11.8.2008

Rücksichtsloses Gebell

Der Anlass ist nicht ganz ersichtlich, aber die taz hat sich ein bisschen mit dem Medienkritiker Tucholsky beschäftigt. Daraus wird in Sabrina Ebitschs Artikel „Salat für Zeitungsleser“ jedoch gleich ein kläffender, Verzeihung yapping „media watch dog der ersten Stunde“. Ein Leser weist in einem Kommentar zu Recht darauf hin, dass dieser Anglizismus doch für den Hundehasser Tucholsky kein passender Titel sei, was wiederum Detlef Gürtler zum gegebenen Anlass nimmt, in seinem „Wortistik-Blog“ über sinnvolle Übersetzungen des Begriffs zu sinnieren. Warum der Ausdruck Medienkritiker dem selbst ernannten „word watch dog“ der Nation nicht gefällt, ist nicht ganz ersichtlich.

Nun aber zum eigentlichen Thema: Dass Tucholsky überhaupt den Kollegen ihre „Unsauberkeiten“ laut taz „genüsslich unter die Nase“ reiben konnte, lag auch an dem Medium, das ihm diese Kritik ermöglichte. In diesem Fall war das die Schau- und Weltbühne, die sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts darüber hinwegsetzte, dass die Presse nicht über sich selbst schrieb. Dazu heißt es in dem kürzlich erschienenen Lesebuch zur Weltbühne im Kapitel Medienkritik:

Während es heutzutage selbstverständlich scheint, dass die überregionalen Zeitungen jeden Tag eine ganze Seite den Entwicklungen innerhalb der Medien widmen, war dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts völlig anders. Das lag nicht nur daran, dass es die elektronischen Medien wie Fernsehen, Radio und Internet noch nicht gab. Bezeichnend für den damaligen Zustand ist eine Klage [Siegfried] Jacobsohns in einer „Antwort“ vom 30. September 1915: „Immer wieder wird mir vorgehalten, daß ich dem Stand nicht nütze, indem ich seine eigenen Angelegenheiten erörtere. Aber dem Stand kann nur diese öffentliche Erörterung nützen, die rücksichtsloseste am meisten.“ Indem sie gegen presseinterne Widerstände solche Themen aufgriff, trug die „Weltbühne“ dazu bei, eine journalistische Medienkritik zu etablieren. Sie befasste sich dabei mit grundsätzlichen Fragen von Theorie und Praxis der Medienproduktion und -rezeption. Ihre frühen Analysen besitzen zum Teil zeitlose Gültigkeit.

Oder, mit den Worten der taz: „Manches, was er [Tucholsky] schreibt, würde sich allerdings selbst heute auf den Medienseiten der Zeitungen nicht anachronistisch lesen.“

7.8.2008

Augen in der Großstadt 2.0

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
          da zeigt die Stadt
          dir asphaltglatt
     im Menschentrichter
     Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück . . .
War’s etwa der hier? Oder die da?

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
          Ein Auge winkt,
          die Seele klingt;
     du hasts gefunden,
     nur für Sekunden . . .
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück . . .
Schau besser nach hier, immer wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
          Es kann ein Feind sein,
          es kann ein Freund sein,
          es kann im Kampfe dein
          Genosse sein.
     Es sieht hinüber
     und zieht vorüber . . .
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
          Von der großen Menschheit ein Stück!
Man sagt nur C’est la vie da.


Wie erfolgreich solche Augenblicks-Anzeigen sind, steht in der Berliner Zeitung.

3.8.2008

Nicht sein Sylt II

Es ist schon interessant zu beobachten, wie sich manche Behauptungen über Tucholsky offensichtlich ungeprüft fortpflanzen. Bereits vor einem Jahr hatte in der Süddeutschen gestanden, dass Tucholsky der Insel Sylt „verfallen“ gewesen sei, was offenbar auf einer Verwechslung mit seinem Freund und Mentor Siegfried Jacobsohn beruhte, der dort regelmäßig den Sommer verbrachte. Dies greift nun auch die taz in dem Artikel „Amokprosa auf Sylt“ auf und schreibt:

Siegfried Jacobsohn, erstmals 1920 wegen der Bronchien angereist, wollte gar nicht mehr weg. Er lag halbe Jahre am Strand und redigierte seine Weltbühne. „Sylt“, schrieb er an Freund Tucholsky, ist „tausendmal schöner als Wangeroog“. Also fuhr auch Tucho hin und kam immer wieder […].

Nun sind seit dem vergangenen Jahr keine neuen Dokumente aufgetaucht, die einen oder gar mehrere Aufenthalte Tucholskys auf Sylt belegten. Da dies auch in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist, kann als ziemlich sicher gelten: Die nächste Fortsetzung von Tucholskys Sylt-Liebe kommt bestimmt.

Aber auch bei Siegfried Jacobsohn nimmt es der Autor nicht so genau. Der Weltbühne-Herausgeber hielt sich nicht erst 1920, sondern schon vor dem Ersten Weltkrieg regelmäßig auf Sylt auf. Zeugnis davon ist unter anderem sein Kriegstagebuch, das er im Herbst 1914 in der damaligen Schaubühne veröffentlichte. 1919 kaufte er sich von einem Bauern schließlich ein altes Reetdachhaus. Interessant auch die Behauptung, Jacobsohn sei „wegen der Bronchien“ angereist. Er war zwar Epileptiker, litt an einer Augenkrankheit, hörte auf dem rechten Ohr vermutlich nichts und besaß mit 1,57 Meter nicht gerade Gardemaß. Dass er wegen einer Lungenkrankheit an die See fuhr, war bislang noch nicht bekannt.

Nicht ganz mit der Wahrheit übereinstimmend

Die Berliner Morgenpost widmet sich derzeit in einer Serie verschiedenen „Liebesgeschichten aus Berlin“. In Folge 11 erklärt Anna Mertens das „Bilderbuch für Verliebte“, wie Tucholskys kurze Geschichte Rheinsberg im Untertitel heißt. Gegen Mertens‘ Interpretationen ist im Großen und Ganzen nichts einzuwenden, wobei eine Behauptung jedoch rätselhaft wirkt:

1912 erschien seine erste Liebesgeschichte unter dem Titel „Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte“ mit einem erstaunlich fortschrittlichen Frauenbild, dass der beziehungsunfähige Tucholsky im wahren Leben kaum unterstützte.

Was will die Autorin damit wohl sagen? Zunächst kann man festhalten, dass die „Claire“ in Rheinsberg durchaus eine „fortschrittliche“ Frau war, „daß sie Medizinerin war, wie sie zu sein vorgab, war kaum glaubhaft, jedoch mit der Wahrheit übereinstimmend“, heißt es da. Auch die Beziehungsunfähigkeit, die Tucholsky unterstellt wird, trifft nach Ansicht seiner Biographen ebenfalls zu. Wenn Tucholsky also selbständige und emanzipierte Frauen nicht gut gefunden hätte, warum hat er 1920 ausgerechnet Else Weil, das reale Vorbild der „Claire“, geheiratet? Gerade weil um die Unzulänglichkeiten menschlicher Beziehungen wusste, lag ihm daran, dass auch Frauen in der Lage sein sollten, für sich selbst zu sorgen und nicht von einem verdienenden Ehemann abhängig zu sein. Sämtliche Frauen, mit denen Tucholsky länger liiert war, waren alles andere als „Heimchen am Herd“. Mary Gerold arbeitete vor und nach ihrer Ehe als Sekretärin in Verlagen, Lisa Matthias war Journalistin und Hedwig Müller praktizierte ebenso wie Else Weil als Ärztin. Was Tucholsky allerdings nicht verwinden konnte: am Ende seines Lebens finanziell nicht mehr unabhängig und selbst auf die Unterstützung einer Frau (Hedwig Müller) angewiesen zu sein. So progressiv war er im wahren Leben dann doch nicht.

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