30.1.2009

Mit Schmus und Zitatenschatz (4)

Es macht irgendwann keinen Spaß mehr.

Bislang war man ja daran gewöhnt, dass das Kerschhofersche Gedicht von der »Höheren Finanzmathematik« als Ganzes Tucholsky zugeschlagen wurde. Nun fangen die Kollegen aber schon an, einzelne Verse daraus herauszuklauben und als Original-Tucholsky-Zitate unters Volk zu bringen. So beispielsweise die Neue Osnabrücker Zeitung in einem Kommentar zur Krise beim Autozulieferer Schaeffler:

Egal, wie eine bayerisch-niedersächsische Staatshilfe für die Autozulieferer Schaeffler und Conti aussehen soll: Sie verbietet sich. Zwar ließe sich argumentieren, dass der Steuerzahler schon den Aktionären der Allianz das Abstoßen der Dresdner Bank zu Top-Konditionen ermöglicht hat und der Auto-Industrie die Steigerung der Nachfrage nach Neuwagen bezahlt. Frei nach dem Tucholsky-Wort: »Der Gewinn, der bleibt privat, die Verluste kauft der Staat.«

Diese sehr freie Peinlichkeit hat Nils Dietrich in der Rheinischen Post zum selben Thema noch überboten:

In diesen Tagen der Wirtschaftskrise ruft sich ein altes Sprichwort von Kurt Tucholsky immer wieder ins Gedächtnis: »Der Gewinn, der bleibt privat, die Verluste kauft der Staat.« So geschieht es derzeit im Bankensektor, demnächst kommt offenbar noch ein Rettungsschirm für Unternehmen hinzu.

Dieses unglaublich alte Sprichwort, das wir uns ja schon in der DKP-Kindergruppe immer zugeflüstert haben…

Wenn schon Tucholsky in dieser Situation, dann doch bitte der aus dem »Kurzen Abriß der Nationalökonomie«:

Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andre werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog. »Stützungsaktion«, bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, daß die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie ja dann auch meist nichts mehr.

14.1.2009

Sudelblog-Spezial: »Fusionen«

Seit Beginn dieses Jahres trifft auf Carl von Ossietzky das zu, was für Kurt Tucholsky schon seit 2006 gilt: Die Werke sind nicht mehr urheberrechtlich geschützt. Aus diesem Anlass veröffentlicht das Sudelblog hier einen recht zeitlosen Ossietzky-Text, der sich mit der Rolle des Staates in der Wirtschaft befasst. Weitere Texte des Weltbühne-Herausgebers und Friedensnobelpreisträger finden sich auf der Sammlung von Wikisource.

Fusionen

Von Carl von Ossietzky

Nicht oft hat es so viele verdutzte Gesichter gegeben wie vor ein paar Tagen, als der Zusammenschluß der Deutschen Bank mit der Disconto-Gesellschaft bekannt wurde. Das gewiß schwierige Vorbereitungsstadium war in diskreteste Nachtfarbe gehüllt gewesen, und nicht ein Laut drang zu den findigen Finanzjournalisten, die sonst jedes wispernde Mäuschen im Keller eines Bankpalastes zu registrieren pflegen. Den größten Redaktionen blieb vor dieser Nachricht die Luft weg, und selbst in den längsten Kommentaren spürt man die noch nicht ganz wiedergewonnene Lungenkraft. Die Verblüffung ist berechtigt, denn mit dieser Vereinigung zweier ohnehin überragender Bankinstitute entsteht ein Finanzungetüm, ein Leviathan, dessen Pranken und Zähne bald fühlbar werden. Was ist daneben Vater Staat, in dem wir alle in rebellischen Momenten einen reißenden Oger zu sehen gewohnt sind? Eine Armenkasse, ein Klingelbeutel in der Kirche einer Hungergemeinde. Und, wenn nicht alles trügt, scheint grade der Staat von der neuen Geldübermacht als Trainingsobjekt für ein paar vorbereitende Exerzitien in Aussicht genommen zu sein. Auf der düsseldorfer Tagung des Reichsverbands der Deutschen Industrie hat neulich Herr Doktor Kehl, der Jüngste in der Gerusia der Deutschen Bank, mit jener frischen Vehemenz, über die Herr Hjalmar Schacht früher verfügte, als er noch nicht so viel Weihrauch inhaliert hatte, ein Programm vom Vorrang der Wirtschaft gegenüber dem Staat eingehend erörtert. Es ist wieder große Mode, auf die öffentliche Hand zu schimpfen, gegen die vom Staat auferlegten Soziallasten zu wettern. Lang ist es noch nicht her, da war der Staat gut genug, um Subventionen herzugeben, und die ach so sieche Wirtschaft ließ sich gern von ihm goldene Prothesen bezahlen. Das ist vorüber, und heute konzentriert sich alles, um den Staat da, wo er als Kapitalist und Unternehmer auftritt, zu enteignen und seine Betriebe in die private Hand zu bringen. Wir sind seit Thomas Morus an sozialistische Utopien gewöhnt, wir pflegten die Gesellschaft der Zukunft immer frei und heiter zu sehen, erlöst von dem Erbfluch der ungerechten Eigentumsverhältnisse. Nun, man kann sich auch kapitalistische Utopien denken. G. K. Chesterton hat eine geschrieben, »Der Napoleon von Nottinghill« heißt sie, eine nachdenkliche kleine Satire, die um 1970 spielt, in einer Zeit, die sich dadurch auszeichnet, daß alles, aber auch alles radikal entkommunalisiert ist; sogar Wasserwerke, Brücken und Straßenreinigung sind in die Privatwirtschaft übergegangen, der Staat, funktionslos geworden, wird vertreten von einem Bäckerdutzend Subalterner, die sich mangels Beschäftigung zu Tode langweilen und von denen einer den Titel König führt. »Die Sozialisierung marschiert«, sagten die Genossen Minister der Noskezeit, und vor ein paar Jahren waren die Kommunisten witzig genug, im preußischen Landtag einmal die Anfrage zu stellen, wohin die Sozialisierung denn marschiert sei. Niemals ist eine Antwort erfolgt.

Eines unterscheidet den Kapitalismus allerdings sehr gründlich von seinen Gegenspielern: er handelt nur nach den Geboten kältester Zweckmäßigkeit. Er kennt nicht Sentimentalität, nicht Tradition. Er würgt, wenn es sein muß, schnell und sicher den Verbündeten von gestern ab und fusioniert sich mit dem Feind. Die beiden Riesenbanken, die sich jetzt zu gemeinsamem Tun zusammengeschmolzen haben, waren intime Konkurrenten und standen sich herzlich schlecht. Abneigungsgefühle haben sie nicht gehindert, das Hausinteresse dem größern Gebilde zu opfern. Könnte dieser Vorgang nicht beispielhaft wirken? Der Kapitalismus erhöht und verstärkt seine Bollwerke, denn er hat alles zu verlieren, und seine einzelnen Glieder verzichten klug auf die Eigensüchte des Moments. Aber die Andern, die nichts zu verlieren haben als ihre Ketten und über nichts verfügen als über eine Reihe umstrittener Ideologien, die raufen sich um ihre Dogmatik, die spalten und splittern sich in kleinste Teile, so daß sie nicht einmal mehr durch Quantität zu wirken vermögen.
[…]

Erschienen in: Die Weltbühne, 16. Oktober 1929, S. 499

Editionen: Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur Weltbühne, Berlin 2008, S. 261f.

9.1.2009

Mit Schmus und Zitatenschatz (3)

In Zeiten, in denen Tucholsky ganze Gedichte fälschlich zugeschrieben werden, muss man schon froh sein, wenn gelegentlich nur ein falscher Aphorismus auftaucht. In diesem Fall handelt es sich um einen Spruch, mit dem man sich über allzu verständnisvolles Sozialpädagogentum oder eine als Toleranz maskierte Standpunktlosigkeit lustigzumachen pflegt. In einem Kommentar für den Wiesbadener Kurier und andere Medien schrieb Andreas Herholz:

Das Wahlvolk möchte Klarheit darüber haben, wofür die Parteien stehen und mit welchen Partnern sie ihre Programmatik und Politik umsetzen wollen. Wer nach allen Seiten offen ist, der kann nicht ganz dicht sein, urteilte schon Kurt Tucholsky.

Es ist jedoch beileibe nicht so, als stamme die falsche Zuschreibung dieses Zitates von Herholz selbst. Sie findet sich auf hunderten Internet-Seiten, und hat daher die Ehre, in die Sammlung der angeblichen Tucholsky-Zitate aufgenommen zu werden. Es wird sicherlich nicht die letzte Ergänzung gewesen sein.

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