Anregende Nebensätze
Wenn sich FAZ-Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki daran erinnert, welchen Einfluss Tucholsky in der Weimarer Republik hatte, liegt er durchaus schon mal daneben. Aber auch die Anregungen, die Reich-Ranicki persönlich von Tucholsky erfahren haben will, halten einer Überprüfung nicht unbedingt stand. So antwortete Reich-Ranicki jüngst auf die Frage, wie er die Bedeutung der Fantasy-Literatur einschätze:
Ich weiß es, ich werde Sie enttäuschen: Fantasy-Literatur, Science-Fiction und dergleichen mehr interessierte mich ein wenig in meiner Jugend. Von Tucholsky angeregt, las ich den Amerikaner Edward Bellamy, dann einige Romane von Jules Verne, dann einen in der Nachfolge von Verne schreibenden populären deutschen Autor Hans Dominik, der längst vergessen ist – und dann hatte ich von dieser Literatur genug.
Sollte diese Aussage stimmen, müsste der junge Reich-Ranicki selbst auf kleinste Bemerkungen Tucholskys reagiert haben. Denn dieser hat den Autor Eduard Bellamy nur einen einziges Mal erwähnt – ganz nebenbei:
Und so genau, wie ich weiß, daß es auch unter uns, wie überall, Leute gibt, die ihrer Zeit nicht mehr gewachsen sind, so wie ich denke, daß auch meine Stunde einmal kommt, in der ich ‚die Welt nicht mehr verstehe‘ – so gewiß weiß ich, daß die einfache Radikalforderung nach einer neuen Welt eine Forderung der Literatur ist. Mondland, Utopia, Fortschrittsroman von Bellamy, darin Müdigkeit, Sehnsucht und lasch wollendes Gemüt ihre Befriedigung finden.
Als der Artikel „Was haben wir –?“ am 6. April 1926 in der Weltbühne erschien, konnte Reich-Ranicki vielleicht sogar schon lesen.