In der Politik ist man sich noch nicht einig, ob 2007 das Jahr der Angela Merkel, Hillary Clinton oder Gabriele Pauli war. In der Literatur(geschichte) fällt die Wahl wohl eindeutig auf: Mascha Kaléko. Am 7. Juni 2007 wäre die Lyrikerin 100 Jahre alt geworden. Unter anderem aus diesem Anlass wurde sie im vergangenen Jahr gut und gerne 800 Mal in der deutschen Presse erwähnt (laut gbi). In fast 100 Fällen davon in der Kombination mit Kurt Tucholsky, denn, um typische Erwähnungen zu zitieren:
Heute gilt die in Galizien als Mascha Engel geborene Kaléko als eine der spannendsten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Sie war mit Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Joachim Ringelnatz, Else Lasker-Schüler bis hin zu Bertolt Brecht befreundet. Dieser heute noch unübertroffene Dichter- und Kabarett-Kreis traf sich im „Romanischen Café“ in Berlin.
Hamburger Abendblatt vom 30.5.2007
Oder:
Ihre frühesten Gedichte erscheinen in den Berliner Zeitungen, gleich in den führenden, zumal im liberalen „Berliner Tageblatt“. Bald wird sie dort regelmäßig gedruckt. Sie hat sofort viele Leser und einige etwas ratlose Kritiker. Sie wissen nicht recht, wie man die Anfängerin einordnen soll. Verschiedene Namen werden vorgeschlagen: Sie käme aus der Welt von Eugen Roth, sie sei eine Tochter Christian Morgensterns, eine Schwester von Joachim Ringelnatz. Vor allem aber: Sie habe viel von Kurt Tucholsky und Erich Kästner gelernt – und das trifft am ehesten.
Marcel Reich-Ranicki in der FAZ
Was die Nähe zu Tucholskys „Gebrauchslyrik“ betrifft, so ist gegen diese Behauptung sicher nicht viel einzuwenden. Auch wenn Kästners Gedichte wohl mehr Ähnlichkeit mit Themen und Sprache Kalékos aufweisen.
Es ist allerdings ein weit verbreitetes Klischee, Tucholsky und Kästner hätten den lieben langen Tag im Romanischen Café gesessen und dort mit aufstrebenden Talenten über Politik und Literatur diskutiert. Die weite Verbreitung macht ein Klischee nicht wahrer. Tucholsky überhaupt in Berlin anzutreffen, war seit 1924 schon nicht so einfach. Schließlich lebte er dauerhaft im Ausland, 1929 und 1930 verbrachte er insgesamt zehn Wochen in seiner Heimatstadt, die er im April 1931 zum letzten Mal sah. Und während seiner seltenen Berlin-Aufenthalte war es eher unwahrscheinlich, ihm im besagten Literatentreffpunkt zu begegnen. Denn:
Allen gemeinsam ist das Romanische Café, auf das ich nicht so schelten kann, wie das vielfach geschieht. Es ist nicht meine Nummer – aber dergleichen muß sein, das hats immer gegeben (…)
Peter Panter: „Die Zeit“, in: Die Weltbühne, 18.2.1930, S. 284
Statt dessen bevorzugte er beispielsweise das Restaurant Schwannecke, von dem er dichtete:
Früher, wenn mal etwas Komisches war:
ein Rednerschwupper an Thron und Altar,
der Kindermund eines Filmgenerals,
der Duft eines Reichsgerichts-Skandals,
Adele Sandrocks herrlicher Baß,
ein dämlicher Kabinettserlaß;
wenn mit Recht ein Verleger Pleite gemacht,
wenn ein Tisch sich bei Schwannecke zerkracht –
dann tat eine innere Stimme befehlen:
Das mußt du gleich S.J. erzählen!
[…]
Theobald Tiger, „Lücke“, in Die Weltbühne, 29.3.1927, S. 503
Auch Kästner war kein typischer Gast des „Romanischen“. Er schrieb seine Gedichte und Bücher im Café Carlton und später im Café Leon, wie Jürgen Schebera in seinem klassischen Bildband Damals im Romanischen Café berichtet.
Darin findet sich jedoch ein musikalischer „Beweis“ für Tucholskys Aufenthalte in dem Café gegenüber der Gedächtniskirche. In einem Chanson von Willi Kollo heißt es:
Damals im Romanischen Café,
Wir saßen stundenlang bei einem Glas Tee.
Beiden gings uns damals ziemlich schlecht,
Wir lebten nur von Pump, Kurt Weill und Bertolt Brecht.
Es schrieb an seinem Marmortisch
Aus Prag der Egon Erwin Kisch
Den „Rasenden Reporter“ –
Durchs Café ging der Kortner.
Homolka spielte oben Schach
Die Mosheim blieb verzweifelt wach
Friedell saß bei dem Anton Kuh
Tucholsky setzte sich dazu.
[…]
Jürgen Schebera: Damals im Romanischen Café, Leipzig 1998, S. 63
Nicht ausgeschlossen, dass Kollo schon damals Klischees bemühte.
Gegen eine enge persönliche Verbindung von Tucholsky, Kästner und Kaléko spricht auch die Tatsache, dass die junge Dichterin nie in der Weltbühne erwähnt und lediglich einmal ein Gedicht („Kassen-Patienten“) von ihr in der Zeitschrift veröffentlicht wurde. Wen es vor allem ins Romanische Café verschlug, beschrieb der Journalist Hanns-Erich Kaminski in dem Blatt:
Von Wien aus gesehen, erscheint Berlin als ein zweites New York, als die zivilisierte Wildnis des zwanzigsten Jahrhunderts, in der man ohne einen Pfennig ankommen und sich mit geballten Fäusten den Weg nach oben, zum Erfolg, zum Reichtum, bahnen kann.
Der junge Mann aus Wien begibt sich vom Anhalter Bahnhof ins Romanische Café. Dort trifft er Bekannte und gewinnt neue Freunde, bald kann er herumgehen und an zwölf Tischen guten Tag sagen. Aber bald merkt er auch, daß die Luft dort anders ist als in Wien. In Wien bedeutet das Café den Hafen, in Berlin nur den Startplatz. Im wiener Café sitzen immer dieselben Leute, im berliner wechseln sie alle paar Jahre. An der Gedächtniskirche muß man arrivieren oder man geht vor die Hunde.
Hanns-Erich Kaminski: „Der junge Mann aus Wien“, in: Die Weltbühne, 16.12.1930, S. 903f.
Gut möglich, dass Kaléko und Tucholsky sich bei einem „Personalwechsel“ verpasst haben.