1.1.2004

Die Überschrift

Das haben wir eigentlich aus Amerika gelernt, nicht auf die Suppe, sondern auf den Topf zu gucken. Früher fragte man, wie eine Medizin wirke, heute, wie sie verpackt sei. Ein Königreich für einen Titel!

   Die Zeitungen habens verschuldet, deren geschickteste Angestellte sich den Kopf zerbrechen müssen, um einen Titel, ein lockendes, fettgedrucktes Wort zu erfinden … Es ist nicht zu tadeln, wenn eine gute typographische Druckanordnung die Orientierung des Lesers erleichtert, – aber das geschieht bei uns auf Kosten des Inhalts. Die Überschrift macht den Kohl fett, der sonst so fad wäre, daß ihn niemand schlucken möchte.

   Wenn die Überschrift noch den Extrakt der Nachricht, des Artikels enthielte: keine Spur! Anreizen soll sie, und die Folge ist, daß der ewig überhungrige Leser die dünne Kaviarschicht durchbeißt, auf den pappigen Teig stößt und dann das Ganze überdrüssig wegwirft. So werden viele guten Dinge diskreditiert: nur durch die Überschrift. Es gibt gerade in Berlin Zeitungen, die es darin zu einer beängstigenden Fertigkeit gebracht haben. Es kann kommen, was da will: eine Überschrift muß es haben, die den Leser vor den Kopf stößt. Wie? ‚Der Glaszauber‘? – Und nachher ist es ein Flaschenfabrikant, der allerlei Triviales über sein Geschäft erzählt. ‚Der Schrei in der Nacht’‹? Und das wird wohl das Pfeifen einer Lokomotive bedeuten, und daran anschließend macht es sich sehr hübsch, wenn man ein wenig über die Lohnforderungen der Eisenbahnarbeiter schwätzt. In dieser Art: weil man erstens in der Regel nur Triviales zu bieten hat und zweitens der verhätschelte Leser für ernste und anstrengende Dinge nicht zu haben ist, verputzt man einen an sich gleichgültigen Aufsatz mit glitzernden Mätzchen und krönt ihn mit der Krone des Kolportageromans, mit einem wilden Titel.

   Darunter leiden vor allem die Berichte aus den Gerichtsverhandlungen. ‚Ein trübes Sittenbild aus dem dunkeln Berlin‘. ‚Der geheimnisvolle Juwelendiebstahl.‘ ‚Der Mord im Pantinenkeller‘, und der Unterschied zwischen einem Schundroman und einer parodistischen Operette wird nicht immer gewahrt.

   Der Brauch, Flaschen abgestandener Flüssigkeiten mit aufreizenden Etiketts zu bekleben, hat seine Gefahr, weil der Leser gern seine wirklichen Erlebnisse etikettiert. Es gibt schon eine Menge Leute, die nicht deutsch, sondern Zeitungsdeutsch sprechen und die, statt einen komplizierten Seelenvorgang zu untersuchen, das Wort ›Lebenswandel‹ vorziehen.

   Die Aufmerksamkeit des bürgerlichen Zeitungslesers auf soziale und wirtschaftliche Kämpfe hinzulenken, ist fast nur noch möglich, wenn man mit einer Dosis ranziger Sentimentalität aufkocht. Ehrliche, sachliche Zahlen, trockenes Material wirken längst nicht mehr. Die Überschrift wirkt, die Überschrift, das Etikett, die Schablone, das Schema: mit ihnen amerikanisiert diese aufkommende Presse die Köpfe und die Geister.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: März, 1.2.1914, Nr. 9, S. 281.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 2.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 1, S. 182 ff.

Der neue Zeitungsstil

So, wie es in Berlin eine englisch-jüdische Tischzeit gibt (ohne auskömmliche Mittagspause, aber durcharbeiten bis abends sieben Uhr), so hat sich ein neuer deutscher Zeitungsstil herausgebildet, der die Untugenden der amerikanischen Hearst-Presse und des ‚Neuen Wiener Journals‘ zu einem schönen Ganzen vereinigt.

   Der Ursprung der Nachrichten hat sich kaum verändert. Von mäßig bezahlten Reportern mäßig aufgenommen, mit kleinen Mitteln rasch zusammengeklaubt, nicht einmal so tendenziös gefärbt wie unsorgfältig zusammengehauen, gehen die Telegramme ihren Weg. Früher druckte man sie ab. Heute macht man sie auf. Was, man macht sie auf! Man macht sie überhaupt erst zu Etwas, man schöpft und schafft aus dem Nichts, man erfindet Wahrheiten. Im Anfang war die Überschrift. Das kleinste Lausetelegramm kann durch geschickte ‚Aufmachung‘ zu einer Art Sensation werden. Der Käufer ist abgestumpft: er hat die Lügen der Obersten Heeresleitung und die großen Kanonen- und Menschenmaterial-Zahlen des Weltkrieges hinter sich –: er muß schon etwas geliefert bekommen für sein Geld. Also etwa so: Der englische Kronprinz wirft eine Parfumflasche in einem pariser Geschäft um. Überschrift: „Englisch-französischer Zusammenstoß“. Dem Kaiser von Doorn werden von der deutschen Republik dreihundertachtzig Milliarden angeboten. Er will aber noch mehr und schreibt zurück: Verzichte, Überschrift: „Verzicht des Ex-Kaisers auf sämtliche Abfindungen?“ Der italienische Konsul in Abessinien bringt sich eine Kokotte aus Rom mit. Überschrift: „Nächtlicher Kampf an der Grenze Abessiniens“. Aber was ist das alles gegen das Bild –!

   Das Bild ist die Schule der Weisheit des kleinen Mannes. Und wieviel große Männer bei uns sind nicht kleine Männer! Das Konkret-Anschauliche wird mit Recht immer den Sieg über das Abstrakte davontragen – aber nun sehe man sich an, wer diese Bilder herstellt, wie sie hergestellt sind, und wer sie aussucht! Über politische Tendenz kann man streiten, über ästhetische Begriffe kann man verschiedener Ansicht sein – aber über den vollkommenen Stumpfsinn dieser Bilder gibt es wohl nur eine Meinung. Nämlich die: Wie ungeheuer interessant! „Die Kronprinzessin von Kambodscha nach dem Tennisturnier.“ „Vizepräsident Schindanger legt einen Kranz auf den Gedenkstein des 500. deutschen Rhönsegelflugsportlers nieder.“ „Baby aus Maori, hinten geimpft.“ Man könnte getrost die Unterschriften vertauschen, es merkt ja doch keiner.

   Die Technik schreitet fort. Artikelüberschriften und Bildunterschriften sind das Gebiet eifrigsten Studiums. Kein Zeitungsmann zerbricht sich den Kopf so über die Gewinnung neuer wichtiger Nachrichten wie über die Textierung des alten herkömmlichen Materials. Es hat sich nicht geändert – aber es wird jetzt viel feiner verpackt.

   Die Weltgeschichte fix und fertig für den Gebrauch von Schwachsinnigen. Die Amerikaner sind wenigstens oberflächlich, suchen und bekommen ihre Sensation, und aus ists. Dies aber gibt sich als: ›Französischer Schick und deutsche Gründlichkeit‹. Täglich prasseln tausend Probleme auf den geängstigten und geschmeichelten Abonnenten; genau wird er über das Steuerwesen auf Honolulu, die Guttemplerbestrebungen bei den Eskimos, das Anwachsen der homosexuellen Kreise auf den Straußenfarmen, die ersten Uhren und die letzten Frauenzimmer unterrichtet. Und immer mit der Anmaßung der Gründlichkeit. Es ist die Verbreitung der Ignoranz durch die Technik.

   Diese aufgeregte Stagnation ist ein getreues Abbild der Gesellschaftsordnung, die sie hervorbringt. Eine lärmende Langeweile und ein tiefes Unrecht dazu: eine Verschleierung der Wahrheit und die Ablenkung vom Wesentlichen.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 16.12.1924, Nr. 51, S. 918.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1924

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 3, S. 527 ff.

Die „Nazis“

Vorbemerkung: Häufig wird behauptet, Kurt Tucholsky habe als erster den Begriff „Nazis“ auf die Nationalsozialisten angewendet. Das soll schon 1923 der Fall gewesen sein. Doch bis Ende der 1920er Jahre war auch bei Tucholsky dieser Sprachgebrauch nicht üblich. Dieser bürgerte sich erst mit den Wahlerfolgen der NSDAP ein. Das mit „Nazis“ vorher Deutschösterreicher und Deutschböhmen gemeint waren, zeigt beispielhaft der folgende Text, der im November 1920 in der Weltbühne erschien.

In Nummer 45 der ‚Weltbühne‘ wird dem oesterreichischen Gesandten Ludo Hartmann nachgesagt, er sei ein aufrichtiger und eifriger Verfechter des Anschlußgedankens gewesen, aber auch ein sehr ungeschickter. Er habe die Norddeutschen nicht zu nehmen verstanden und durch seinen Uebereifer viel verdorben. Daran mag manches richtig sein; aber Hartmann wollte ja nicht seine Person aufdrängen und handelte nur als Vertreter einer Politik, die von den Besten Österreichs als die einzige Rettung aus wirtschaftlicher und kultureller Not erkannt wurde. Ferner: als Hartmann seinen ganzen, dem Norddeutschen befremdlichen, Eifer entfaltete, bestand kurze Zeit eine Möglichkeit, den Anschluß durchzuführen, und wenn diese Möglichkeit wirklich nur durch die „Frostigkeit“ der Norddeutschen versäumt wurde, dann war Hartmann der weitsichtigere Politiker. Denn es handelte sich damals um Stunden, und Taktfragen konnten doch nicht entscheidend sein für eine Sache des Reiches; wären sie es gewesen, fiele die Verantwortung auf die „Frostigen“. Man lächle nicht: die Oesterreicher wären nicht mit leeren Händen gekommen. Denn es ging nicht um die Aufnahme eines verelendeten Kleinstaats, dessen Bankerott Großstaatdimensionen erreicht hatte, sondern um die für Deutschlands Wirtschaft nötige gemeinsame Grenze mit Italien und Jugoslawien. Die für Deutschland unendlich wichtigen, also deutschen Verkehrswege nach Süden und Südosten wären die wirksamste Durchbrechung der Isoliermauer gewesen, die man um Deutschland gezogen hat. Das wußte der „aufdringliche“ Oesterreicher Hartmann, dessen schlichter Privatperson gestikulierende Betriebsamkeit immer fern lag.

Vorläufig ist das nun vorbei. Aber in der zitierten Glosse des „Kleinen Welttheaters“ wurde noch hervorgehoben, daß Hartmann übersehen habe, wie sehr man „in ganz Deutschland noch lange nach dem Kriege auf die ‚Nazis‘ erbittert sein wird, ja ihnen vielfach die Hauptschuld an der endgültigen Niederlage zuschiebt“. Da möchte ich, ein Halb-Nazi (meine Mutter stammt aus Thüringen), der auch schon deshalb nicht voreingenommen sein kann, weil er drei Jahre lang in oesterreichischen Schützengräben gesteckt hat, einiges zur Klarstellung beitragen. Wenn man nämlich unter dem „Nazi“ den Deutschoesterreicher und Deutschböhmen versteht, dann ist es eine schwere Ungerechtigkeit, ihn für das Versagen des habsburgischen Bundesgenossen verantwortlich zu machen. Die staunenswerte Unkenntnis der ethnographischen und politischen Struktur des alten Oesterreich, die der deutschen Öffentlichkeit und leider auch der deutschen Führung eignete, die habsburgische Vogelstraußenmethode und das Hazardspiel ungarischer Großagrarier haben dazu geführt, eine Armee und einen Staat als vollwertige Figuren ins politische Spiel zu setzen, die beide versagen mußten. Die „Nazis“ sind daran unschuldig. Sie bildeten ein Fünftel der Bewohner des bunten habsburgischen Freudenhauses und hatten an der Front wie im Hinterland weitaus die größte Last dieses Krieges zu tragen. Angesichts der großsprecherischen und vielfach lügenhaften Propaganda, welche die Magyaren für ihre Truppen getrieben haben, muß festgestellt werden, daß, neben Kroaten und Dalmatinern, die deutschen Truppen Österreichs die einzigen absolut und immer verläßlichen waren. Man hat sie bis zur Vernichtung mißbraucht, während Truppenteile andrer Nationalität geschont und gestreichelt wurden, solange sie nicht gradezu überliefen. Das ist ja das Geheimnis der oesterreichischen Niederlagen: es gab im Ernstfalle nie eine zusammenhängende Front, sondern nur Inseln wirklicher Soldaten inmitten einer zurückweichenden oder zum Feind übergehenden Masse uniformierter Levantiner. Und diese Inseln wurden zum großen Teile immer wieder von „Nazis“ gebildet. Soviel ich weiß, hatte die oesterreichische Armee die relativ höchste Verlustziffer unter allen Armeen des Weltkriegs; innerhalb der oesterreichischem Armee entfiel von den blutigen Verlusten ein grausam hoher Prozentsatz auf die Nazis, während andre Nationalitäten mehr an den Gefangenenziffern beteiligt sind. In trostlosen Situationen, wie sie die deutsche Armee, in sich ziemlich gleichartig und geschlossen, kaum je gekannt hat, haben die Nazis das Menschenmögliche und oft noch mehr getan; und für die Nazi-Truppen gab es fast immer trostlose Situationen: sie mußten überall hinein, wo andre versagt hatten. Als Entgelt hungerte Deutschoesterreich und Deutschböhmen entsetzlich, während czechische und magyarische Agrargebiete immer noch zu leben hatten.

Kennt man in Berlin die Nazis? Ich glaube, man verwechselt sie mit übeln wiener Typen oder rangiert sie ein als Bayern zweiter Güte. Keines von beiden ist richtig. Und eine Schuld am Zusammenbruch tragen weder die armen Nazis, deren Gräber, soweit sie überhaupt welche haben, in Galizien, Polen, Wolhynien, auf den Dolomiten und dem Karst in trauriger Fülle zu sehen sind, noch die weit ärmern, die jetzt aus dem habsburgischen Starrkrampf in die Aussicht eines seelischen und physischen Hungertodes erwachen. Und wenn sie nach all der schlawinischen Sauwirtschaft in ihre Heimat zurückverlangen, aus der sie die Eigensucht einer Dynastie jahrhundertelang herausregiert hat, so verüble man ihnen die Atemlosigkeit ihrer Sehnsucht nicht; sie haben eben nicht mehr viel Atem. Und ehe man ihr Asthma von zweifelhaften Sauerstoffapparaten der Entente kurieren läßt, nehme man lieber einige ungewohnt südliche Manieren in Kauf und gehe aufs Ganze. Denn der Anschluß wäre auch dann eine deutsche Notwendigkeit, wenn ihn die Oesterreicher nicht wünschten und brauchten.


Autorenangabe: Josef Räuscher

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 25. November 1920, S. 627

Warum

müssen eigentlich fast alle Leute, die in einer Anstalt untergebracht sind, früh aufstehen? Warum werden sie so früh geweckt: in Gefängnissen, Krankenhäusern, Kasernen … ist ihr Tag so kurz? Ist das gesund?
Der geschäftige Müßiggang des Militärs sei hier nicht erörtert. Was die ernsthaft Arbeitenden angeht:
Gesund ist es deshalb nicht, weil kein Mensch mehr mit den Hühnern zu Bett geht. Die Strafgefangenen müssen es, wobei zu beachten, daß die Hühner wieder verhältnismäßig mehr Luft für sich haben … also die Gefangenen müssen es, aber dafür schlafen sie nicht. Warum werden sie so früh geweckt -?
Nein, ihr Tag ist nicht zu kurz. Es ist wohl der Geltungsdrang der leitenden Herren, der sich da austobt. Stigma modernen Sklaventums: um fünf Uhr aufstehen müssen. Das ist gut und richtig, wenn man abends um neun schlafen geht; es ist für den richtig, der im Training lebt – aber es ist Widersinn, Leute, die in einer Stadt leben, so früh in den Tag zu jagen. (Hornbrillengemurmel: „So lange in den Betten liegen … nur auf dumme Gedanken … schon vom hüschénischen Standpunkt … “ und Sie, Herr -?) Stigma aller Unterdrückten: früh aufstehn zu müssen. Der bessere Herr erscheint um halb neun zur Arbeit, der feine um neun, der ganz feine um halb zehn. Man kann an ihren Uhren ablesen, was die Glocke geschlagen hat.
Gebt den Leuten mehr Schlaf – und sie werden wacher sein, wenn sie wach sind.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 21. Januar 1930, Nr. 4, S. 150

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 48 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 26 ff.

Brief an Marierose Fuchs (18.2.1930)

An Marierose Fuchs

Post: Weltbühne

Hindås, 18.2.1930
Sehr verehrtes Fräulein Fuchs,
ganz oder gar nicht … daher die verspätete Beantwortung. Ich hatte ein bißchen viel um die Ohren, Arbeit, Reisen pp – und ich mag grade an Sie nicht so schreiben, mit «schönen Dank für Ihre Briefe, die mich sehr interessiert haben …» daher habe ich mir diesen Brief aufgespart. Ich bitte Sie ausdrücklich, mir das nicht krumm zu nehmen – es sind keinerlei Hintergedanken dabei. Ich wäre ehrlich genug, Ihnen das zu sagen. Jetzt gehts los.
Also da liegen alle Ihre Briefe vor mir … und ich habe sie zweimal sorgfältig gelesen, einmal mit Bleistift, einmal ohne. Bevor ich im einzelnen antworte, wollen wir erst mal das Katholische besingen.
Ich unterscheide strictissime zwischen:
dem Katholicismus und der katholischen politischen Zentrumspartei.
Über die Religion kann ich nur sehr vorsichtig mitreden. Meine Kenntnisse sind nicht die eines Theologen; ich bin nicht in diesem Glauben aufgezogen … ich darf also nur tastend sprechen. Resultat: Ablehnung des Grundgehalts, mit dem ich nichts anfangen kann, dem ich nur verstandesmäßig nahe (oder weit) komme – große Bewunderung vor dem Denkgebäude, der Architektonik dieser Gehirne und des Aufbaus … Beziehungslosigkeit zum Kern.
Was die Partei angeht: Dank für ihre Haltung in den Jahren 1918–1923, 24 … vor allem in der Außenpolitik, wo die Leute sehr viel für Deutschland (und dabei legitim immer für sich) getan haben. Schärfste, unbedingte, frechste Ablehnung ihrer innerpolitischen Haltung. Wieweit die von der Religion beeinflußt ist, kann ich nicht sagen. (Tant pis pour elle.) Das geht nicht. Diese Haltung in: Ehescheidung, Prostitution, Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten; Strafvollzug, Militär … also nein, nein und nochmals nein. Es ist einfach nicht wahr, daß das dem «praktischen Leben verbunden» ist. Das ist, halten zu Gnaden, ein einziges Malheur (ich drücke mich so fein aus, mir wird noch der Mund abbrechen). Ich bin weder ein Pornograph noch ein Anhänger jener flachen «freien Liebe», die mir in ihren Grundzügen selbstverständlich ist, und deren Ausposaunung für unbefriedigte Damen beiderlei Geschlechts höchst fatal ist … Sie sehen auch aus meinem Geschreibe, daß ich noch andere Sorgen habe als diese – aber das, was die Partei treibt, ist scheußlich. Reinhaltung? Das ist so verlogen, so durch und durch unwahr und vor allem – und nur darauf kommts an:
im Effekt derart verderblich, daß ich jeden Kampf auch im Verein mit solchen, die mir nicht immer sehr sympathisch sind, mitmache. Man muß diese Mittelstandsreden geschwollener Kleinbürger lesen: «Vom religiösen Standpunkt aus …» und auf diese Weise wird dann so viel Gutes verhindert – denn es ist gut, wenn Leute über das Wesen der Syphilis aufgeklärt werden; wenn eine reinlich gebürstete Badestubenatmosphäre herrscht … ich habe schon tausendmal geschrieben: Es ist zweierlei nötig: die ökonomische Grundbedingung des Lebens zu verbessern, also ein Minimum für den Arbeitenden herauszuholen, das menschenwürdig ist – und ihm eine gewisse Gelassenheit beizubringen. («Unsittlichkeit» wird nur überwunden, wenn sie ausgelacht wird. Ich sehe mir keine unanständigen Bilder an, weil sie mich langweilen. Ich bin fertig mit ihnen. Aber ich fange nicht an, zu kollern, wenn welche da sind.)
Das und nur das ist der Grund meines Kampfes. Das Gute, das die Partei daneben leistet, verschwindet vor dem Bösen. So sehe ich das.
Dies von der Seele getippt habend, zu Ihren Briefen.
Natürlich bemühe ich mich, «Euch» zu verstehen. Das ist glaubensmäßig sehr schwer – politisch schon eher möglich. Ich glaube nicht, daß ich in achtzehn Jahren Literatur jemals den Fehler begangen hätte, das Zentrum und nun gar die Kirche mit Clichéphrasen zu bekämpfen. Ich lehne das ab. Es gibt selbstverständlich unwürdige Priester, Scheinheilige, Dummköpfe … alles, was man will. Die gibts unter den Kommunisten (zu denen ich nicht gehöre) auch; die gibts überall. Maßgebend ist der unterste, der, den die Gruppe noch grade duldet – und maßgebend ist das Durchschnittsniveau. Das scheint mir im deutschen Katholicismus nicht gar so übermäßig hoch zu liegen … aber wo täte es das!
Sie schreiben von dem Jammer, den Sie in der Caritas zu sehen bekommen. Seine Linderung ist gut – bravo. Aber wie nun, wenn einer weiter denkt? Wenn einer sich überlegt: Woran liegts, daß es soweit kommen kann und immer wieder so kommen muß? Natur? Dummes Zeug. Es ist auch «natürlich», daß die Cholera im Mittelalter gewütet hat – und heute tut sie das nicht mehr, weil man civilisatorisch gegen sie vorgegangen ist. Das ist, wie Sie richtig schreiben, nicht der Weisheit letzter Schluß; aber es ist schon sehr viel. Mit der Seele allein ist es nicht zu machen; niemals. (Mit der Badewanne allein auch nicht. Aber ein gebadeter Arbeiter ist die Grundbedingung alles andern. Badewanne als Allegorie gesetzt.) Vom Diesseitigen her kann man gar nichts lösen – Sie haben ganz recht. Aber es soll zunächst nichts «gelöst» werden – es soll nicht gehungert, nicht krepiert, nicht unnütz geblutet werden; die Leute sollen, wenn sie arbeiten, arbeiten können, sie sollen eine menschenwürdige Wohnung haben … eben jenes Minimum. Das können sie nicht haben, wenn man Güter so verteilt. Wem dient die Kirche?
Daß mit solchem Kampf für die primitiven Dinge des Lebens nichts für eine gute und hohe Sterbestunde getan ist, weiß ich selber. Aber man stirbt eine Sekunde und lebt sechzig Jahre. Diese Qual der Arbeitenden ist niedrig; wer sie deckt, ist mitschuldig. Die Lehren der Kirche in diesem Punkt sind zum mindesten höchst zweideutig; das Verhalten der Partei eindeutig.
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Sie fragen: «Wie ist das, wenn man kein Weihnachten hat?» Na, danke es geht. Es geht wirklich sehr gut. Ein schöner Vers eines Freundes besagt:
Frei – das heißt doch wohl: befreit.
Ich will mich gern auslachen lassen – aber ich vermisse nichts.
Sicherlich sind diese Unterhaltungen von Ihnen zu mir und umgekehrt voll von Mißverständnissen. Man müßte über das zu verwendende Vokabular ein Jahr diskutieren und jeden Begriff festlegen; auf den Flaschen stehen manchmal gleiche Etiketts, bei verschiedenem Inhalt. Man kann also nur mit gutem Willen sich nähern.
Und der Kernpunkt Ihrer Briefe scheint mir jene Stelle zu sein, wo Sie sagen: «In dem Augenblick, wo der Katholik nicht mehr glaubt, daß er das richtige Glas hat, durch das man die Dinge sieht …» Voilà. Eben das weiß ich seit Jahren: Stärke aus Borniertheit. «Mein Glas ist das Richtige – sonst bricht alles zusammen. Nur meines. Kein andres.» Du lieber Gott … Ich weiß, wieviel Schwäche in den Leuten ist, die alles «relativ» sehen – so ists nicht gemeint. Aber Sie müssen mir schon erlauben, an der Stabilität dieser Eselsbrücke zu zweifeln. Sie ist eine Hilfskonstruktion für den Glauben; man darf aber nicht von andern verlangen, daß sie das ernst nehmen. So ist die menschliche Seele konstruiert; so braucht sie es – anders kann sie nicht leben: als unbedingt zu glauben. Aber ich doch nicht! Aber wir andern doch nicht! Glaubt, aber legt diese schreckliche Attitüde der Überheblichkeit, der bescheiden tuenden Superiorität ab – es hilft ja doch nichts.
Daß man sich – über die Köpfe hinweg, Bruder, reich mir die Hand – dennoch verstehen kann, scheint mir ein Beweis für die Nichtausschließlichkeit des Dogmas. Es gibt eben noch etwas darüber – Eros, was weiß ich … und das bestimmt die Beziehungen zwischen den Menschen endgültig, weil eben dies – im Gegensatz zum Dogma – nicht von Menschen gemacht ist. Das ist da.
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Ich werde mich immer sehr freuen, wenn Sie mir etwas zum Lesen schicken. Bitte vermerken Sie stets, ob Sie es zurückhaben wollen; selbstverständlich schicke ich es sofort zurück. Ich habe hier noch den Sonnenschein – soll der zurückgehen? (Ich brauche ihn nicht.)
Die Schilderung des mißglückten Weihnachtsfestes für die Armen hat mich nicht überrascht; sie hat mir nur gezeigt, was Sie für eine anständige Gesinnung haben. Seien Sie überzeugt: wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich nicht gesagt: «Aha. Da sieht mans.» Solche Dinge sind doch nur regional und temporär, nicht grundsätzlich bedeutsam. Es gibt auch andere Priester, die einen höheren Begriff von ihrem Amt haben und vor allem mehr Herzenstakt.
Richtig: Die Evangelienerklärungen Sonnenscheins. Ja, also die haben mir nun gar nicht gefallen. Es liegt das daran, daß der Ungläubige die Religion gern sehr mystisch hat – dies ist bewußt klar photographiert – es erscheint dem, der das Mysterium nicht bereits in sich aufgesogen hat, als, verzeihen Sie, sehr platt. Es ist so im Zeitungsstil gehalten … daraus kann ich mir gar nichts nehmen. Für den Tod, aus dem ja alles dieses kommt, nun schon gar nichts.
‹Hochland› läse ich gern von Zeit zu Zeit. Ich kenne das Blatt.
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Was das Persönliche angeht: ich bin gar nicht über Berlin gefahren, sondern über die einzige deutsche Stadt, in der ich leben könnte: über Hamburg. Das ist bezaubernd. Und nun sitze ich hier im blauen Schnee und denke nach, warum mir wohl so wenig einfällt …
Und Sie –? Alles, was Sie über sich geschrieben haben, hat mich sehr ergriffen. In einem der ersten Briefe stand: «Ich muß einmal zu einer Ärztin gehen, wegen der Erschöpfung … sie hat gesagt: viel Wärme und Freude.» Ich bin einmal mit einer Ärztin verheiratet gewesen (einer ganz besonders hochstehenden Frau), und ich habe daher die Gewohnheit erworben, über diese Dinge klar, kalt und ohne Herzklopfen zu reden. Als ich diese Stelle las, übersetzte ich mir das Rezept. Dann las ich in einem der andern Briefe Ihre Geschichte.
Ja … Also zunächst: mein Herr Berufskollege hat da aber schrecklich versagt. Wie kann man so empfindlich sein? Was ist das für eine Torheit, die Beziehung zu einem Menschen von einer Buchkritik abhängig zu machen? Nun, er kann sich nicht mehr wehren …
Ich glaube nicht, daß Sie genügend von Frauen wissen, um selber zu empfinden, ein wie starker Zauber von Ihrer fraulichen Persönlichkeit ausgeht. Ich lebe nicht in Berlin; ich komme vorläufig nicht nach Deutschland – dies ist kein Liebesbrief. Ich sage das, wie es ist. Also Sie wissen das nicht – gut. Ich bin aber nicht jung genug, um Ihnen nun den üblichen Rat zu geben. Das wäre nicht richtig gehandelt. Sie zerbrächen daran. Wie ich aus Ihrem Schweigen in der Kantstraße gehört habe (es war wie Musik) – geben Sie sich dann ganz; Sie können, wie Sie einmal sind, kaum verstehen, daß ein Mann, daß der Mann im Januar wirklich echt und herzlich liebt und im Juni gelangweilt am Telephon sagt: «Ich habe keine Zeit …» die Natur hat Sie nun einmal so gemacht. Ich weiß bis in die letzte Fingerspitze, was Sie meinen: Zusammensein und Zusammenerleben am Tage ist viel, viel wichtiger für Sie als der Rest. Das ist klar. Aber wie Ihnen aus der Einsamkeit helfen? Sie fliehen oft in die Arbeit, und – verzeihen Sie mir – vielleicht auch manchmal in die Religion. Man hat Ihnen gesagt, wie einmalig, wie unwiderruflich das alles ist – Sie sind davon überzeugt, ich will Sie nicht mit einer andern Meinung beunruhigen. Ich wünsche Ihnen nur, daß Sie einmal auf einen Mann stoßen, der Ihnen das gibt, was Sie so bitternötig brauchen: Zweisamkeit auf die Dauer. Denn es gibt ja so etwas wie Glück wohl nur auf den äußersten Polen: in einer völligen gläubigen Ruhe im Religiösen oder, auf der andern Seite: in einer fest gegründeten Gelassenheit, die ein Nachterlebnis ästhetisch und sauber gestaltet und im übrigen es für das nimmt, was es dort ist. (Nicht cynisch.)
Geht einer aus einem Lager in das andere, pflegt das ein Malheur zu geben. Tun Sies nicht.
Resumé: quälen Sie sich nicht zu sehr. Es gibt doch, wie Sie mir immer wieder richtig geschrieben haben, einen fröhlichen Katholicismus – einen lebensbejahenden, einen rheinischen, zum Beispiel – da sollten Sie sich etwas holen: Leben, Arbeit, einen Mann, einen Freund, eine Freundin … da ist es.
//
Ja, das wärs. Dank für das Anerbieten des Briefwechsels mit Claudel. Mit Rivière habe ich in Paris korrespondiert; ich habe ihn nie gesehen. Mir ist das sehr fremd, was da gemacht wird – mit den Plackereien der französischen Katholiken kann ich gar nichts anfangen. Und da es bei einem großen Amerikaner einmal heißt:
Allem Meinigen sollst du ein Deiniges gegenübersetzen –
so gehe ich aus meinem Bau nicht gern heraus: Wie ich überhaupt jeder Religion gegenüber empfinde: Mit genau derselben Stärke, mit genau derselben Berechtigung, mit der Ihr lebt – lebe ich auch. Ich habe mit Euch zu rechnen? Ihr habt mit mir zu rechnen.
Ich freue mich immer sehr, von Ihnen zu hören. Eine Rücksicht, die ich nicht erklären kann, doch: nicht erklären möchte – hat mich abgehalten, unsere Begegnung in Berlin in Verse zu setzen – man hätte das gekonnt. Aber es hätte Sie an einer entscheidenden Stelle verletzt, obgleich es gar nicht gegen Sie ging; es wäre ein Vulkanausbruch geworden … man soll das nicht, wenn die Objekte es kontrollieren können.
Man sollte Sie streicheln.
Mit den herzlichsten Grüßen
wie immer Ihr
Tucholsky.
Ihre Briefe sind literarisch viel besser als Ihre gedruckten Arbeiten. (Das können Sie aber bewußt nicht nachahmen – dann würde es unwahr werden.) Der Ton der Artikel ist mir zu … bonbonrosa. Man soll empfindend sein, nicht empfindsam. Entschuldigen Sie das krasse Urteil – ich kann in der Literatur nicht lügen. Sie erreichten auch mit kalter, gebosselter Härte viel mehr.

Ratschläge für einen schlechten Redner

Fang nie mit dem Anfang an, sondern immer drei Meilen vor dem Anfang! Etwa so:
»Meine Damen und meine Herren! Bevor ich zum Thema des heutigen Abends komme, lassen Sie mich Ihnen kurz …«
Hier hast du schon so ziemlich alles, was einen schönen Anfang ausmacht: eine steife Anrede; der Anfang vor dem Anfang; die Ankündigung, daß und was du zu sprechen beabsichtigst, und das Wörtchen kurz. So gewinnst du im Nu die Herzen und die Ohren der Zuhörer.
Denn das hat der Zuhörer gern: daß er deine Rede wie ein schweres Schulpensum aufbekommt; daß du mit dem drohst, was du sagen wirst, sagst und schon gesagt hast. Immer schön umständlich.
Sprich nicht frei – das macht einen so unruhigen Eindruck. Am besten ist es: du liest deine Rede ab. Das ist sicher, zuverlässig, auch freut es jedermann, wenn der lesende Redner nach jedem viertel Satz mißtrauisch hochblickt, ob auch noch alle da sind.
Wenn du gar nicht hören kannst, was man dir so freundlich rät, und du willst durchaus und durchum frei sprechen … du Laie! Du lächerlicher Cicero! Nimm dir doch ein Beispiel an unsern professionellen Rednern, an den Reichstagsabgeordneten – hast du die schon mal frei sprechen hören? Die schreiben sich sicherlich zu Hause auf, wann sie »Hört! hört!« rufen … ja, also wenn du denn frei sprechen mußt:
Sprich, wie du schreibst. Und ich weiß, wie du schreibst.
Sprich mit langen, langen Sätzen – solchen, bei denen du, der du dich zu Hause, wo du ja die Ruhe, deren du so sehr benötigst, deiner Kinder ungeachtet, hast, vorbereitest, genau weißt, wie das Ende ist, die Nebensätze schön ineinandergeschachtelt, so daß der Hörer, ungeduldig auf seinem Sitz hin und her träumend, sich in einem Kolleg wähnend, in dem er früher so gern geschlummert hat, auf das Ende solcher Periode wartet … nun, ich habe dir eben ein Beispiel gegeben. So mußt du sprechen.
Fang immer bei den alten Römern an und gib stets, wovon du auch sprichst, die geschichtlichen Hintergründe der Sache. Das ist nicht nur deutsch – das tun alle Brillenmenschen. Ich habe einmal in der Sorbonne einen chinesischen Studenten sprechen hören, der sprach glatt und gut französisch, aber er begann zu allgemeiner Freude so: »Lassen Sie mich Ihnen in aller Kürze die Entwicklungsgeschichte meiner chinesischen Heimat seit dem Jahre 2000 vor Christi Geburt … « Er blickte ganz erstaunt auf, weil die Leute so lachten.
So mußt du das auch machen. Du hast ganz recht: man versteht es ja sonst nicht, wer kann denn das alles verstehen, ohne die geschichtlichen Hintergründe … sehr richtig! Die Leute sind doch nicht in deinen Vortrag gekommen, um lebendiges Leben zu hören, sondern das, was sie auch in den Büchern nachschlagen können … sehr richtig! Immer gib ihm Historie, immer gib ihm.
Kümmere dich nicht darum, ob die Wellen, die von dir ins Publikum laufen, auch zurückkommen – das sind Kinkerlitzchen. Sprich unbekümmert um die Wirkung, um die Leute, um die Luft im Saale; immer sprich, mein Guter. Gott wird es dir lohnen.
Du mußt alles in die Nebensätze legen. Sag nie: »Die Steuern sind zu hoch.« Das ist zu einfach. Sag: »Ich möchte zu dem, was ich soeben gesagt habe, noch kurz bemerken, daß mir die Steuern bei weitem …« So heißt das.
Trink den Leuten ab und zu ein Glas Wasser vor – man sieht das gern.
Wenn du einen Witz machst, lach vorher, damit man weiß, wo die Pointe ist.
Eine Rede ist, wie könnte es anders sein, ein Monolog. Weil doch nur einer spricht. Du brauchst auch nach vierzehn Jahren öffentlicher Rednerei noch nicht zu wissen, daß eine Rede nicht nur ein Dialog, sondern ein Orchesterstück ist: eine stumme Masse spricht nämlich ununterbrochen mit. Und das mußt du hören. Nein, das brauchst du nicht zu hören. Sprich nur, lies nur, donnere nur, geschichtele nur.
Zu dem, was ich soeben über die Technik der Rede gesagt habe, möchte ich noch kurz bemerken, daß viel Statistik eine Rede immer sehr hebt. Das beruhigt ungemein, und da jeder imstande ist, zehn verschiedene Zahlen mühelos zu behalten, so macht das viel Spaß.
Kündige den Schluß deiner Rede lange vorher an, damit die Hörer vor Freude nicht einen Schlaganfall bekommen, (Paul Lindau hat einmal einen dieser gefürchteten Hochzeitstoaste so angefangen: »Ich komme zum Schluß.«) Kündige den Schluß an, und dann beginne deine Rede von vorn und rede noch eine halbe Stunde. Dies kann man mehrere Male wiederholen.
Du mußt dir nicht nur eine Disposition machen, du mußt sie den Leuten auch vortragen – das würzt die Rede.
Sprich nie unter anderthalb Stunden, sonst lohnt es gar nicht erst anzufangen.
Wenn einer spricht, müssen die andern zuhören – das ist deine Gelegenheit! Mißbrauche sie.
Ratschläge für einen guten Redner
Hauptsätze, Hauptsätze. Hauptsätze.
Klare Disposition im Kopf – möglichst wenig auf dem Papier.
Tatsachen, oder Appell an das Gefühl. Schleuder oder Harfe. Ein Redner sei kein Lexikon. Das haben die Leute zu Hause.
Der Ton einer einzelnen Sprechstimme ermüdet; sprich nie länger als vierzig Minuten. Suche keine Effekte zu erzielen, die nicht in deinem Wesen liegen. Ein Podium ist eine unbarmherzige Sache – da steht der Mensch nackter als im Sonnenbad.
Merk Otto Brahms Spruch: Wat jestrichen is, kann nich durchfalln.

Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Vossische Zeitung, 16. November 1930, Nr. 542

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Berlin 1931

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff.,

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 290 ff.

Die Herren Wirtschaftsführer

Stets hat die Menschheit ihre Helden gehabt: Priester oder Ritter, Gelehrte oder Staatsmänner. Bis zum 14. Juli 1931 waren es für Deutschland die Wirtschaftsführer, also Kaufleute.

   Die Kaufleute sind Exponenten des Erwerbsinnes; sie haben immer ihre Rolle gespielt, doch wohl noch nie so eine große wie heute. Weil das, was sie in Händen halten, das wichtigste geworden ist, werden sie in einer Weise überschätzt, die lächerlich wäre, wenn sie nicht so tragische Folgen hätte. Die deutsche Welt erschauert, sie braucht Götzen, und was für welche hat sie sich da ausgesucht –!

   Man sollte meinen, daß der gesunde Menschenverstand wenigstens eines sehen könnte: den Mißerfolg. Aber damit ist es nichts. Niemand von denen, die diese Wirtschaftsführer bewundern, behielte auch nur einen Tag lang einen Chauffeur, der ihm die Karre mit Frau und Kind umgeworfen hätte, auch dann nicht, wenn dem Chauffeur die Schuld nicht nachzuweisen wäre. Er kündigt, denn solchen Chauffeur will er nicht. Aber solche Wirtschaftsführer, die will er.

   Der unbeirrbare Stumpfsinn, mit dem diese Kapitalisten ihre törichte Geldpolitik fortsetzen, immer weiter, immer weiter, bis zur Ausblutung ihrer Werke und ihrer Kunden, ist bewundernswert. Alles, was sie seit etwa zwanzig Jahren treiben, ist von zwei fixen und absurden Ideen beherrscht: Druck auf die Arbeiter und Export.

   Für diese Sorte sind Arbeiter und Angestellte, die sie heute mit einem euphemistischen und kostenlosen Schmeichelwort gern ›Mitarbeiter‹ zu titulieren pflegen, die natürlichen Feinde. Auf sie mit Gebrüll! Drücken, drücken: die Löhne, die Sozialversicherung, das Selbstbewußtsein – drücken, drücken! Und dabei merken diese Dummköpfe nicht, was sie da zerstören. Sie zerstören sich den gesamten innern Absatzmarkt.

   Sie scheinen ihn nicht zu wollen – dafür haben sie dann den Export. Was dieses Wort in den Köpfen der Kaufleute angerichtet hat, ist gar nicht zu sagen. Ihre fixe Idee hindert sie nicht, ihre Waren auch im Inland weiterhin anzupreisen; ihre Inserate wirken wie Hohn. Wer soll sich denn das noch kaufen, was sie da herstellen? Ihre Angestellten, denen sie zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel geben, wenn sie sie nicht überhaupt auf die Straße setzen? Die kommen als Abnehmer kaum noch in Frage. Aber jene protzen noch: daß sie deutsche Werke seien, und daß sie deutsche Kaufleute und deutsche Ingenieure beschäftigten – und wozu das? „Um den Weltmarkt zu erobern!“

   So schlau wie die deutschen Kaufleute sind ihre Kollegen jenseits der Grenzen noch alle Tage. Es setzt also überall jener blödsinnige Kampf ein, der darin besteht, einen Gegner niederzuknüppeln, der bei vernünftigem Wirtschaftssystem ein Bundesgenosse sein könnte. Die Engländer preisen rein englische Waren an, die Amerikaner rein amerikanische, und das Wirtschaftsinteresse tritt als Patriotismus verkleidet auf. Eine schäbige Verkleidung, ein jämmerlicher Maskenball.

   Schuld -? Vielleicht gehört eine große geistige Überlegenheit dazu, aus diesem traurigen Trott des Geschäftes herauszukommen und auch einmal ein bißchen weiterzublicken als grade bis zum nächsten Ultimo. Aber das können sie nicht. Sie machen weiter, wie sie es bisher getrieben haben. Also so:

   Niederknüpplung des Inlandskunden; Spekulation auf einen Export, der heute nicht mehr so durchzuführen ist wie sich die Herren das träumen; Überlastung der gesamten Industrie durch ein gradezu formidables Schreibwerk, das hinter dem Leerlauf der Staatsbürokratie um nichts zurücksteht. Was da an Pressechefs, Syndicis, Abteilungsleitern, Bürofritzen herumsitzt und Papierbogen vollschreibt, ohne auch nur das leiseste zu produzieren, das belastet uns alle. Aufgeblasen der Verwaltungsapparat – man sehe sich etwa das Verwaltungsgebäude der IG-Farben in Frankfurt am Main an: das Ding sieht aus wie eine Zwingburg des Kapitalismus, weit ins Land dräuend. Früher haben die Ritter die Pfeffersäcke ausgeplündert; heute hat sich das gewandelt.

   Wie immer in ungesunden Zeiten ist der Kredit in einer gradezu sinnlosen Weise überspannt. Das Wort ›Wucher‹ ist ganz unmodern geworden, weil der Begriff niemand mehr schreckt, er erscheint normal.

   Nun haben aber Kartelle und kurzfristige Bankkredite die Unternehmungslust und die sogenannte ›freie Wirtschaft‹ völlig getötet – es gibt sie gar nicht mehr. Fast jeder Unternehmer und besonders der kleinere ist nichts als der Verwalter von Bankschulden; gehts gut, dann trägt er den Ungeheuern Zins ab, und gehts schief, dann legen die Banken ihre schwere Hand auf ihn, und es ist wie in Monte Carlo: die Bank verliert nicht. Und wenn sie wirklich einmal verliert, springt der Steuerzahler ein: also in der Hauptsache wieder Arbeiter und Angestellte.

   ›Das Werk‹, dieser Götze, hat sich selbständig gemacht, und stöhnend verrichten die Sklaven ihr Werk, nicht mehr Sklaven eines Herrn, sondern Sklaven ihrer selbst Auch der Unternehmer ist längst zu einem Angestellten geworden, nur kalkuliert er für sich ein derartiges Gehalt heraus, daß er wenig riskiert. Die fortgeschrittenen Kommunisten tun recht daran, den Unternehmer nicht mehr damit zu bekämpfen, daß sie ihm Sekt und Austern vorwerfen, dergleichen verliert von einer gewissen Vermögensgrenze ab seine Bedeutung. Aber daß diese Kerle die Verteilung von Ware und Verdienst ungesund aufbauen, daß sie ihre Bilanzen vernebeln und den Angehörigen der wirtschaftlich herrschenden Klassen so viel Geld zuschieben, daß den andern nicht mehr viel bleibt: das und nur das ist Landesverrat.

   Ohnmächtig sieht der Staat dem zu. Was kann er machen? Nun, er kann zum Beispiel eine Verordnung erlassen, wonach das zu verkaufende Brot sein Gewicht auf der Kruste eingeprägt erhalten muß, und das ist ein großer Fortschritt. Seine Gesetze berühren die Wirtschaft gar nicht, weil sie ihm ebenbürtig an Macht, weil sie ihm überlegen ist. Sie pariert jeden Schlag mit den gleichen Mitteln: mit denen einer ausgekochten Formaljurisprudenz, mit einer dem Staat überlegenen Bürokratie, mit Geduld. Schiebt ihm aber alle Lasten zu, ohne ihm etwa das Erbrecht zu konzedieren. Er hat zu sorgen. Wovon? Das ist seine Sache.

   Also unsre Sache. Für wen wird gelitten? Für wen gehungert? Für wen auf Bänken gepennt, während die Banken verdienen?

   Für diese da. Es ist nicht so, daß sie sich mästen, das ist ein Wort für Volksversammlungen. Sie mästen den Götzen, sie sind selber nicht sehr glücklich dabei, sie führen ein Leben voller Angst, es ist ein Kapitalismus des schlechten Gewissens. Sie schwindeln sich vom Heute in das Morgen hinein, über viele Kinderleichen, über ausgemergelte Arbeitslose – aber das Werk, das Werk ist gerettet.

   Selbst die ›Frankfurter Zeitung‹, die sich in einer gradezu rührenden Weise bemüht, diesen störrischen Eseln des Kapitalismus gut zuzureden, wobei jene wild hinten ausschlagen, gibt zu, daß „nach den Erhebungen, die das Institut für Konjunkturforschung und eine deutsche Großbank unabhängig voneinander durchgeführt haben, noch entbehrliche Läger im Werte von mehreren Milliarden vorhanden sind“ – man male sich das angesichts dieser Not aus! Aber die Lager bleiben. Und das Werk ist gerettet.

   Wo steht geschrieben, daß es gerettet werden muß? Warum ist die Menschheit nicht stärker als dieser Popanz? Weil sie den Respekt in den Knochen hat. Weil sie gläubig ist. Weil man sie es so gelehrt hat. Und nun glaubt sie.

   Noch ist die andre Seite stärker als man glaubt. Zu warnen sind alle jene, die die Arbeiter sinnlos in die Maschinengewehre und in die weitgeöffneten Arme der Richter hineintreiben. Drei Jahre Zuchthaus – zwei Jahre Gefängnis – vier Jahre Zuchthaus … das prasselt nur so. Noch sind jene stärker. Die Arbeiterparteien sollten ihre Kräfte nicht in einem zunächst aussichtslosen Kleinkrieg verpulvern, solche Opfer haben einen ideologischen Wert, ihr praktischer ist noch recht klein. Drüben ist viel Macht.

   Also muß gekämpft werden. Aber so wenig ein geschulter Proletarier individuelle Attentate auf Bankdirektoren gutheißen kann, so wenig sind Verzweiflungsausbrüche kleinerer oder größerer Gruppen allein geeignet, ein System zu stürzen, das jede, aber auch jede Berechtigung verloren hat, Rußland zu kritisieren. Wer so versagt, hat zu schweigen.

   Doch schweigen sie nicht. Sie haben die Dreistigkeit, unter diesen Verhältnissen noch ›Vertrauen‹ zu fordern, dieselben Männer, die das Unglück verschuldet haben. Und keiner tritt ab, nur die Gruppierung ändert sich ein wenig. Das verdient die schärfste Bekämpfung.

   Kampf, ja. Doch unterschätze man den Gegner nicht, sondern man werte ihn als das, was er, immer noch, ist: ein übernotierter Wert, der die Hausse erstrebt und die Baisse in sich fühlt. Sein Niedergang wird kommen. Das kann, wie die gescheiten und weitblickenden unter den Kaufleuten wissen, auch anders vor sich gehen als auf dem Wege einer Revolution. Bleiben die Wirtschaftsführer bei dieser ihrer Wirtschaft, dann ist ihnen die verdiente Revolution sicher.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 18.8.1931, Nr. 33, S. 254.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1931

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 9, S. 260 ff.

Die Begründung

Vor mir liegt im Namen des Volkes die Begründung zu dem Urteilsspruch gegen George Grosz, angeklagt wegen Gotteslästerung im Jahre 1928 nach Christi Geburt. Landgerichtsdirektor Tölke als Vorsitzender, Landgerichtsrat Krüger als zweiter Richter, zwei Schöffen. Aus den Gründen:

Nummer 10. Ein am Kreuz hängender, äußerst abgemagerter Christus ist in der allgemein gebräuchlichen Darstellung abgebildet, jedoch mit folgenden Besonderheiten: Das Gesicht ist durch eine Gasmaske verdeckt. An den Füßen befinden sich Soldatenstiefel, durch die die Kreuzesnägel getrieben sind. Die linke Hand ist nicht ans Kreuz genagelt, sondern hält am erhobenen Unterarm ein Kreuz.
Unterschrift: Maul halten und weiterdienen.
Wenn nach alledem wegen der Bilder 2 und 9 eine Schuldfeststellung nicht getroffen werden konnte, so entbehren diese Zeichnungen doch nicht der Bedeutung für die Frage, wie weit in dem dritten der beanstandeten Bilder, nämlich der Christusdarstellung am Kreuz mit Gasmaske und Soldatenstiefeln, der Tatbestand des § 166 StGB. erfüllt ist. Die Anklage erblickt in dieser Abbildung einen Angriff auf eine Einrichtung der christlichen Kirche, nämlich die Christusverehrung. Daß diese als Einrichtung im Sinne des § 166 StGB. zu werten ist, unterliegt keinem Bedenken (vgl. Olshausen a. a. O. § 166 Anm. 12 RGE. 2, 429). Das Gericht erachtet aber auch als erwiesen, daß hier das Tatbestandsmerkmal einer Beschimpfung durch den Angeklagten Grosz vollendet ist. Das ergibt gerade der Zusammenhang mit den beiden Bildern 2 und 9 und die gesamte Tendenz der als ›Hintergrund‹ betitelten Blätter. Denn richtete sich in den beiden vorgenannten Zeichnungen die Satire des Künstlers gegen einzelne Diener der christlichen Kirche und gegen den Gottesbegriff des ›heiligen Geistes‹, so ist hier in Bild 10 unverkennbar Christus selbst als Träger und Symbol jenes christlichen Glaubens, der bereits in den Zeichnungen 2 und 9 ironisiert wurde, das Angriffsobjekt. Bei der Auslegung des in diesem Bilde und seiner Unterschrift verkörperten Gedankens hat das Gericht nach freier Überzeugung zu entscheiden. Es ist dabei als allgemein gültige Auslegungsregel auch der Grundsatz zu erachten, daß, soweit der Wortlaut einer Gedankenäußerung nicht durchaus eindeutig ist, der Sinn der Äußerung aus den Nebenumständen, insbesondere aus dem Zusammenhang, aus dem Zwecke und dergleichen zu erforschen ist (vgl. dazu die allgemeinen Ausführungen des Urteils des RG. vom 11. 1. 26, abgedr. in der ›Jur. Wochenschrift‹ 1928, S. 1225 ff.). Bei Anwendung dieses Grundsatzes sieht sich das Gericht nicht in der Lage, der Auslegung zu folgen, die der Angeklagte Grosz seiner Darstellung gegeben hat. Nach der ganzen Anlage der Zeichnung müssen die Worte der Unterschrift ›Maul halten und weiterdienen‹ nicht als an Christus gerichtet, sondern als von ihm gesprochen aufgefaßt werden. Die starke Wirkung des Bildes beruht zum großen Teil darauf, daß die Christusfigur allein abgebildet ist, ohne jedes Beiwerk von Personen und sonstigen Requisiten, mit denen der Angeklagte auf den beiden andern Bildern verhältnismäßig verschwenderisch umgeht. Neben der Gasmaske und den Soldatenstiefeln lenkt das erhobene Kreuz in der linken Hand des gekreuzigten Christus die Blicke auf sich, jenes Kreuz als Symbol des Glaubens, das in Bild 2 auf der Nase des Priesters balanciert und im Bild 9 ms Wanken geraten ist. Wären auf dem Bilde noch andre Personen gezeichnet oder wären die Gasmaske und die Soldatenstiefel die einzigen Besonderheiten, so würde die Behauptung des Angeklagten, er habe die ans Kreuz geschlagene Menschheit darstellen wollen, an die jene die Unterschrift bildenden Worte gerichtet wurden, noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben. Aber gerade die besonders ins Auge fallende Abweichung von der sonstigen Darstellung des gekreuzigten Christus, nämlich das stark und sichtbar gezeichnete Kreuz in der linken Hand, gibt dem Bild die Wirkung, die es nach der Ansicht des Gerichts auf den Beschauer haben muß: Christus, für seine Lehre ans Kreuz geschlagen, hat für die Menschheit im Kriege, mit dessen Symbolen Gasmaske und Kommißstiefel man ihn bekleidet hat, trotz seines eignen Opfers auch nur den Trost und die Worte ›Maul halten und weiterdienen‹. Das Kreuz in seiner Hand gibt der ganzen Darstellung erst das typische; es wirkt in Verbindung mit den Worten der Unterschrift wie ein Ausrufungszeichen, Christus ruft diese Worte im Zeichen des Kreuzes der Menschheit zu. Es erscheint auch unverständlich, welchen Sinn diese Worte, wenn sie an den sterbenden Christus gerichtet würden, haben sollten. Gewiß verkörpert Christus, wie dem Angeklagten geglaubt werden mag, die ans Kreuz geschlagene Unschuld, die allerdings bei Grosz nicht viel Abweichendes von den Begriffen der Beschränktheit oder der Dummheit hat.

Die Worte »Maul halten und weiterdienen« werden selbstverständlich nicht von dem am Kreuze hängenden Christus gesprochen – wenn überhaupt diese oberlehrerhafte Feststellung von irgendwelchem Werte ist. Denn die Unterschriftsworte brauchen mit Notwendigkeit von gar niemandem gesprochen zu sein – der Zeichner gibt mit diesem Satz die Melodie des Blattes an, ohne daß ein Sprecher vorhanden sein muß. Ist also schon die Suche nach dem Sprechenden jeder gescheiten Kunstdeutung zuwiderlaufend, so ist, nimmt man überhaupt einen Sprechenden an, Christus sicherlich nicht derjenige, der spricht.
Dem steht entgegen, daß er eine Gasmaske trägt, so daß also die Worte »Maul halten und weiterdienen« nur als dumpfes Gemurmel, nicht aber als artikulierte Wörter an das Ohr der Außenwelt zu dringen vermöchten, eine Überlegung, die vom seligen Nicolai stammen könnte, den überrationalistischen juristischen Kunstbetrachtern aber wohl recht sein wird. Es ist aber auch dem Sinn des Bildes widersprechend, wenn angenommen wird, Christus spräche. Die gebeugte, gefesselte, mit einer Gasmaske geknebelte Gestalt ist wohl zu allerletzt berufen, einen Befehl zu erteilen – ihre ganze Haltung drückt genau das Gegenteil aus.
Wenn das Gericht hinzufügt: »Es erscheint unverständlich, welchen Sinn diese Worte, wenn sie an den sterbenden Christus gerichtet würden, haben sollten«, so begeht es einen doppelten Denkfehler. Es wird damit zunächst unterstellt, als müßten die Worte entweder von Christus gesprochen oder an ihn gerichtet sein, was falsch ist. Die Worte werden von niemand gesprochen und sind leiblich an niemand gerichtet – kein Mund und keine Ohren sind zu konstruieren. Es ist aber auch falsch, daß die Worte, an Christus gerichtet, keinen Sinn ergäben.
Der Sinn, den sie haben, ergibt sich aus der Tendenz der Bildermappe.
Die Worte sind vom Zeichner hinzugefügt, sie werden über den Christus hinweggesprochen, und zwar zur Menschheit, die in den Krieg getrieben wird – unter dem Zeichen des Kreuzes. Der Staatschristus, dem auf dem Bild nur noch eine Fahne fehlt, um komplett zu sein, ist aufgerichtet, um die Herde der Gläubigen zur Räson, nämlich zur Staatsräson zu bringen – in seinem Namen wird befohlen: »Maul halten und weiterdienen«, und er fällt selbst unter den Befehl. Der Kriegs-Christus, dem sie auf einem französischen Schlachtfeld das Kreuz weggeschossen haben und der nun, flehend, mit erhobenen Armen und mit wenig Dank an preußische Richter, die ihn schützen, über das Gemorde hinwegschrie – dieser Christus ist im Sinne des § 166 von der eignen Kirche geschändet worden.
Das und nur das hat George Grosz gezeichnet und empfunden.
Die »ans Kreuz geschlagene Unschuld, die nicht viel Abweichendes von den Begriffen der Beschränktheit oder der Dummheit hat« – das ist der Staatsbürger, der in den beiderseitigen Kirchen diesseits und jenseits der Grenzen für Mord betete – und man wird das fatale Gefühl nicht los, als sei es den Richtern viel mehr auf die Erhaltung dieser rührend dienenden Unschuld als auf den Schutz einer Kirche angekommen, die sich etwas schämen sollte.
Denn eine Landeskirche, die im Kriege so jämmerlich versagt hat, die die Jugend eines ganzen Landes in das Schlachten hineinsegnete; eine Kirche, die kein Wort gegen den Staatsmord fand, sondern ihn im Gegenteil noch propagierte: eine solche Institution hat allen Anlaß, still zu schweigen, wenn aufgezeigt werden soll, wer hier schändet.
Die Begründung der Richter ist unrichtig, ihr Urteilsspruch beruht auf einem Denkfehler. Sie haben das Bild Nummer 10 falsch gedeutet; und es ist nicht etwa ›Auffassungssache‹, sondern diese richterliche Deutung entbehrt jeden Sinnes. Sie arbeiten nicht einmal in ihrer eignen Domäne sauber, wie es sich gehört.
Die Prätention der Kirche aber, die sich wieder heftig rührt, um durch richterlichen Schutz eine rechtens in die Binsen gegangene Autorität schützen zu lassen, ist fehl am Ort. Sie hat ihr Wort Gottes verraten. Uns kann das gleich sein. Sie ist aber am wenigsten von allen legitimiert, die Heiligkeit ihrer Lehre zu verteidigen, an die kein gesunder, zum Soldatendienst gepreßter Mensch glauben kann, wenn sie ihm nicht in der Jugend das Gehirn verbogen haben. Wir wollen auch keinem der Beteiligten den Gefallen tun, an seine sachlichen Absichten zu glauben.
Die Kirche, die aus den Inquisitionsprozessen die ihr lieb gewordene Übung hat, den armen Sünder den staatlichen Henkern zuzustoßen und selbst im Hintergrund aufdringlich diskret zu beten, wirft die ihr unbequemen politischen Gegner den Richtern vor; die Justiz stürzt sich mit Wonne auf Leute, die sie sowieso als ›Aufrührer‹ empfindet. Die Kirche hat nach ihren völlig negativen Leistungen im Kriege kein Recht:

  • uns ihre Feiertage aufzuzwingen;
  • unsern Kindern ihre Lehre aufzuzwingen;
  • sich mit Glockengeläute und Gesetzgebung eine
  • Beachtung zu verschaffen, die ihr nicht zukommt;
  • sich in allen Bildungsfragen aufzudrängen und in alle Kinderhorte einzudrängen, denn sie repräsentiert nicht das einzige mögliche Weltbild, sondern nur eines, und das noch sehr unvollkommen. Sie versuche zu überzeugen – sie siege im Zeichen des Kreuzes, nicht im Zeichen des Landgerichtsdirektors. Sie schweige.

Wenn heute in allen Ländern mit Konkordaten und politischen Druckmitteln die katholische Kirche eine gradezu unheilvolle Rolle spielt, so ist das die Schuld ihrer Gegner. Die sind schwach; die haben ein schlechtes Gewissen und getrauen sich nie, klar und laut zuzugeben, daß sie vom Fegefeuer nichts mehr wissen wollen, sie demonstrieren nur leise gegen die Kirchensteuer – und wenn die Germanen, die so viel mit den Juden zu kakeln haben, wirklich wüßten, daß der Vatikan sie so nebenbei, mit der linken, rot behandschuhten Hand, regiert: sie wüßten, wo ihr Feind steht. Aber das haben sie nie gewußt.
Gegen eine solche unzureichende Begründung aber ist zu sagen, daß die Kirche unsre Gefühle verletzt; daß die aggressive Politik der Katholiken in Bayern und anderswo geeignet ist, unser Empfinden zu verletzen. Dieser Schutz der Kirche ist ein Angriff auf uns. Daß Grosz inzwischen einmal freigesprochen wurde, ändert nichts an diesem Hieb gegen die so überschätzte Kirche.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 19. März 1929, Nr. 12, S. 435.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1929, S. 117 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 7, S. 56 ff.

Journalistischer Nachwuchs

Woran es in Deutschland so merkwürdig mangelt, das ist die Möglichkeit für einen jungen Mann, in der Praxis und an der Praxis zu lernen: also arbeitend von einem Erfahrenen belehrt zu werden. Das Ideal aller Berufe ist die ‚Hochschule’ – irgend etwas der veralteten Universitätsform Nachgeäfftes, mit Professoren, Studenten, Studentenverbindungen und einem Examen. Dieses Examen soll dem Kandidaten die ‚Berechtigung’ geben, seinen Beruf auszuüben; er versteht das meist falsch und leitet ein Recht daraus her, wo doch nur eine theoretische Vorbereitungszeit gewesen ist. Am liebsten möchten sie eine ‚Hochschule für widernatürliche Unzucht sowie deren Abarten’ haben.
Wie sieht, zum Beispiel, der Nachwuchs im Journalismus aus –?
Kümmerlich. Und das kann gar nicht anders sein.

Wer jemals einlaufende Post auf einer Redaktion gelesen hat, der weiß, wie so ein Einlauf aussieht. Wenig Hoffnungen, viel Entwürfe – sehr viel Dilettanten, sehr viel Männer und Frauen, „die gar nicht einsehen, warum sie sich in dieser schweren Zeit nicht etwas nebenbei verdienen sollten“, die aber niemals auf den Gedanken kämen, sich etwa nachmittags zwei Stunden lang als Ingenieure einem Elektrizitätswerk zur Verfügung zu stellen. Schreiben kann jeder. Wie wird man Journalist –?
Man wird Journalist durch innere Berufung, weil man es werden muß. Und man kann es werden: durch Ermunterung. Die bleibt meist aus.
Ob das in andern Berufen auch so ist, weiß ich nicht: der deutsche Zeitungsmann ist ein sehr ungeduldiger Mensch. Das mag der Beruf so mit sich bringen – er wartet jedenfalls nicht lange ab, experimentiert selten, hält nicht aus. Gleich oder gar nicht. Das kann man nun mit jungen Menschen nicht machen, die ermutigt werden sollen, gefördert, beraten und geführt. Die Arbeitgeber im Zeitungsgewerbe aber wollen möglichst fertige Leistungen sehen, und da alle es wollen, also fast niemand halbfertige, entwicklungsmögliche Arbeiten druckt, so herrscht in der Zeitung der Routinier.
Das Gros der Redakteure liest Arbeiten wie Schulaufsätze; und zensiert sie. Ja – oder Nein: darüber hinaus gehts selten. Daß sich der Redakteur, der immer überlastet ist, mit seinen Leuten wirklich beschäftigt, ihnen die Unarten austreibt, ihnen nicht nur sagt, wie man es nicht machen darf, sondern anschaulich erzählt, wie man es machen solle. So züchtet man Nachwuchs.
Die Presse macht sichs bequemer und jammert hinterdrein, daß ‚keiner da ist’. Natürlich ist keiner da – sie jagen ja die meisten davon.
Da ist zunächst die Herrschaft der Geronten. Es ist gradezu kläglich, mitanzusehen, wie eine falsch angewandte Treue alte Knacker im Betriebe läßt, die schon in der Blüte ihrer Mannesjahre den Durchschnitt niemals überragt haben; Männer, die gar nicht alt werden können, weil sie nie jung gewesen sind. Arthur Holitscher oder Alfred Kerr oder Karl Scheffler werden niemals ‚passé’ sein – das welkt nicht. Dagegen hat bei irgend einem Dutzendschreiber die Sache mit dem fünfundsechzigsten Jahr gewöhnlich ihr Ende; wenn er je die Berechtigung hatte, überhaupt so lange zu schreiben, so waren es die Manneskraft, das Handgelenk, das handwerkliche Können, und die lassen etwa um diesen Zeitpunkt erheblich nach. Aber das klebt und nimmt jüngeren Leuten die Plätze fort; mit dem ganzen starren Eigensinn des vergreisten Alters sitzt das und sitzt, und die Verlage sind auf einmal so zartfühlend, so scheu, so duldend … Nie hat man sie so gesehen. („Wen meint er –?“ Ein System.)
Der Lernende aber läuft neben dem Betrieb her und wird nur selten herangelassen. Das Beispiel S. J.’s, der, noch nicht zwanzigjährig, als Theaterkritiker an die Welt am Montag zugelassen worden war, ist fast unerhört. Wo aber, in aller Welt, soll sich der deutsche junge Journalist die Feder glatt schreiben?
In der Provinz -? Da ist die Position des angestellten Journalisten viel kümmerlicher als man gemeinhin ahnt – ich besinne mich noch auf jenen journalistischen Schützling S. J.’s, der von Berlin an einen großen Generalanzeiger Süddeutschlands ging und mit der Weltbühne einen Tauschverkehr verabredete. Die Weltbühne ging heraus; der Generalanzeiger kam nicht. Anfrage. „Es ist mir leider nicht möglich, meinen Verlag zu überzeugen, daß …“ Poincaré anrüpeln, das können sie; vor dem Zimmer des Verlagsprokuristen hören der Spaß und die Allmacht auf. In der Provinz wird der junge Mann nicht viel lernen, weil mit Ausnahme von ein paar Blättern das politische und künstlerische Gesichtsfeld dieser Zeitungen viel zu eng, die drückende Herrschaft der Abonnenten viel zu groß ist. Wir möchten schon, aber wir dürfen nicht …
In Berlin dürften sie schon eher. Aber wer hilft den jungen Menschen? Man müßte glauben, daß die sozialistischen und kommunistischen Blätter dazu noch am ehesten prädestiniert wären. Über die Rote Fahne als journalistisches Erzeugnis ernsthaft zu reden, ist leider nicht möglich – ich sage ‚leider’, weil mir ihre Grundgesinnung sehr nahe ist. Aber wie sieht das aus! Wie ist das geschrieben! – Der Vorwärts ist heute noch so verkalkt wie damals, als ich bei ihm anfangen wollte – über ein paar Glossen hinaus habe ich es da nie gebracht, und beim mechanischen Abdruck ist es geblieben. Von Ermunterung war wenig zu spüren.
Bleiben die großen demokratischen Zeitungen. Pro domo kann ich mich nicht beklagen – aber hier gehts um die Sache. Gewiß, es gibt hier und da junge Leute, die die große Zeitung weiter treibt; aber sehr häufig wird man den Eindruck nicht los, als habe das, was da steht, nur deshalb Wert, weil das Blatt eine so hohe Auflage hat. Lernen diese jungen Leute wirklich etwas? Beschäftigt man sich mit ihnen? Nicht schulmeisterlich, sondern fördernd? Mit wirklicher Zuneigung zu dem, was da entstehen will? Mit dem ‚Annehmen’ ist es eben nicht getan, man muß so einen Menschen bilden, ihm Fingerzeige geben, ihn in die Schule nehmen (und ihm nicht auf die Schulter klopfen). Wer tut das –?
Ich glaube, daß der journalistische Nachwuchs in Deutschland nicht gut ist. Es wäre hübsch, wenn der Durchschnittsredakteur, der schwer von seiner Gottähnlichkeit überzeugt ist, seinen Stolz auf die Tarifverhandlungen verlegte und den Kollegen hülfe, nicht, wie man armen Leuten hilft, sondern indem er seine, ihre, unsere Sache fördert. Konkurrenz -? Aber ich wünschte, die Besatzung der Weltbühne bestände aus lauter Genies – das käme noch dem schwächsten Mitarbeiter zugute. Starwesen ist nicht nur geschmacklos – es ist dumm.
Es ist aber nicht nur die Angst vor der Begabung, nicht nur Eitelkeit und Greisenhaftigkeit.
Es ist auch häufig die Angst der Verlage, der Mann könne nach der Ausbildung davonlaufen. Aber das hat S. J. mindestens zehn Mal erlebt, und er hat nicht nachgelassen. Da ist weiter die Furcht, den Leser mit einer halbfertigen Leistung vor den Kopf zu stoßen. Grade eine Redaktion, deren Beiträge häufig anonym erscheinen, hat die Möglichkeit, kollektiv zu verbessern. Und da sind wir am Angelpunkt. Es wird zu wenig kollektiv gearbeitet. Lassen wir einmal die Frankfurter Zeitung beiseite –: in den meisten Blättern ist die Leistung zu individual aufgefaßt; sie ist Einzelarbeit eines einzelnen, der sich gegen alle andern durchsetzen will, nicht: Resultat einer Gruppe, Deutschland hat die meisten Gruppen der Welt (Vereine, Verbände, Parteien, Orden), Deutschland ist das Land, in dem die Leute so schwer miteinander arbeiten. Sie können nur: untereinander und übereinander. Koordination ist hierzulande eine seltene Sache.
Ich glaube, daß sich ein starkes journalistisches Talent wie zum Beispiel Friedrich Sieburg auf alle Fälle durchsetzt. Aber der mittlere Mann, der fleißige, begabte, anständige Arbeiter – wo bleibt der -? Wer kümmert sich um den? Wer hebt den herauf? Wer beschäftigt sich mit ihm –?
Man hebt einen Stand am besten dadurch, daß man sich eine gute Konkurrenz schafft.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 3. Januar 1928, Nr. 1, S. 12.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928, S. 18 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 13 ff.

Der kranke Zeisig

Für Grete Wels

Wartezimmer bei Professor Latschko, dem großen Endokrenologen für externe Internie. Zeisig – der bekannte Herr Zeisig, der Sohn des Kaplans Zeisig – sitzt auf einem Stühlchen und hat gelesen: ›BadeAnzeiger‹ des Kurorts Bad Stargard; Verzeichnis der Heilbäder der Uckermark; Verzeichnis der Fußbäder im Oberen Lötschtal; ›Velhagen und Klasings Monatshefte‹, März 1919. Herr Zeisig will grade lesen: ›Velhagen und Klasings Monatshefte‹, April 1897, da öffnet sich die Tür des Sprechzimmers, und eine volle Dame, die so krank ist, daß sie vor Stolz keinen ansieht, geht, für etwa 45 Mark geheilt, heraus. Die Tür schließt sich. Pause. Eine Schwester erscheint. Sie trägt eine sterilisierte Tracht und gleitet sanft dahin; sie sieht aus wie ein Geheimrat im Finanzministerium auf Rollen. Bitte! sagt sie. Zeisign ist auf einmal sehr gesund ums Herz. Er will da nicht hinein. Er muß. Er tritt also ins Konsultationszimmer des Herrn Professor Latschko. Gediegene Inneneinrichtung. Alles atmet den Geist hoher Wissenschaft und strenger Honorare. Zeisig seinerseits wagt kaum zu atmen. Denn der Professor sitzt an seinem Schreibtisch und schreibt emsig sowie auch würdevoll. Er ist ein älterer, straffer Mann, bartlos, nur seine Seele trägt eine Brille; männliche Energie und etwas Sacharin-Lyrik, erworben im Verkehr mit gut zahlenden Patientinnen, haben sich hier gepaart.
Der Zeisig räuspert sich, sehr vorsichtig.
Der Professor schreibt.
Der Zeisig wartet sich eins.
Der Professor blickt auf: Nun … was führt Sie hierher?
Auf diese Frage war der Zeisig nicht vorbereitet. Er hatte gedacht, die Konsultation würde mit einem kleinen Schwätzchen beginnen. Wo nun anfangen!: Ich … iche … mein Name ist Zeisig.
Der Professor drückt durch seine Stummheit aus: Wir haben schon ganz andre Krankheiten geheilt!
Der Zeisig: Herr Professor … Ich habe … ich bin … das heißt also: es sind mehr so allgemeine Beschwerden. Meine Arbeitskraft ist herabgesetzt; es ist so eine allgemeine Müdigkeit, vielleicht auch die Leber … manchmal habe ich Herzstiche, und dann tun mir die Füße weh. Es muß also wohl die Blase sein. Wir hatten in meiner Familie einen Fall, wo meine Tante Elfriede an chronischer Schwangerschaft …
Der Professor: Was sind Sie?
Der Zeisig: Vasomotoriker.
Der Professor sanft wie ein Irrenarzt, bevor er „Dauerbad!“ sagt: Von Beruf!
Der Zeisig: Nähmaschinen-Grossist.
Der Professor: Nun mal weiter.
Der Zeisig: Also es ist sicherlich die Blase. Wenn ich lache, dann tut es mir weh, und wenn ich morgens aufwache, muß ich immer an Zuckerhüte denken. Es ist wie eine Zwangsvorstellung – immer Zuckerhüte. Auch mit der Verdauung ist das nicht mehr so wie früher … es macht mir nicht mehr solchen Spaß. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich komme auf Empfehlung meines Hausarztes, des Herrn Doktor Bullett.
Der Professor, ein General, hat den Namen dieses Landsknechts der Wissenschaft nicht gehört, er will ihn nicht gehört haben. Merkwürdig, was für Leute den Arztberuf ausüben dürfen … ! So. Wie ist es denn mit den Augen? Sehen Sie gut?
Der Zeisig, der stolz darauf ist, daß er Schiffe am Horizont in Westerland eher sehen kann als alle andern: Gottseidank. Sehr gut.
Der Professor: Das Gehör?
Der Zeisig: Ausgezeichnet.
Der Professor: Waren Sie mal geschlechtskrank?
Der Zeisig: Fast gar nicht.
Der Professor: Rauchen Sie?
Der Zeisig: Ja. Aber nur orthopädischen Tabak.
Der Professor: Alkohol?
Der Zeisig: Nur Wein, Bier und etwas Likör.
Der Professor: Ihre politische Zugehörigkeit?
Der Zeisig: Deutsche Staatspartei.
Der Professor ist beruhigt. Linksleute behandelt er nicht, wegen fein. Sie rauchen also? Welche Sorte? Das ist wichtig.
Der Zeisig: Ich rauche Brasilzigarren und türkische Zigaretten … hauptsächlich.
Der Professor ist froh, daß der Mann überhaupt raucht. Er blickt hier und da auf eine verborgene Aschenschale, in der sich eine Zigarre allein raucht: Jedenfalls rauchen Sie nicht zu viel! Ihr Haarschnitt?
Der Zeisig:? -?
Der Professor: Hinten zu kurz. Diese Mode befördert die Erkältungen. Ihre Rasierseife?
Der Zeisig: Eine Eau-de-Cologne-Seife.
Der Professor, immer noch wie eine Statue, aus Schmalz gehauen: Bitte – kommen Sie mit!
Der Zeisig bereut es entsetzlich, sich diesem Menschen überantwortet zu haben. Er denkt: Ob es weh tut? So – jetzt wird sich ja herausstellen, was es ist; der Professor wird staunen; mal sehen, ob er das überhaupt kann! So einen interessanten Fall hat er sicherlich noch nie gesehen … ob es sehr weh tun wird? Sie gehen ins Behandlungszimmer.
Darin sieht es aus wie in einer Granatendreherei. Blitzende Apparate, glänzendes Nickel, strahlende Messingarme und elektrische Lämpchen: alles offenbart den Geist einer von der größtenteils jüdischen Kundschaft geforderten Polypragmasie. Ein Arzt, was keine Apparate hat, ist ein schlechter Arzt; man muß mit seiner Zeit mitgehen.
Der Professor: Machen Sie sich frei, und legen Sie sich hin!
Das tut der Zeisig; es ist sein Stolz, immer und an jedem Tag vor einen Arzt treten zu können. Er hält sich sauber, schon, weil man ja auf der Straße überfahren werden kann. Er legt sich, sieht an die Decke und ist auf einmal sehr krank.
Der Professor hat der Schwester, die stumm eingetreten ist, gewinkt. Sie geht an das Kopfende des Ruhebettes und macht kein Gesicht. Der Professor holt Atem, bekommt einen merkwürdig starren Ausdruck in den Augen; er hat ein Feldtelefon in der Hand und fragt das Zeisigsche Herz: „Hallo, hier Professor Latschko! Wer dort?“ Das Herz: Puck-puck – puckpuckpuck … pick-pick … ffft … ffft … puckpuckpuck … Ruhig atmen! Nicht stauen! Das Herz telefoniert weiter; der Professor hat abgehängt. Er läßt sich nun mit der Lunge verbinden. Die Lunge: Hach-huach –! hach-huach … Der Professor versetzt dem Zeisig einen leichten Schlag auf das Knie; das Bein hopst artig hoch, wie es das gelernt hat.
Der Zeisig bekommt einen kleinen Schrecken, denn der Professor hat ihm mit einem spitzen und tückischen Messerchen eine Inschrift auf die haarige Brust gekratzt: CARMOL TUT WOHL! Die Haut schreit rot auf und verstummt.
Der Professor mißt den Blutdruck: Viertel sieben. Geht nach.
Der Professor sieht sich die Hände Zeisigs an, läßt nachdenklich dessen Zehen durch seine Finger gleiten, gebietet ihm, sich herumzudrehen und murmelt etwas zur Schwester. Ein Apparat surrt. Zeisig sieht nichts. Sie machen etwas mit ihm; nun ist seine Lebenskraft wesentlich gehobener. Er bekommt langsam Vertrauen zu diesem Professor – der Mann versteht sein Handwerk! Und so gründlich! Gründlich ist, wenns lange dauert. Nun muß er in ein Töpfchen machen.
Der Professor heißt Zeisign sich auf einen Stuhl setzen. Er sieht ihm in die Augen, hält erst ein Auge zu, dann das andre; er leuchtet ihn mit kleinen Scheinwerfern an und schaltet aus; dann muß der Zeisig den Schnabel aufmachen, der Professor hält sich an Zeisigs Zunge fest und sieht mit einem Kehlkopfspiegel nach, ob sein Schlips richtig sitzt: Ziehen Sie sich wieder an! Die Schwester verschwindet; die beiden gehen zurück ins Konsultationszimmer. Der Zeisig ist in der Stimmung eines Schülers, der seinen Aufsatz zurückbekommt.
Der Professor: Sie sind völlig gesund und bedürfen demgemäß einer gründlichen Behandlung. Zu einer Sorge ist durchaus kein Anlaß gegeben – immerhin: Seien Sie vorsichtig, sonst könnte Ihnen eines Tages etwas passieren. Sie gehören zum Typus der vegetativ Stigmatisierten; eine gewisse mitrale Konfiguration läßt auf das Bestehen eines endokrenen Ringes schließen.
Dem Zeisig wird es wirblig. Er lauscht angestrengt und ist bestrebte jedes Wort des großen Medizinmannes in sich hineinzusaugen.
Der Professor: An der Blase haben Sie nichts. Eine ganz leichte Leberschwellung ist allerdings vorhanden …
Der Zeisig: Das sagte mir Doktor Bullett auch …
Dem Professor macht auf einmal die ganze Diagnose keinen Spaß mehr. Auch! Was heißt: auch? Wenn zwei Ärzte derselben Meinung sind, dann ist einer davon überhaupt kein Arzt. Immerhin ist die Reihenfolge die: Der große Latschko – dann etwa vier Lichtjahre nichts – dann seine Assistenten – dann irgendwelche andren Ärzte – dann dieser Doktor … wie war der Name? Boulette? Dann ein Trennungsstrich. Dahinter das Heer der Laien: das Material. Man kann im Notfall eine Theorie fallenlassen; man kann keinen Kollegen fallenlassen. Latschko geht daher zu etwas anderm über: Wir wissen heute, daß die Hypophyse und solche leicht tonischen und vasomotorischen Störungen vom Stoffwechsel ausgehen. Hand in Hand mit der Beeinflussung des Stoffwechsels muß eine Entspannungskur treten; ich sage Ihnen gleich, daß ich von der Psychoanalyse nichts halte, dagegen werde ich Sie mit Hormonen behandeln. Sie haben zu wenig. Manchmal auch zu viel. Auf alle Fälle die falschen. Ich habe Ihnen den Thymus perkutiert – möglich, daß da noch infantile Residuen vorhanden sind; jedenfalls gehören Sie zum thymoplastischen Typ.
Der Zeisig ist gänzlich verdattert. Wüßte er, daß die Thymus-Untersuchung ihre wahre Bestätigung erst bei der Sektion fände, er wäre es noch mehr.
Der Professor: Nun zum Diätzettel. Keine Rheinweine, nur junge Moselweine – keine jungen Pfälzerweine. Keine Zigarren mit Fehlfarben; keine lange Pfeife, nur kurze Pfeife. Und vor allem einen andern Haarschnitt! Und Teerseife! Ist Ihr Sexualleben in Ordnung?
Der Zeisig rekapituliert blitzschnell die diesbezüglichen Vorwürfe Lillys und sagt Ja.
Der Professor: Das habe ich mir gedacht; also müssen wir da etwas tun. Ich habe mit der Methode, die ich bei Ihnen anwenden werde, gute Erfolge erzielt, so neu sie ist; in leichten Fällen hilft auch die Terminologie. Wir haben in meiner Klinik schon sehr schwere Fälle von solchen Herzund Nierenkranken gehabt … wir haben immerhin erreicht, daß wir sie entlassen konnten, damit sie anderswo eingingen. Ich schreibe Ihnen hier zunächst einmal Tropfen auf – die nehmen Sie, vierzehn Tropfen vor dem Mittagessen, zweiundzwanzigeinenhalben nach dem Abendessen und ein kleines Wasserglas voll vor dem Aufstehen. Ich werde Ihnen wöchentlich drei Spritzen machen: eine subkutan, eine intravenös und eine intramuskulär.
Der Zeisig hat Angst und vertagt dieselbe.
Der Professor: Vor allem schonen Sie sich und muten Sie sich nicht zuviel zu. Das Nähmaschinengeschäft ist mit speziellen Aufregungen verknüpft; es treten dann Ermüdungserscheinungen hinzu … dergleichen kann einen Mann wie Sie untauglich machen.
Der Zeisig hat auf das Reizwort ›untauglich‹ einen Assoziations-Kurzschluß. Er sieht den Professor plötzlich in Uniform vor sich, die Konsultation kostet gar nichts, und der Professor sagt mit einem Ausdruck, wie wenn er in einen Pferdeapfel gegriffen hätte: „k. v.“ Die Vision verschwindet.
Der Professor: Der Laie überschätzt naturgemäß diese Symptome, die – verstehen Sie mich recht – eigentlich gar keine Symptome sind. Für mich sind diese Dinge, von denen Sie mir da erzählen, Folgeerscheinungen; es ist wichtig, daß Sie sich das immer vor Augen halten: Folgeerscheinungen. Sie bleiben in Berlin? Ich werde Sie behandeln; schlagen Sie sich den Gedanken aus dem Kopf, mit aller Gewalt gesund zu werden – das ist nicht der Zweck der Medizin. Die Medizin ist eine Wissenschaft, also der Mißbrauch einer zu diesem Zweck erfundenen Terminologie. Laien verspüren leicht Schmerzen: das ist völlig irrelevant. Es handelt sich nicht darum, den Schmerz zu beseitigen – es handelt sich darum, ihn in eine Kategorie zu bringen! Hier ist das Rezept.
Es entsteht eine eigentümliche Pause. Der Zeisig wäre sehr erleichtert, wenn der Professor jetzt sagte: „Na, Schatz, was schenkst du mir denn -?“ Der Professor sagts aber nicht.
Der Zeisig ungeheuer klein und bescheiden: Was … was bin ich Ihnen schuldig, Herr Professor?
Der Professor groß, aber leichthin: Fünfzig Mark.
Der Zeisig hat auf der äußersten Zungenspitze: „Fünfzig Mark? Fünfunddreißig! Valuta 1. Dezember – Wer zahlt mir … !“, bremst aber im letzten Augenblick und zahlt so schnell und schämig, als verrichte er ein kleines Geschäft, während gleich jemand um die Ecke kommt.
Der Professor nimmt, schließt ein und steht auf.
Händedruck, Verbeugung. Zeisig ab.
Der Zeisig draußen: Das mit den Zuckerhüten … das muß ich ihn nächstes Mal noch fragen … ! Ob es Zucker ist? Ich werde doch noch einen Spezialisten konsultieren! – Aber nun wird dem Zeisig plötzlich ganz durchsichtig im Gemüt; er winkt noch einmal schwach mit der Hand, dann löst er sich in Whisky auf, aus dem er gekommen ist, und der Autor dieser Szene trinkt ihn aus.
Lasset uns beten! Heiliger Äskulap! der du die Ärzte eingesetzt hast, auf daß sie eine Beschäftigung haben, sowie die meschuggenen Patienten, auf daß sie Valerian bekommen, so es Kassenpatienten sind, Insulin aber, so sie es bezahlen können; der du die Heilmethoden erfunden hattest, die da wechseln wie die Hutmoden und kleidsam sind bis zum Exitus; der du alljährlich auf die Menschheit einen ganzen Waschkorb junger Doktoren losläßt, die den Herrn Wendriner mit Fremdwörtern und mit dem neuen Medikament Eizeïn behandeln; der du den medizinischen Spießer zum Erzpriester machst, weil der Patient seinen Wundermann braucht!
Heiliger Äskulap! der du die Chirurgen geschaffen hast, auf daß das Überflüssige am Menschen entfernt werde, und die Hals-Spezialisten, auf daß die Chirurgen nicht alles allein operieren; der du die Gynäkologen schufest, die zu Ende führen, was der Ehemann so unvollkommen angefangen; welches Wunder, daß diese Ärzte noch Frauen lieben – aber siehe: grade diese lieben Frauen! Der du Homöopathen und Allopathen schufest, damit der Kranke wenigstens weiß, wovon ihm schlecht wird; sowie auch die Hautärzte, die sich über gar nichts mehr wundern; und die Psychiater, die aus Seelenverwandtschaft mit den Verrückten sogar die Vornamen der Geisteskrankheiten kennen!
Heiliger Äskulap! der du die Doktoren geschaffen hast, deren Wissen zusammenknallt, wenn sie selber einmal Patienten sind; Mediziner, die so lange Fortschritte machen, bis sie wieder bei Hippokrates angelangt sind:
gepriesen werde dein Namen –!
Amen.


Autorenangabe: Kaspar Hauser
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 21.10.1930, Nr. 43, S. 617

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 575 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 257 ff.

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