25.2.2009

Zwanziger gegen Zwanziger

Es ist zwar ein wenig off topic, aber sicher im Sinne Tucholskys, der sich in den zwanziger (sic) Jahren in der Roten Hilfe für den juristischen Beistand in Prozessen engagierte und sich stets für die Presse- und Meinungsfreiheit eingesetzt hat.

Im konkreten Falle geht es um den Rechtsstreit des DFB-Präsidenten Theo Zwanziger gegen den Journalisten Jens Weinreich. Dem DFB passt es nicht, dass Weinreich in seinem Blog Zwanziger als einen »unglaublichen Demagogen« bezeichnet hat. Inzwischen gibt es mehrere Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der Äußerung und einer Pressemitteilung des DFB. Dies erläutert Weinreich in diesem Blog-Beitrag, in dem er außerdem um finanzielle Unterstützung bittet, damit er die Prozesse weiterführen kann. Zwanziger gegen Zwanziger lautet inzwischen das Motto der Unterstützungskampagne. Oder auch: Blaue Hilfe für Weinreich.

15.2.2009

Zurück in die Zukunft

Zu den vielen interessanten Menschen und Dingen, die an einem 20. Februar das Licht der Welt erblickt haben, gehört auch das Futuristische Manifest des italienischen Schriftstellers und Politikers Filippo Tommaso Marinetti. Da sich die Veröffentlichung in wenigen Tagen zum 100. Mal jährt, wird sich kaum ein Medium eine Würdigung dieses Ereignisses und dessen kulturgeschichtlicher Folgen entgehen lassen.

Zu den Menschen, die Marinetti noch persönlich in Augenschein nehmen konnten, gehörte Kurt Tucholsky. Er besuchte 1925 einen Vortrag des Italieners in Paris und hielt seine Eindrücke für die Weltbühne in einem längeren Text fest. Da dieser nicht in den Gesammelten Werken enthalten und daher wenig bekannt ist, sei er an dieser Stelle komplett wiedergegeben. Um auf den Geschmack zu kommen, hier die nicht gerade vor Sympathie triefende Beschreibung der Marinetti-Anhänger:

In einer ganz kleinen Stampe auf dem Boulevard Raspail, ein paar Minuten von den pariser Romanischen Cafés, wo die zweiundzwanzig sich ewig wiederholenden Spielarten langweiliger Psychopathen sich Bedeutung von der Legende borgen, Lenin habe hier eines Tages gesessen … Unordentliche Bürger — vorüber.

   In dem kleinen Gastzimmer der Kneipe hängen Stilleben: »Dalles im Mondschein« und Aquarelle in Öl; auf den Holzstühlen — die zu fünf Francs haben Popokissen — sind die Zuhörer angebracht: gepuderte, aber hysterische Damen, in ihren Naslöchern schlummert das Grauen; polnische Knaben, die einer Badewanne gegenübergestellt zu werden verdienen; amerikanische Maler; ein ganz dünner Kunstkritiker, völlig ausgelaugt vom Theoretisieren, als habe er jahrelang in Essig gelegen; und wieder Frauen, die einem die ganze Freude am heterosexuellen Umgang nehmen können … Marinetti ist da.

   Ein Mann Mitte der Vierziger, mit so hoher Stirn, daß sie schon Glatze genannt werden darf, kleinem dunkeln Schnurrbart, schwarzen Augen, die später glühen werden. […]

1.2.2009

Wir können alles. Außer Tucholsky

Inzwischen hat es sich bei vielen Menschen schon herumgesprochen, dass das vielzitierte Gedicht von den fallenden Börsenkursen wohl doch nicht von Tucholsky ist.

Anders scheint es dagegen in einem Landstrich der Fall zu sein, dessen Bewohner im allgemeinen als besonders fleißig und erfindungsreich gelten. Der sich dafür rühmt, alles zu können außer Hochdeutsch. Auffallend auch, dass sich die Honoratioren des Ländchen offenbar abgesprochen hatten, zum Jahresbeginn zu verschiedenen Gelegenheiten geschlossen das Gedicht von der »Höheren Finanzmathematik« zu zitieren.

So tat es beispielsweise der Berger Bürgermeister Helmut Grieb in der ersten Gemeinderatssitzung des Jahres, wie die Schwäbische Zeitung berichtete:

Mit einem Gedicht von Kurt Tucholsky aus dem Jahre 1930, der großen Wirtschaftskrise der 30er-Jahre, begann Bürgermeister Grieb seinen Vortrag. Bemerkenswert war dabei, dass schon zu dieser Zeit die Worte »Leerverkauf« und »Derivate« in der Sprache der Banker gebraucht wurden.

Wirklich sehr bemerkenswert. Da könnte man als Journalist doch mal auf die Idee kommen, bei Google die Begriffe »Tucholsky Derivate Leerverkäufe« einzugeben und einfach auf irgendeine der Fundstellen zu klicken.

Das machte offenbar auch nicht der Journalist, der über einen Neujahrsempfang in der Bodenseegemeinde Immenstaad zu berichten hatte:

Auf ine [sic] Reise raus aus dem Jammertal 2008, hinein ins Spuerwahljahr [sic] 2009 nahm Bürgermeister Beisswenger die Empfangsgäste. Seine Hoffnung, dass die Menschen aus der Krise des globalisierten Kapitalismus Lehren ziehen, bleibt allerdings schwach. Keinen geringeren als Kurt Tucholsky zitierte er als Kronzeugen. In einem Gedicht »Finanzkrise« aus dem Jahr 1930 beschreibt er just das Szenario der vergangenen Monate.

Na so ein Zufall.

Besser unterrichtet als die Mitarbeiter der Schwäbischen Zeitung sind offenbar die Kollegen von der Südwestpresse. Auch auf dem Neujahrsempfang der Kreishandwerkerschaft Reutlingen durfte Tucholsky nicht fehlen. Allerdings korrigierte Autor Jürgen Herdin den Kreishandwerksmeister Harald Herrmann und machte klar:

Mit der Finanzwelt ging Herrmann zitateweise ins Gericht, indem er vor dem Ausklang mit Mutscheln und Wein ein im Oktober 2008 verfasstes Gedicht des österreichischen FPÖ-Anhängers Richard Kerschhofer verlas, das Herrmann jedoch Kurt Tucholsky unterschob: »Auch die Spekulantenbrut zittert jetzt um Hab und Gut«, heißt es da.

Wobei die »Mutscheln« beweisen, dass die Schwaben wirklich kein Hochdeutsch können.

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