21.11.2010

Eine Frau aus dem Bilderbuch

Hä? Kann man eine Ausstellung über einen Menschen machen, über den fast nichts bekannt ist? Dieser Frage musste sich das Tucholsky-Museum in Rheinsberg stellen, als man überlegte, das Leben von Tucholskys erster Ehefrau Else Weil zu präsentieren. Sie war die »reale Claire« aus Rheinsberg, dem Bilderbuch für Verliebte. Aber darüber hinaus war eigentlich nur das bekannt, was Sunhild Pflug in dem schmalen Band aus der Reihe Jüdische Miniaturen über sie zusammengetragen hat. Reicht das aus, um die fünf Räume im Tucholsky-Museum zu füllen?

Zur Ausstellungseröffnung am 13. November zeigte sich, dass dies den Kuratoren Peter Böthig und Alexandra Brach durchaus gelungen ist. Die Schau zeigt ein exemplarisches jüdisches Leben in Deutschland. Anhand von Dokumenten und Zeugnissen, die etwas mehr als ein Jahrhundert umfassen. Vom Bürgerbrief, den Else Weils Urgroßvater 1824 in Prenzlau erhielt, bis zur Transportliste Nr. 30 von Drancy nach Auschwitz am 9. September 1942. Dieses Familienleben war bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten eine Erfolgsgeschichte der heute so viel beschworenen Integration. Und nicht nur das. Else Weil war den meisten Frauen ihrer Zeit weit voraus, als sie ab 1911 Medizin studierte und 1917 eine Approbation als Ärztin erhielt. Der Erfolg von Tucholskys Rheinsberg, in dem laut Böthig ein »neues, libertinäres Lebensgefühl formuliert« wurde, war nur möglich, weil es für die Claire ein »reales« Vorbild gab. Eine junge Frau, die Tucholsky das »infantile Schlafzimmer-Gealber« – wie Walter Mehring es nannte – eingeflüstert hat. Und bereit war, fernab aller damaligen Konventionen mit ihrem etwas jüngeren Freund einige amouröse Tage in der Provinz zu verleben.

Im Zentrum der Ausstellung steht daher auch die exklusive Rheinsberg-Ausgabe, die Tucholsky im Jahre 1912 Else Weil widmete und die das Museum im vergangenen Jahr für 10.000 Euro antiquarisch erstanden hat. Die meisten anderen Dokumente stammen aus dem Besitz von Weils Nichte Gabriele, die die Familienerinnerungen im Londoner Exil aufbewahrt hatte. Weitere Schriftstücke fanden sich noch in diversen Archiven und zeigen vor allem, auf welche schwierige Weise sich Else Weil ihre Existenz sichern musste. Es wird deutlich, dass sie im Grunde nur kurze Zeit als niedergelassene Ärztin gearbeitet hat und offenbar die meiste Zeit als Sekretärin ihr Geld verdiente. Dies galt erst recht nach der Machtübernahme der Nazis, die ihr im Dezember 1933 die kassenärztliche Zulassung entzogen. Auch aus der Exilszeit finden sich viele Zeugnisse, die die Stationen ihrer Emigration dokumentieren. Von Else Weil selbst sind nur jedoch ganz wenige Fotografien erhalten. »Sie war sehr reizvoll, schlank, rothaarig, schöne Gesichtszüge, Stupsnase, große Augen«, beschreibt sie Pierre Paul Sagave. Heinz Ullstein bezeichnet sie in seinen Erinnerungen als »nicht hübsch, aber anziehend«. Laut Sunhild Pflug bezauberte sie »nicht nur durch ihre sinnliche Ausstrahlung, sondern war klug, gewitzt und nicht auf den Mund gefallen«.

Trotz dieser vielen Vorzüge war Claire Pimbusch, wie Tucholsky sie nach einer Figur aus Heinrich Manns satirischem Roman Im Schlaraffenland nannte, nur eine kurze und unglückliche Ehe mit ihrem Wölfchen beschieden. Im Mai 1920 hatten beide geheiratet, schon drei Jahre später war Tucholsky aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Nicht auf die feine Art: »Ich habe mich damals falsch benommen. Ich war nicht alt und reif genug, um das mit Takt und Delikatesse zu machen – ich war plump, roh, dumm. Ich tat weh, obgleich ich wissen mußte, weh zu tun – und ich tat unnötig weh«, schrieb er 1926 an seine zweite Frau Mary Gerold, mit der er genauso wenig zusammenleben konnte.

Dennoch war es nicht Else Weil, sondern Mary Gerold, von der kurz vor seinem Tod behaupten sollte: »hat nur ein Mal in seinem Leben geliebt«. Else Weil hingegen scheint erst im Exil wieder einen anderen lieben gelernt zu haben: den Emigranten Friedrich Epstein. Anders als vielen anderen Emigranten gelang ihnen jedoch nicht die Flucht aus Frankreich. Beide werden in Südfrankreich festgenommen und deportiert. Beide sterben in Auschwitz.

Es ist sicherlich zutreffend, wenn Böthig und Brach die Ausstellung mit »Fragmente eines deutsch-jüdischen Lebensweges« überschrieben haben. Leider sind zu wenig Zeugnisse von Else Weil selbst überliefert, um sie vor der Augen des Besuchers wirklich lebendig werden zu lassen. Aber, wenn Tucholsky sie richtig getroffen hat, hilft dazu auch nach 100 Jahren noch ein Lektüre eines kleinen Büchleins für Verliebte:

»Wölfchen, eß man Suppens mitm Messer?«

»Wa –?«

»Na, ich hab mal einen gesehen, der hat mitm Messer geessen.«

»Suppe?«

»Neieinn … « Aber da kam eine alte Dame an ihrem Tisch vorübergeschlurcht, schielte krumm und murmelte etwas von »unerhört« und »Person« und so.

»Wölfchen, die meint mir. Konnste ihr nicht gefordert gehabt habs? – Söh mal, ich bin doch ’ne Feine, nich wahr? oder glaubsu, ich bin eine Prostitierte? Nei–n. Ich ja nich. Ich nich. Hä?«


Die Ausstellung ist bis zum 13. Februar 2011 in Rheinsberg zu sehen.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10:00 – 16:30 Uhr
www.tucholsky-museum.de

2.11.2010

Zum Weinen gut

Es ist hinreichend bekannt, dass Tucholsky bis kurz vor seinem Tod den norwegischen Schriftsteller Knut Hamsun sehr verehrte. Was für Hamsum galt, traf erst recht auf Leo Tolstoi zu, der am 7. November/20. November (greg.) vor 100 Jahren gestorben ist. Eine geradezu hymnische Lobpreisung des russischen Schriftstellers findet sich in einem »Q-Tagebuch« vom 28. und 29. März 1935. Seiner in Zürich lebenden Freudin Hedwig Müller schrieb Tucholsky aus dem schwedischen Exil über Tolstois Hauptwerk Krieg und Frieden:

Dieses Buch ist alles in einem: Bibel, Kriminalroman, Essai und Gesangbuch und was Du willst. Es ist ein Wunder. Den Epilog zum Beispiel konnte nur ein Genie schreiben. Wie da die schwarzäugige, romantische, etwas sinnliche und muntere Natascha als Mutter und Frau gezeigt wird, »sieben Jahre später« – das ist inspiriert. Sie wird gezeigt, durchaus mit ihren Windeln befaßt, in denen – Gott sei gelobt! – statt eines grünen ein gelber Fleck zu sehen ist; sie ist nicht unsympathisch, aber auch nicht sehr angenehm; sie vernachlässigt sich und ihr Äußeres, ist aber maßlos eifersüchtig, sie ist eine gute Mutter und Gluckhenne – und das Leben geht, geht. Tolstoi zeigt das, er kritisiert es nicht, er hebt gar nicht die Stimme. Nur einmal bedauert ein ehemaliger Verehrer diese Veränderung ganz leise, ihr Mann ist damit durchaus zufrieden. Und dann wachsen junge Kinder auf, eine neue Generation, und es geht alles weiter. Es ist ein Wunder.

Bevor ich wußte, daß Hamsun zu den Nazis übergegangen ist, wäre ich vor ihm aufgestanden, wenn er hereingekommen wäre. Vor Tolstoi hätte ich geweint. Und das ist keineswegs literarische Hysterie. Ich hatte in Berlin einen juristischen Repetitor, der hat Tolstoi einmal in einer Kino-Wochenschau gesehn. »Man kann doch den lieben Gott nicht filmen«, sagte er. Und Gorki schildert ihn, am Meer sitzend, »wie ein alter Stein, der zur See gehört«.

Dabei ist er mir, wenn er moralisiert, unerträglich; es gibt im Deutschen ein Wort, das man von miauenden kleinen Kindern sagt: er greint. Dann schiebe ich ihn fort, ich mag das nicht. Aber als Gestalter, als Former, als Bändiger der Formen, – das hat seinesgleichen nicht.

Ungefähr drei oder vier lange Kapitel sind in diesem Roman, den man nur in einer ungekürzten Ausgabe lesen darf, der Lehre gewidmet, daß es nicht die Gedanken und nicht die Worte sind, also daß es nicht die ratio ist, die den Menschen leitet. Das Irrationale in der Geschichte, das der Marxismus einfach nicht kennt, wird hier so klar ausgesprochen, soweit die Sprache, die vom Hirn kommt, etwas aussprechen kann, was im sympathischen Nervensystem begründet liegt. Wie »es« die Masse vorwärtsschiebt, warum? Weil.

Und eben darum glaube ich an den Fortbestand der Nazis in Deutschland – sie sind, es ist ihr Schicksal, es ist nicht eine Durchgangsstation, es ist eine Vollendung. Wieweit sie das selbst fühlen, steht dahin – aber es ist so.

P.S.: Ist eigentlich schon irgendeinem Tolstoianer aufgefallen, dass eine gewisse Lena Meyer-Landrut die ideale Verkörperung der Natascha darstellt? So wie Natascha als Jugendliche die Petersburger Hofgesellschaft begeisterte, schwärmte vor einigen Monaten das deutsche Feuilleton von Lena. Der Epilog dieser Geschichte muss jedoch noch geschrieben werden.

Powered by WordPress