diebstahl, den ich hier festnagele.

Das „Blatt der Niedersachsen“, Nat.-Soz. Tageblatt für den Gau Hannover-Ost, bringt in seiner Nummer vom 24. Februar 1932 einen Beitrag:

„Kurzer Abriß der Nationalökonomie, von Karl Murx, staatlich prämiierter National-Komiker.“
Der Beitrag ist gestohlen; er hat hier unter derselben Überschrift am 15. September 1931 gestanden und war damals Kaspar Hauser gezeichnet.

Stehlen – sich die deutsche Nationalität ermogeln – lügen – stehlen -: es sind arme Luder.

Das erste Plagiat hatte er am 22. September 1931 angeprangert:

Theobald Tiger

freut sich, daß ein Nazi-Papier einmal ordentlich hereingefallen ist.

Die Nr. 159 des 2. Jahrganges der düsseldorfer „Volksparole“ vom 27. August enthält ein Gedicht „Die Ortskrankenkasse“. Dieses Gedicht ist gestohlen: es stand hier in der „Weltbühne“ am 3. Juni 1930. Der neue Verfasser nennt sich mit Recht „Schloch“. Wahrscheinlich heißt er mit Vornamen auch Adolf.

Oder hat sich jemand mit den Schriftgelehrten einen Scherz erlaubt? Dazu gehört freilich nicht viel, mit denen etwas zu tun, was sie gewohnt sind: sie anzuführen.

Jetzt wollen wir einmal sehn, ob diese deutschen Mannen so viel Ehrlichkeit und Anständigkeit besitzen, zuzugeben, daß sie geklaut haben. Und noch dazu bei dem freundlich feixenden

Theobald Tiger

Fast 85 Jahre nach seinem Tod erfreut sich Tucholsky immer noch großer Beliebtheit bei Lesern, die er sich vermutlich nicht selbst aussuchen würde.

Doch in diesem Falle wird zumindest nicht versucht, die Urheberschaft des linken Demokraten, Sozialisten, Pazifisten und Antitmilitaristen, wie ihn die Wikipedia skizziert, zu verschleiern. Statt dessen wird offenbar seine Popularität benutzt, um folgende Zitate immer wieder in sozialen Medien wie Twitter oder Facebook zu posten:

Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht.

Sowie:

Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.

Das erste Zitat wird häufig verwendet, wenn es darum geht, Kritiker der aktuellen Regierungspolitik, vor allem der Flüchtlingspolitik, zu verteidigen. So schrieb die AfD Bayern im Mai 2018:

Die Wahlkampfstrategen der CSU, die die AfD nicht mit den besseren Argumenten bekämpfen können, sondern nur mit der Nazikeule, sind so peinlich wie sie erfolglos sein werden. Es war Kurt Tucholsky, der in Zeiten der Nazidiktatur erkannte, „dass in Deutschland derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher gilt als der, der den Schmutz macht.“

Doch wann und warum hat Tucholsky eigentlich auf welchen Schmutz hingewiesen? Das sollte man durchaus wissen und im Hinterkopf behalten, wenn man dieses Zitat verwendet.

Der Satz stammt aus einer Postkarte Tucholskys an den Theaterkritiker Herbert Ihering. Sie ist datiert auf den 10. August 1922, also noch weit vor der Nazidiktatur:

Lieber Herr Jhering,

Ich danke Ihnen recht schön für Ihre liebe Karte, die mich sehr erfreut hat. Sie kennen ja diese Brüder: die Verleumdung wird mir noch lange anhängen. Viele haben die Berichtigung überhaupt nicht gelesen, und die meisten Zeitungen denken gar nicht daran, überhaupt zu berichtigen. Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht.

Mit herzlichem Dank für Ihr freundliches Interesse

Ihr

Tucholsky.

Worum geht es in dieser „Verleumdung“? Hintergrund ist ein Artikel Tucholskys aus der Weltbühne vom 29. Juni 1922, der am 28. Juli 1922 von der französischen Zeitschrift L’Eclair ohne Tucholskys Wissen und Einverständnis nachgedruckt worden war. In dem Text „Die Schupo“ hatte er sich die Broschüre „Die Schutzpolizei und ihre Gefechtsgrundsätze“ näher angeschaut. Tucholsky bezeichnete die Schutzpolizei in dem Artikel als „durch und durch militärische Organisation“ und kam zu dem Schluss:

Der Verfasser des Kriegsbuches für den Frieden bedauert, dass es immer noch Menschen gebe, die ihn und die Seinen für Soldaten hielten. Wie er hofft, wird allmählich auch unser eignes Volk begreifen, „dass es uniformierte Menschen gibt, die Waffen tragen und Kampfübungen vornehmen, und die doch etwas ganz andres sind als Soldaten“. Da kann er lange warten. Militär ist Militär – ob es grau oder grün ist. Dieses ist grün und rüstet im stillen für irgend etwas.

Da in dieser paramilitärischen Ausbildung ein Verstoß gegen den Versailler Vertrag gesehen werde konnte, wundert es nicht, dass sich auch Frankreich für das Thema interessierte. Allerdings veröffentlichte L’Eclair den Text mit dem unzutreffenden Hinweis: „Wir erhalten von einem berliner Publizisten folgende überzeugenden Enthüllungen über die Schupo …“.

Das wiederum wurde Tucholsky von deutschen Medien als Übergabe deutschfeindlichen Materials an das Ausland ausgelegt. Zwar berichtigte das berliner Acht-Uhr-Abendblatt nach einem Hinweis Tucholskys diese Falschmeldung bereits am folgenden Tag. Doch das hielt andere Medien nicht davon ab, gegen Tucholsky als Verräter zu hetzen. Daher sah er sich am 17. August 1922 in der Weltbühne zu einer „Erklärung“ gezwungen, in der es unter anderem heißt:

Seit diesem Tage tobt die reaktionäre Provinzpresse aller Kaliber um jene Lüge, deren Berichtigung für sie nicht existiert. Gesinnungsgenossen des Zuhälters Ankermann beschimpfen mich telephonisch, die Drohbriefe sind entsprechend – und das Ganze ist unendlich feige.

Ich stelle hier fest:

Ich habe niemals von einer Entente-Zeitung Geld oder sonst eine Vergünstigung bekommen – weder direkt noch indirekt. Ich habe niemals an das Ausland irgend welches Material gegeben. Was ich gegen eine militärisch eingestellte Nebenregierung habe sagen wollen, habe ich in der Heimat gesagt. Und nirgends anderswo.

Mit anderen Worten: Tucholsky war bereits damals Opfer einer klassischen Fake-News-Kampagne, wie man heute sagen würde. Die Fake-News wiederum führten zu Hasskommentaren und Morddrohungen, wie sie heutzutage vor allem in sozialen Medien oder per E-Mail verbreitet werden. Darüber beklagte sich Tucholsky alias Ignaz Wrobel eine Woche später, am 22. August 1922, in der Glosse „„Helden am Telephon“ in der Weltbühne:

Der nationale Teutsch-Held steht in der Kneipe tief aufatmend auf und sagt: „So“ – und sieht sich vorher um, ob es auch alle wissen, was er nun ausfrißt. Und er schreitet ans Telefon. Und legt los. Geduckt hinter einer Anonymität, die leicht zu lüften wäre (was er nicht weiß) – und geschwellt von einem ›vaterländischen‹ Gefühl, das guten Durst macht. Ich lächle, rauche und höre mir das an. Und dann hängt er ab und wallt zum Stammtisch zurück, überall beglückwünscht zu seiner großen Tat. Welch ein Kerl -!

Weil solcher Hass heute ebenso wie damals wieder tödliche Folgen haben kann, druckte die taz den Text „über das, was heute Hate Speech heißt“, am 17. Januar 2020 vollständig nach.

Es ist daher schon ein ziemlich brachialer Treppenwitz der Geschichte, wenn dieses Schmutz-Zitat von Personen verwendet wird, die mit solchen Methoden arbeiten, die Tucholsky aufs Schärfste abgelehnt hat. Und die linke Publizisten im Zweifel mit denselben Methoden angreifen, die schon gegen Tucholsky verwendet wurden. Ausnahmen bestätigen selbstverständlich die Regel.

Das gilt auch für das Zitat vom Volk, das das meiste falsch verstehen, aber das meiste richtig fühlen soll. Auch damit lässt sich einfach ein Gegensatz zwischen „denen da oben“ und dem angeblichen Volk konstruieren. Man betrachtet seine eigene Auffassung als die des Volkes, die auch ohne wirkliches Verständnis der Materie wie beim Klimawandel oder der Flüchtlingspolitik „richtig“ sein soll. Oder vielleicht genau deshalb.

Doch schon Tucholsky hat gewissermaßen vor dem Missbrauch seiner eigenen Erkenntnis gewarnt. Denn das vollständige Zitat aus dem Text „Bauern, Bonzen und Bomben“ vom 7. April 1931 lautet:

Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig. Daß nun dieses richtige Grundgefühl heute von den Schreihälsen der Nazis mißbraucht wird, ist eine andre Sache.

Die Gefahr, dass latente anti-demokratische und rassistische Ressentiments missbraucht werden, besteht damals wie heute. Sich dabei ausgerechnet auf Tucholsky zu berufen, ist nicht nur falsch verstanden, sondern auch falsch gefühlt.

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