Fritz J. Raddatz ist tot
Der Literaturkritiker und Verleger Fritz J. Raddatz ist am 26. Februar 2015 im Alter von 83 Jahren gestorben. Raddatz hatte seit Beginn der 1950er Jahre maßgeblich die Tucholsky-Rezeption in Deutschland geprägt. Zusammen mit Tucholskys zweiter Ehefrau und Alleinerbin Mary Gerold gab Raddatz die Gesammelten Werke und zahlreiche andere Auswahl- und Briefbände Tucholskys heraus. Gemeinsam mit Gerold gründete er 1969 die Kurt Tucholsky-Stiftung, die nach dem Tode Gerolds im Jahr 1987 die Urheberrechte an Tucholskys Werk verwaltete. Die Stiftung förderte mit den Einnahmen zu einen die wissenschaftliche Aufarbeitung von Tucholskys Leben und Werk, zum anderen vergibt sie weiterhin Stipendien.
Raddatz hatte schon Anfang 2012 den Vorsitz der Stiftung niedergelegt und an eine Hamburger Kanzlei weitergegeben. Im September 2014 kündigte er dann an, sich aus dem aktiven Journalismus zurückzuziehen und erklärte: „Ich habe mich überlebt.“ Dabei zitierte er ein letztes Mal Tucholsky: „Vorbei, verweht, nie wieder.“
Medienberichten zufolge nahm sich Raddatz in der Schweiz das Leben. Postum erscheint noch das Buch Jahre mit Ledig, seine Erinnerungen an den Verleger Heinrich-Maria Ledig-Rowohlt, dessen Stellvertreter er neun Jahre lang war. Raddatz hatte Ledig-Rowohlt 1952 in Hamburg kennengelernt, als er von Ost-Berlin in den Westen gefahren war, um über eine gesamtdeutsche Tucholsky-Ausgabe zu verhandeln. Welch große Bedeutung diese Reise für sein Leben haben sollte, ging auch aus Raddatz‘ Autobiografie Unruhestifter hervor. Aus Anlass von Raddatz‘ Tod hier noch einmal eine Rezension des 2003 erschienenen Buches:
Gesammelte Wertungen
Unter den vielen Promi-Biographien im Herbst 2003 ist sie aus Sicht von Tucholsky-Lesern die interessanteste: „Unruhestifter“, die Erinnerungen von Fritz J. Raddatz. Der Vorsitzende der Kurt Tucholsky-Stiftung und Mitherausgeber seiner Werke dürfte neben Mary Gerold-Tucholsky die Rezeption des Schriftstellers nach 1945 am stärksten beeinflusst haben. Dass sich das deutsche Feuilleton (siehe Links) begierig auf die Memoiren des 72-Jährigen stürzte, hatte jedoch andere Gründe. Als Vize-Chef des Rowohlt-Verlages und Feuilleton-Chef der „Zeit“ war Raddatz jahrzehntelang einer der schillerndsten Figuren des deutschen Literaturbetriebs. Er kannte alle. „Viele Berühmte werden das Buch von hinten, vom Namensregister her lesen“, spekulierte daher die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Derjenige, zu dem es die meisten Registereinträge gibt, wird dies jedoch nicht mehr können: Kurt Tucholsky. Schon das Namensregister zeigt daher, wie eng Raddatz verlegerisches Wirken über mehrere Jahrzehnte mit diesem Autor verknüpft war.
Dabei verlief die erste Begegnung mit dessen Werk eher ernüchternd. Ende der 40er Jahre stieß der junge Germanistikstudent Raddatz in einem Berliner Antiquariat auf ein Exemplar von Theobald Tigers „Fromme Gesänge“.[1] Da er keine Ahnung hatte, dass sich dahinter der Autor Tucholsky verbarg, musste er sich von einem Kommilitonen eine herbe Kritik anhören: Wer so etwas nicht wisse, solle doch lieber keine Germanistik studieren. Doch die Begeisterung für Tucholsky war bei Raddatz geweckt. Auch beruflich.
Der Plan einer gesamtdeutschen Tucholsky-Ausgabe war es denn auch, der Raddatz im Frühjahr 1953 eine offizielle Reise in den Westen verschaffte.[2] Der 22-Jährige war damals stellvertretender Cheflektor des DDR-Verlages „Volk und Welt“ und besuchte in Hamburg zunächst den Rowohlt-Verlag, der vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Sammelbände von Tucholsky und dessen Roman „Schloß Gripsholm“ gedruckt hatte. Nach einem kurzen Treffen mit Heinrich-Maria Ledig-Rowohlt fuhr Raddatz weiter ins oberbayerische Rottach-Egern, wo Tucholskys geschiedene Frau Mary Gerold-Tucholsky nach dem Krieg ein Haus gekauft hatte. Für Raddatz entwickelte sich aus der Begegnung eine „immer stabiler werdende Beziehung“, eine der „großen, wichtigen und verlässlichen meines Lebens“. Raddatz widmet Mary, die er seine Königin – „ma reine“ – nennt, ein eigenes Kapitel in dem Buch. Die Tucholsky-Erbin gab dem jugendlichen Gast zunächst den Spitznamen „Locken-Krull“. Der Grund: Sein „hochstaplerischer Editionsplan“ und die „wilden schwarzen Locken“. Später habe sie ihn dann „Mein Fürst“ genannt. Auf ihrem Totenbett sprach sie von Raddatz gar als „Tucho“ und fragte ihre Betreuerin, warum dieser sie qua Testament als Urheberrechtserbin eingesetzt habe.
Das Verhältnis der beiden wurde jedoch auch von einem gewissen Misstrauen und „selbst anerzogener Kühle“ von Seiten Marys geprägt, wie Raddatz schreibt. Besonders habe ihn ihre Entscheidung getroffen, ihm nicht Tucholskys „Sudelbuch“ zu schenken, das er sich als „erstes, letztes und einziges Intimes“ gewünscht hatte.[3] „Wer, wenn nicht ich, wäre würdig, dieses Stück Tucho-Mary zu besitzen, das muss ich mich doch fragen“,[4] beklagte sich Raddatz später in einem Brief an seine „Königin“. Für die „FAZ“ ist der Brief charakteristisch für „diesen hypersensiblen Narziß in seiner grundverlorenen Einsamkeit“.
Raddatz schreibt es auch seiner Beharrlichkeit und seinem Vertrauensverhältnis zu Mary zu, dass diese schließlich einwilligte, die Briefe Tucholskys an sie zu veröffentlichen.[5] Auch die Gründung der Kurt Tucholsky-Stiftung mit der Übertragung der Urheberrechte gehe auf eine Anregung von ihm zurück.[6]
Einig waren die beiden von Anfang an auch in der feindseligen Haltung gegenüber Lisa Matthias, deren Autobiographie „Ich war Tucholskys Lottchen“ im Jahre 1962 für Aufsehen und Empörung sorgte. In Raddatz‘ Memoiren kommt zwei Mal die Rede auf Tucholskys langjährige Geliebte. „Ich bin überzeugt, dass es eine sehr üble Sache werden wird, nicht nur, dass sie sich an Tucho rächen wird, weil er sie quasi herausgeschmissen hat, sondern sie wird auch Jauchekübel über mich ergießen und ‚Tatsachen‘ berichten, die von A bis Z erfunden sind“,[7] zitiert Raddatz aus einem Brief von Mary Gerold-Tucholsky aus dem Jahr 1961. Mit der „üblen Sache“ ist offensichtlich die „Lottchen“-Biographie gemeint, was Raddatz jedoch nicht erläutert und daher für die meisten seiner Leser nicht verständlich sein wird. Allerdings hätte er dann auch hinzufügen müssen, dass Matthias mitnichten Jauchekübel über die damalige Ehefrau Tucholskys auskippte und fast alle ihre Aussagen belegen konnte.
Raddatz bleibt mit seinem Vorgehen gegenüber Matthias damit seiner Linie treu. Noch immer steht in Raddatz‘ Vorwort zu den Gesammelten Werken der Satz, dass Tucholsky „Schloß Gripsholm“ in „nicht unbedingt liebenswürdiger Weise“[8] einer Autonummer gewidmet habe. Nun müsste Raddatz spätestens seit der „üblen Sache“ wissen, dass Lisa Matthias die Besitzerin des besagten Wagens mit der Nummer IA 47407 war. Außerdem habe sie diese Art der Widmung selbst vorgeschlagen, schreibt sie in ihren Memoiren[9]. Raddatz, für den Tucholskys „Gratwanderung zum Gradmesser eigener Arbeit wurde“[10], führe damit Millionen Leser bewusst in die Irre, wie Gerhard Zwerenz in seiner Tucholsky-Biographie vermutlich zu Recht behauptet.[11]
Mit einem anderen Vorwurf, wonach Raddatz und Gerold-Tucholsky eine Anzahl von Tucholskys „politisch oder erotisch schärfsten Produktionen“ nicht abgedruckt hätten, liegt Zwerenz jedoch falsch. Zwar fehlen in den Gesammelten Werken rund 1100 von 2900 Texten Tucholskys, doch von einer Entschärfung des Werkes kann nach kritischer Untersuchung der ausgewählten Stücke nicht die Rede sein.[12] Als wolle er diese These unterstützen, geht Raddatz ausführlich auf die Auseinandersetzungen um die Tucholsky-Ausgabe ein, die er in den fünfziger Jahren mit der DDR-Führung führte. „Der Kampf um die Tucholsky-Ausgabe – so rührend wie töricht – markiert meine DDR-Endzeit“[13] , heißt es in der Biographie. Auf mehreren Seiten schildert Raddatz den Streit mit der Zensurbehörde um den fünften Band der Ausgabe. Der Kampf endete schließlich mit der Flucht des damals 27-Jährigen aus der DDR. Zu einer ihm inzwischen wohlvertrauten Adresse: dem „Knusperhäuschen“ Mary Gerold-Tucholskys in Rottach-Egern.
Mit dem Abschluss der Gesamtausgabe wird die editorische Beziehung zwischen Raddatz und Tucholsky wohl ihr Ende finden. Von der Beziehung profitierten sicherlich das Werk und dessen Herausgeber. Allerdings versucht Raddatz auch den Eindruck zu erwecken, sein Wirken bei Rowohlt und der „Zeit“ sei letztlich an seiner dort ungewollten Radikalität gescheitert. Eine Radikalität, die unausgesprochen wohl eher in ein Blatt wie die „Weltbühne“ unter Siegfried Jacobsohn gepasst hätte. Richtig in Schwierigkeiten kam Raddatz durch Tucholsky nur einmal, als er einen Brief an einen Juden mit „Heil Hitler“ unterschrieb. Weil Tucholsky das ebenfalls so gemacht habe, sah Raddatz darin keinen Affront.[14] Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass er seinen Abgang als Feuilletonchef bei der „Zeit“ mit einem Fauxpas zu Tucholsky beschleunigt hätte. Das war dem Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe vorbehalten.
Links zu Rezensionen der Raddatz-Biographie:
„Berliner Zeitung“: „Da war ich …“
Arno Widmann empfiehlt die Biographie als „egoman und verrückt, aber gerade darum großartig“
„FAZ“: Völlig aus dem Reim gegangen
Nach Ansicht von Heinz Ludwig Arnold hat es Raddatz leider nicht vermocht, ein Erinnerungsbuch der Republik zu schreiben.
„FAS“: Grüße aus dem Unruhestand
Nils Minkmar besucht Raddatz im Hamburger Büro der Tucholsky-Stiftung.
„Der Spiegel“: Torero und Weltenschlürfer
Die besten Sprüche und Verunglimpfungen aus „Unruhestifter“ hat Mathias Schreiber zusammengestellt.
„Die Zeit“: Kämpfe und Krämpfe
Der frühere „Zeit“-Chefredakteur Theo Sommer versucht einige Äußerungen von Raddatz richtigzustellen.
Fußnoten
[1] Raddatz, Fritz J.: Unruhestifter. Erinnerungen. München 2003, S. 83. Im Folgenden zitiert unter: Raddatz.
[2] Raddatz, S. 186
[3] Raddatz, S. 160
[4] Raddatz, S. 160f
[5] Raddatz, S. 144f
[6] Raddatz, S. 149f
[7] Raddatz, S. 151f
[8] Raddatz, Fritz J.: Vorwort. In: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Bd. 1. Reinbek 1985, S. 31
[9] Matthias, Lisa: Ich war Tucholskys Lottchen. Hamburg 1962, S. 249
[10] Raddatz, S. 145
[11] Zwerenz, Gerhard: Kurt Tucholsky. Biographie eines guten Deutschen. München 1979, S. 293
[12] Ackermann, Irmgard; Heß, Dieter; Lindner, Katrin: Zur Forschungssituation. In: Ackermann, Irmgard (Hg.).: Kurt Tucholsky: 7 Beiträge zu Werk und Wirkung. München 1981, S. 8ff
[13] Raddatz, S. 130
[14] Raddatz, S. 209