2.1.2004

Originaltexte

Folgende Originaltexte und -briefe von Kurt Tucholsky sind bislang auf www.sudelblog.de dokumentiert worden:

Originaltexte anderer Weltbühne-Autoren finden sich hier.

1907

1912

1914

1918

1919

1922

1924

1925

1926

1928

1929

1930

1931

1932

1934

1935

Originaltexte von Weltbühne-Autoren

Alfred Behne

Helmut von Gerlach

Siegfried Jacobsohn

Georg Metzler (Richard Witting)

1.1.2004

Wie mache ich mich unbeliebt?

Da gibt es nun mehrere Mittel. Man kann einer Dame, die man ein Jahr nicht gesehen hat, sagen, man habe sie sofort wiedererkannt, und, wenn sie fragt, woran, antworten: „An Ihrem Hut, gnädige Frau!“ – Man kann in einer Gesellschaft, wo der Hausherr Stahlhelmvorsitzender ist, die Sowjets loben und außerdem dreimal von der Käsetorte nehmen. – Man kann eine junge Frau, die man nicht kennt und die in Umständen ist, fragen, wann sie denn zu heiraten gedächte … Aber damit verschnupft man immer nur einen kleinen Kreis von Leuten, und das ist nicht das Richtige. Wenn man ganz sichergehen will, gleich eine ganze Kompanie auf Jahre hinaus zu verärgern, dann braucht man nur Witze über einen Stand zu reißen. Man tue es – gehe aber unmittelbar nach Begehung des Delikts außer Landes.
Du darfst auf den Grafen von Henning sagen, er sei ein Ritter von der traurigen Gestalt. Du darfst auf den Postschaffner Krause sagen, er malträtiere seine Frau und verprügele sie jeden Abend mit einem (neuen) Plätteisen. Du darfst auf den Kaufmann Lämmle sagen, er sei ein böser Pedant. Darüber wird zu reden sein. Wenn du aber auf alle Grafen, auf die Postschaffner und auf den Kaufmannsstand etwas sagst – und nun gar etwas Lustiges –: dann verteile die Güter dieser Erde – Anzüge, Blumentöpfe und Zeitschriftenabonnements – an deine Kinder; ordne deine Schulden – Miete, Effekten und Zeitschriftenabonnements – und entwetze. Dein Leben ist verwirkt.
Denn nichts ist so groß wie die Gruppeneitelkeit.
Nun ist ja verständlich, daß sich eine wirtschaftliche oder geistige Gruppe gegen die Beleidigungen anderer schützt. Aber schon die Schilderung ihrer Berufseigentümlichkeiten wird mit äußerstem Mißtrauen betrachtet, und Gnade Gott, wenn der Spaß gar etwas in die Einzelheiten geht! Die seligen ›Fliegenden Blätter‹ hatten so ihre traditionellen Heiligtümer: die Zahnärzte, die weinpanschenden Wirte, die Studenten. (Die Schwiegermütter scheiden aus – es gab damals noch keinen Reichsverband Deutscher Schwiegermütter e. V.) Ich möchte heutzutage nicht Fliegenderblätterredakteur sein – es regnete wahrscheinlich Boykotts, Beleidigungsklagen und Kontrahagen aller Art. Hier ist ein großes Tabu.
Schade. Denn die Aufgabe eines modernen Humoristen wäre eben nicht, sich spaßige Einzelfälle auszudenken, sondern den Querschnitt zu ziehen, die ungeheure Gleichheit, hervorgerufen durch die Zivilisation, aufzuzeigen, die vollkommene Kongruenz selbst in den Gefühlen, die absolute Übereinstimmung aller Wesen unter gleichen wirtschaftlichen Bedingungen.
In Amerika ist diese Art von Humor viel verbreiteter. Ich weiß nicht, woran das liegt: ob die Leute da mehr Spaß verstehen, ob sie empfänglicher für diese Selbstironie sind – jedenfalls lebt der Humor Stephan Leacocks durchaus davon (die Leser der ›Vossischen Zeitung‹ kennen Arbeiten dieses Schriftstellers). Hier liegt die wirkliche Komik unserer Zeit.
„Ja, Sie dürfen aber nicht verletzend wirken –!“ Nachmachen verletzt immer. Das wissen schon die Kinder, wenn sie beim Spielen den Murmelpartner bis zur Erschöpfung damit ärgern, daß sie ihn nachahmen. Und es trifft immer ein bißchen schmerzlich, wenn man gut nachahmt, wenn man ›echt‹ kopiert. Bei uns darf man es gar nicht.
Natürlich hat jede Gruppe ihre besonderen Eigentümlichkeiten, ihre Eigenheiten, ihre lächerlichen Seiten. Hier ist nicht die Rede von ihren wirklichen Fehlern – sondern gerade von der Komik ihrer Betätigung, von dem eigentümlichen Humor, der immer entsteht, wenn Leute eine Sache ihr ganzes Leben lang immer wieder tun. Da ist keiner ausgeschlossen: die Buchhalter nicht und nicht die Redakteure, die Ärzte nicht und nicht die Modekaufleute, nicht die Schalterbeamten, die Bankiers und die Telegrafenbauuntersekretäre.
Beim Schutzmann gesteht man dem Spaßmacher gewisse Rechte zu. Bei der Marktfrau auch noch. Beim Bürokraten auch. Beim Schieber. (Je verwaschener der Begriff, desto weniger stößt man an.) Beim – ja, bei wem? Beim andern.
Denn bei jedem Gruppenspaß sagt der Angehörige der Gruppe unfehlbar: „Das ist generalisiert. Das mag’s ja vereinzelt geben. Aber ich bin jetzt dreißig Jahre in meinem Beruf – bei mir gibt’s so etwas nicht. Das ist eine Karikatur.“ Krach, grobe Briefe, Rechtsanwalt, Protest, beleidigt.
Anders ist’s mit Charakterisierungen von vorübergehenden Gruppen. „Der Reisende“ – das ist erlaubt. So hat L’Europe Novelle in ihrem Septemberheft eine reizende kleine Schilderung von Francis de Miomandre Kleiner Katechismus des Reisenden, wo er sich über alles lustig macht: über den Reisenden, die Reisende, die großen Schrankkoffer, in denen durch die Treffsicherheit der Gepäckträger alles durcheinanderpurzelt; er zieht über das Meer, den Wald und das Gebirge her, jeder Absatz hört immer auf: „Im allgemeinen ist es dort mächtig kalt“ – ja, das darf er alles. Sobald er aber präzise, konkret und genauer wird, dann geht’s schief.
Dahinter liegen ganz ernsthafte soziologische Fragen verborgen – ich weiß wohl. Aber man sollte doch etwas weitherziger sein. Denn der Humor der Einzeltypen, der Individuen, der schrulligen Sonderlinge ist dahin und vorbei. Was heute gilt, ist die Komik des Typus.
Die Komik des ärztlichen Sprechzimmers, die Komik der Sekretärin, des Delikateßwarenhändlers, des Portiers, des Ministerialdirektors, des Schriftstellers, der Studentin – ein scharfer Beobachter, der da aus Hunderten von gut gesehenen Typen den Typ herausschält –: der ist, wenn er auch noch Humor hat, ein Humorist. Und man sollte es ihm nicht so verdenken. Besinnen Sie sich auf diese Komiker, die manchmal auf dem Varieté eine Kammerzofe nachahmen, mit den Bewegungen, die alle Zofen haben? Denken Sie an Chaplin, der sämtliche Handwerke der Welt erfühlt hat und die allzu leichten, vor Mühelosigkeit ein bißchen gezierten Handhabungen eines Friseurs ebenso kopiert wie einen Mixer, der mit seinen Flaschen herumwirtschaftet. Darin ist schon leise Parodie, überlegener Humor, vielleicht Kritik.
Dem Satiriker gab ein Gott zu sagen, was sie treiben. Man kann ja nun nicht gerade verlangen, daß der Großpapa, dem der Enkel einen kleinen Flitzbogenpfeil in die hintere, untere Schlafrockseite bohrt, dem guten Kind auch noch einen Bonbon gibt. Aber nicht gleich aufspringen und mit harten Gegenständen werfen. Die Würde muß es sich gefallen lassen, daß sie manchmal am Bart gezupft wird. (Auch Bartlose haben einen Bart, mitunter.)
Denn die moderne Sorte Humorist muß heute noch mit einem Schutzpanzer umhergehen:
Gute Leute! Nicht schießen!

Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Vossische Zeitung, 2. Oktober 1924, Nr. 468.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1924, S. 253 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 10, S. 158 ff.

Etwas vom Humor

Beim alten Schopenhauer steht, wie alles, so auch das: »Denn näher betrachtet, beruht der Humor auf einer subjektiven, aber ernsten und erhabenen Stimmung, welche unwillkürlich in Konflikt gerät mit einer ihr sehr heterogenen, gemeinen Außenwelt, der sie weder ausweichen, noch sich selbst ausweichen kann; daher sie zur Vermittlung versucht, ihre eigene Ansicht und jene Außenwelt durch die selben Begriffe zu denken, welche hierdurch eine doppelte, bald auf dieser, bald auf der andern Seite liegende Inkongruenz zu dem dadurch gebrachten Realen erhalten, wodurch der Eindruck des absichtlich Lächerlichen, also des Scherzes entsteht, hinter welchem jedoch der tiefste Ernst versteckt ist und durchscheint. Fängt die Ironie mit ernster Miene an und endigt mit lächelnder, so hält der Humor es umgekehrt.« Das ist keine Kathederdefinition eines Pedanten, sondern die tiefste Erkenntnis eines Stoffes, der alle lachen und so wenige nachdenken macht. Das ist seine Erklärung. Das ist Humor.

Die nordischen, die germanischen Völker haben Humor – die Engländer zum Beispiel einen grotesken (den der ernsthafte Deutsche leicht albern findet, was er aber nicht ist); jener englische Humor macht sich über das menschliche Gehirn und seine Funktionen lustig und schlägt die gedankliche Abstraktion mit der platten Nüchternheit der realen Welt. Das ist nichts Ausgedachtes – jeder gute Clown beweist es immer aufs neue.
Wir Deutschen haben Humor – ja, man kann fast versucht sein, zu sagen, deutscher Humor, das sei fast ein Pleonasmus, so wie deutsche Musik. Und beinahe ist es in der Tat auch so.
Doch haben wir nicht viele Humoristen. (Der oben zitierte alte Herr: »Demgemäß heißt heut zu Tage ein Humorist, was ehemals ein Hanswurst genannt wurde.«) Jeder Humorist ist ein Philosoph, und ein solcher arbeitet nicht schludrig. Gerade er muß das feinste Gefühl für die Form haben, für die Sprache – und er muß nicht nur fühlen, er muß auch arbeiten können. Daher sind in der Kunst die Humoristen so selten.
Nun gibt es aber – wie in der Lyrik – ein Naturburschentum des Humors, das mit Kunst nur sehr mittelbar etwas zu tun hat, insofern sein Niederschlag aufgeschrieben wird wie ein literarisches Kunstwerk auch. In den meisten Fällen wirds aber gar nicht aufgeschrieben.
In Walter Rathenaus »Reflexionen« stehen zwei gute Seiten, auf denen er sagt, daß der Mann des Lebens überhaupt nicht schreibt. (Wenn ers einmal tut, belügt er sich meist.) Er schweigt und lebt. Taut ihm aber einmal die Zunge auf, in einer gemütlichen Kneipstunde um einen runden Tisch herum, am Kaminfeuer, unterwegs auf einer stillen Wanderung zu zweien – dann kommen Köstlichkeiten ans Tageslicht, von denen sich der Literat nichts träumen läßt. Behaglich Tiefgeschautes, lächelnd Beobachtetes, schmunzelnd Festgestelltes. Und abermals: auch das ist Humor.
Wir haben uns der seltenen Fälle zu freuen, wo ein solcher Mann das aufgeschrieben hat, was er sonst – krafterfüllt und auf alles andere bedacht als auf Wirkung – seinen Freunden, mit der Pfeife in den Zähnen, zu erzählen pflegte. Solcher: das ist zum Beispiel Stefan v. Kotze; und was er erzählt hat, heißt »Australische Skizzen« (im Verlage der Täglichen Rundschau in Berlin neu herausgegeben). Stefan v. Kotze ist tot, berühmt ist er nie gewesen. Man darf ihn auch gar nicht literarisch werten; das verträgt er weder, noch kommt man ihm damit einen Schritt näher. Und doch strotzt er von Leben, und doch ist er ein Humorist.
Es sind einfach kleine Skizzen, Geschichtchen, lose Schilderungen Australiens der achtziger und neunziger Jahre. Kotze hat verteufelt wenig von Nationalökonomie und Prinzipien der Geschichte, von Geographie und Geologie gewußt, und vielleicht hat er auch nicht daran »geglaubt«. (Denn mit manchen Wissenschaften ist es wie mit dem Schwimmen: man muß daran glauben.) Er erzählt einfach so hin. Aber was ist für ein Saft und für eine Kraft in diesen kleinen Dingern!
In anekdotengespickten Aufsätzen macht er sich daran, das Leben und Tummeln fremder Menschen im fremden Erdteil zu ergründen. Was ihm sofort und zuallererst auffällt, ist das Getue. (Gustav Wied: »Der Mensch unterscheidet sich vom Tier hauptsächlich durch sein Getue.«) Wie die einfachen Cowboys ihre eingefleischten Sitten haben, wie sie spucken und wie sie sprechen, das hat er ihnen trefflich abgeguckt. Obgleich, nein, weil er von außen kommt, ist ihm die Komik ihrer ernst gemeinten Tätigkeiten aufgegangen. Jahrzehntelang treiben sie ihr Spiel, immer mit denselben Gebräuchen, denselben Worten, denselben Gedankenverbindungen und denselben Regeln. Und dann kommt einer und schöpft die Sahne ab: und wir müssen lächeln. Und spüren bei jedem Wort: das ist humoristisch, weil es so lebensecht ist.
Da ist eine Geschichte von einer Känguruhjagd – mir kullern noch jedesmal die hellen Tränen heraus, wenn ich das lese. Die Sache fängt ganz vergnügt an, die Reiter reiten aus, das Wetter ist gut, das Wild ist da; aber allmählich geht das Ding schief, der »alte Mann«, wie das Känguruh dort genannt wird, boxt beinahe den Herrn Viehstationsvorsteher zu Tode, es wird mit Mühe erlegt, ein Pferd geht durch, eins bockt, und schließlich rast die unvermutete Flut das bisher ausgetrocknete Flußbett herunter und verschlingt: Frühstück, Hunde, wahrscheinlich einen Nigger und die Hoffnung aufs Nachhausekommen. Und wie nun alles in die Binsen gegangen ist, wie auch nicht eine Sache bei dem ganzen Jagdausflug geklappt hat, da – »Der Vorsteher blickte wehmütig auf das wirbelnde Wasser. Dann drehte er sich langsam im Sattel um und sagte, ehrfurchtsvoll seinen Hut hebend: ›Gott segne dieses Land!‹« Das ist Humor.
Und es gibt eine andere Geschichte von einem, der von einem Baum halb totgeschlagen wurde, aber eben nur halb, und er warf seinen Lasso nach seiner Flinte, die ein paar Fuß davon lag, und er bekam sie nicht. Und dann kamen die großen Ameisen … Und so fanden sie ihn denn. Der Kutscher, der Kotze das erzählt, zeigt ihm auch das Grab. Und Kotze liest: »›Tantalus. 15.12.1890.‹ ›Tantalus?‹ wiederholte ich erstaunt. Der Alte schmunzelte. ›Und da ich ihn nicht selbst kannte, so schnitt mein Passagier das ausländische Wort da in die Rinde. Das wäre sein Familienname, sagte er. Aber er grinste dabei, und ich glaube, er hat mich aufziehen wollen. Haben Sie je so einen Namen gehört?‹ setzte er hinzu, mit der Peitsche knallend. Ich klammerte mich vorbereitend an die Lehne meines Sitzes. ›Ja‹, antwortete ich leise. ›Das ist sogar eine sehr weit verbreitete Familie.‹« –
Wem es da nicht den Buckel herunterläuft, dem ist nicht zu helfen. Und auch dies ist Humor.
Und Humor ist es, die tausenderlei Arten des Fluchens (im Englischen eine Art Eintrittbillet für das Fegefeuer) so pedantisch und scheinbar gewissenhaft zu schildern. »Er fluchte wirklich schön. Und offenbar tat es ihm wohl.«
Und Humor ist es, in all dem herzbrechenden Jammer, den das Wort Australien einschließt – die Menschen quälen sich und rackern sich ab, eigentlich nur, um sich auch weiterhin abquälen zu dürfen -, fast sachlich und bis zum Symbol gesteigert, still den Werdegang eines Buschreiters, eines Arbeiters festzustellen. Der Ritt, den ein Goldwäscher alljährlich mit gefüllter Brieftasche in die Stadt unternimmt, in die Freiheit, aber nicht an der nächsten Buschkneipe vorbeikommt, aus der er am nächsten Tage zerschunden, verkatert und mit leerem Beutel herausfliegt, das ist mehr als eine Allegorie.
Stil hat Kotze gar nicht. Wenn er bewußt spaßig sein will, erinnert er an den barocken Humor der Romantiker – aber das ist nichts. Am lustigsten bleibt er, wenn er so schnoddrigkoddrig seins hinschreibt, wie ihm der Schnabel wuchs. »Bewaffnet war er mit einem penetranten Geruch.« Oder von einem Wasserloch, in dem ein toter Ochse liegt, getrunken wird aber doch draus: »›Geben Sie mal den Topf her!‹ Der Squatter nahm das Geschirr, stieg in das Loch hinab und holte sich eine Quantität des flüssigen Düngers heraus, gerade wo ehemals der Magen des Seligen gewesen war.« Wer sich so über eine verdammte Mühsal lustig machen kann, der hat Humor.
Und Kotze war ein Mann. (Es gibt noch so einen unter den Weltenbummlern; ja nicht Hännschen Heinzchen Ewerschen, diesen Poseur der Roheit. Ich meine den Reichsfreiherrn Eugen v. Binder-Krieglstein, der sich zu Beginn des Krieges erschossen hat. Seine beiden Bücher sind im Verlage von Egon Fleischel erschienen. Sie heißen: »Zwischen Weiß und Gelb« und »Im Lande der Verdammnis«.) Kotze war ein Mann und erkannte das, was in ihm war, auch bei anderen: die Kraft. Und er kannte die Frauen – nicht so die Damen, aber das Weib. Allein den Satz »Hysterie ist keine Romantik, selbst bei einem Backfisch nicht!« – den kann man sich nicht ausdenken, den muß man aus einem ganzen Leben herausdestillieren.
Er war ein Mann, und er sah. So, wenn er von dem überflüssigen Missionswesen spricht, von der Wilhelmstraße und dem berliner Assessor (ein schmerzliches Thema!) – so, wenn er vorausschaut, welch ein großer Kampf sich einmal am Stillen Ozean abspielen wird. (Diese Prophezeiung steht auch bei Wilhelm Raabe, in den »Leuten aus dem Walde«.) Er war ein Mann und ein ganzer Kerl mit rotem deutschem Herzblut.
Man hat ihn zu Unrecht mit dem amerikanischen Erzähler Bret Harte verglichen. Das trifft nur die Form – manchmal glaubt man in der Tat, eine Übersetzung aus dem Englischen vor sich zu haben. Aber zutiefst in der Seele war Kotze kein Literat und kein Schriftsteller. Ihm schlug in der Brust das ewig unruhige, nie zufriedene, in Sehnsucht emporverlangende Herz des Deutschen. Und in einer Kammer dieses Herzens: da wohnt der Humor.

Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Frankfurter Zeitung, 23.10.1918.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1918

Hitler und Goethe

Ein Schulaufsatz
Einleitung
Wenn wir das deutsche Volk und seine Geschichte überblicken, so bieten sich uns vorzugsweise zwei Helden dar, die seine Geschicke gelenkt haben, weil einer von ihnen hundert Jahre tot ist. Der andre lebt. Wie es wäre, wenn es umgekehrt wäre, soll hier nicht untersucht werden, weil wir das nicht auf haben. Daher scheint es uns wichtig und beachtenswert, wenn wir zwischen dem mausetoten Goethe und dem mauselebendigen Hitler einen Vergleich langziehn.
Erklärung
Um Goethe zu erklären, braucht man nur darauf hinzuweisen, daß derselbe kein Patriot gewesen ist. Er hat für die Nöte Napoleons niemals einen Sinn gehabt und hat gesagt, ihr werdet ihn doch nicht besiegen, dieser Mann ist euch zu groß. Das ist aber nicht wahr. Napoleon war auch nicht der größte Deutsche, der größte Deutsche ist Hitler. Um das zu erklären, braucht man nur darauf hinzuweisen, daß Hitler beinah die Schlacht von Tannenberg gewonnen hat, er war bloß nicht dabei. Hitler ist schon seit langen Monaten deutscher Spießbürger und will das Privateigentum abschaffen, weil es jüdisch ist. Das was nicht jüdisch ist, ist schaffendes Eigentum und wird nicht abgeschaffen. Die Partei Goethes war viel kleiner wie die Partei Hitlers. Goethe ist nicht knorke.
Begründung
Goethes Werke heißen der Faust, Egmont erster und zweiter Teil, Werthers Wahlverwandtschaften und die Piccolomini, Goethe ist ein Marxstein des deutschen Volkes, auf den wir stolz sein können und um welchen uns die andern beneiden. Noch mehr beneiden sie uns aber um Adolf Hitler. Hitler zerfällt in 3 Teile: in einen legalen, in einen wirklichen und in Goebbels, welcher bei ihm die Stelle u. a. des Mundes vertritt, Goethe hat niemals sein Leben aufs Spiel gesetzt; Hitler aber hat dasselbe auf dasselbe gesetzt. Goethe war ein großer Deutscher. Zeppelin war der größte Deutsche. Hitler ist überhaupt der allergrößte Deutsche.
Gegensatz
Hitler und Goethe stehen in einem gewissen Gegensatz. Während Goethe sich mehr einer schriftstellerischen Tätigkeit hingab, aber in den Freiheitskriegen im Gegensatz zu Theodor Körner versagte, hat Hitler uns gelehrt, was es heißt, Schriftsteller und zugleich Führer einer Millionenpartei zu sein, welche eine Millionenpartei ist. Goethe war Geheim, Hitler Regierungsrat. Goethes Wirken ergoß sich nicht nur auf das Dasein der Menschen, sondern erstreckte sich auch ins kosmetische. Hitler dagegen ist Gegner der materialistischen Weltordnung und wird diese bei seiner Machtübergreifung abschaffen sowie auch den verlorenen Krieg, die Arbeitslosigkeit und das schlechte Wetter. Goethe hatte mehrere Liebesverhältnisse mit Frau von Stein, Frau von Sesenheim und Charlotte Puff. Hitler dagegen trinkt nur Selterwasser und raucht außer den Zigarren, die er seinen Unterführern verpaßt, gar nicht.
Gleichnis
Zwischen Hitler und von Goethe bestehen aber auch ausgleichende Berührungspunkte. Beide haben in Weimar gewohnt, beide sind Schriftsteller und beide sind sehr um das deutsche Volk besorgt, um welches uns die andern Völker so beneiden. Auch hatten beide einen gewissen Erfolg, wenn auch der Erfolg Hitlers viel größer ist. Wenn wir zur Macht gelangen, schaffen wir Goethe ab.
Beispiel
Wie sehr Hitler Goethe überragt, soll in folgendem an einem Beispiel begründet werden. Als Hitler in unsrer Stadt war, habe ich ihn mit mehrern andern Hitlerjungens begrüßt. Der Osaf hat gesagt, ihr seid die deutsche Jugend, und er wird seine Hand auf euern Scheitel legen. Daher habe ich mir für diesen Tag einen Scheitel gemacht. Als wir in die große Halle kamen, waren alle Plätze, die besetzt waren, total ausverkauft und die Musik hat gespielt, und wir haben mit Blumen dagestanden, weil wir die deutsche Jugend sind. Und da ist plötzlich der Führer gekommen. Er hat einen Bart wie Chaplin, aber lange nicht so komisch. Uns war sehr feierlich zu Mute, und ich bin vorgetreten und habe gesagt Heil. Da haben die andern auch gesagt heil und Hitler hat uns die Hand auf jeden Scheitel gelegt und hinten hat einer gerufen stillstehn! weil es fotografiert wurde. Da haben wir ganz stillgestanden und der Führer Hitler hat während der Fotografie gelächelt. Dieses war ein unvergeßlicher Augenblick fürs ganze Leben und daher ist Hitler viel großer als von Goethe.
Beleg
Goethe war kein gesunder Mittelstand. Hitler fordert für alle SA und SS die Freiheit der Straße sowie daß alles ganz anders wird. Das bestimmen wir! Goethe als solcher ist hinreichend durch seine Werke belegt, Hitler als solcher aber schafft uns Brot und Freiheit, während Goethe höchstens lyrische Gedichte gemacht hat, die wir als Hitlerjugend ablehnen, während Hitler eine Millionenpartei ist. Als Beleg dient ferner, daß Goethe kein nordischer Mensch war, sondern egal nach Italien fuhr und seine Devisen ins Ausland verschob. Hitler aber bezieht überhaupt kein Einkommen, sondern die Industrie setzt dauernd zu.
Schluß
Wir haben also gesehn, daß zwischen Hitler und Goethe ein Vergleich sehr zu Ungunsten des letzteren ausfällt, welcher keine Millionenpartei ist. Daher machen wir Goethe nicht mit. Seine letzten Worte waren mehr Licht, aber das bestimmen wir! Ob einer größer war von Schiller oder Goethe, wird nur Hitler entscheiden und das deutsche Volk kann froh sein, daß es nicht zwei solcher Kerle hat!

Deutschlanderwachejudaverrecke hitlerwirdreichspräsident
dasbestimmenwir!

Sehr gut!


Autorenangabe: Kaspar Hauser

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 17. Mai 1932, Nr. 20, S. 751.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1932,

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 10, S. 78 ff.

Die »Nazis«

Knüppel-Kunze, der unbegabte Ahlwardt unsrer Tage, beruft von Zeit zu Zeit, wenn er nicht grade Herrn Stinnes um Geld anschnorrt, Protestversammlungen »gegen die Einwanderung der Ostjuden«. Gott segne ihn. Ich bin mit dem Angeklagten weder verwandt noch verschwägert (wir würden uns das auch Beide heftig verbitten) – aber was die Einwanderung landfremder Elemente angeht, so gibt es einen Fall, wo ich doch gern auf das berliner Rathaus kletterte und, tränenumflorten Blickes die mir zu Füßen liegende Kapitale ansehend, spräche: »Sie sollen es nicht haben!« Nämlich die »Nazis« nicht Berlin.

Mach keine Kulleraugen, Leser. Wir wollen uns schnell darüber einigen, daß ich mit den »Nazis« jene gewisse Gattung des österreichischen, mährischen und speziell wienerischen Künstlervölkchens meine, die anfängt, obgemeldetes Berlin auf das Heftigste zu verpesten. Wir wollen das aber gar nicht mehr.

Ich weiß ganz genau, welche betrübliche Rolle der aus Posen gebürtige Berliner auf Reisen spielt (»Det is der Kölner Dom! Haben Se keenen größern?«). Aber so frech und lokalchauvinistisch ist wohl noch nie ein Berliner gewesen wie diese Sorte »Nazis« (die ich absichtlich nicht Österreicher benenne, weil Otto Weininger einer ist und Peter Altenberg und Karl Kraus und Alfred Polgar – aber wir sind uns ja einig, wen wir meinen).

Die »Nazis« kommen nach Berlin, liebenswürdig wie die früheren Oberkellner, treuherzig und schmuserig und a bisserl a Lieb‘ und a bisserl a Treu und a bisserl a Falschheit ist alleweil dabei – halten den Wurstlprater für den Mittelpunkt der Welt und wollen nun dem Berliner zeigen, was eine richtige Harke ist. Aber bitte sähr, wir danken ergebenst.

Diese Aufdringlichkeit, diese aalglatte Gewandtheit, dieses treue Plüschauge, diese gradezu diabolische Geschicklichkeit, »überall hineinzukommen« – all das verfälscht nicht nur unser Stadtbild, sondern fängt gemach an, uns eine Plage zu werden. Die Österreicher fallen einem nie unangenehm auf. Die »Nazis« immer.

Sie nisten im Film (dahin gehören sie noch allenfalls), sie hocken in der Presse, sie überschwemmen das Theater mit einer Zungenfertigkeit, daß einem himmelangst und ganz und gar unberlinisch zu Mute wird – sie kritisieren, lamentieren, intrigieren und strafen die literarhistorische Behauptung Lüge, daß Nestroy veraltet sei. Seine Figuren leben alle noch. Und leider, in größter Anzahl, bei uns. Und gar so weich san’s … Und stammen alle, alle aus Wien.

Das redet, wie geschmiert. (Ists auch in manchen Fällen.) Das hat eine unheimliche Fähigkeit, alle Dinge – sofort druckfertig, ein für alle Mal formuliert, paradox und aphoristisch – am Caféhaustisch so darzustellen, daß der Fremde betroffen schweigt. Kommst du nach Haus und überlegst, so stimmt kein Wort. In einer Bearbeitung des Figaro für Kainz standen einmal die Worte: »Reden kann er -!« Reden können sie. Fürs Handeln bleibt dann nicht mehr viel übrig.

Die Herren, die auf der Reise von Prag nach Wien ihren Doktor gemacht haben und hier einen Umgangston, eine Moral, eine Anschauung über persönliche Integrität einzuführen im Begriffe sind, würdig der zappligen Schmierigkeit ihrer Damen, entlocken dem Mann an der Spree mitunter nicht zu Unrecht den verzeihlichen Ausruf: »Und an das soll ich mich anschließen -?«

Es wäre wirklich zu wünschen, sie blieben dort, wo sie der Rechen eines bösen Schicksals heruntergekratzt hat. Unsre Schieber stellen wir uns alleine her, und wir haben deren grade genug. Daß Jene Zyniker sind, wäre an sich kein Schade – aber es sind kleine, niedrige Zyniker: zynische Commis. Die Unverfrorenheit dieser Brüder, den etwas schwerfälligern Mann aus dem Norden hinten und vorne zu betrügen und ihm unter gefälligem Grinsen und unter Aufwand einer schwer literarischen Terminologie (man beachte nur ihre Adjektiva!) Portemonnaie, Uhr und guten Ruf aus der Tasche zu stehlen, verdient, daß ihnen einmal auf die Finger geklopft wird.

»Ah – schau her! Ja, was treibens denn heuer, mein Liaber?« Schieb bloß ab! Es wird Zeit, daß man sie etwas in den Hintergrund tritt.


Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 8. Juni 1922, Nr. 23, S. 586-588.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Bd. 5, Texte 1921-1922

Kurzer Abriß der Nationalökonomie

Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben. Das hat mehrere Gründe, die feinsten sind die wissenschaftlichen Gründe, doch können solche durch eine Notverordnung aufgehoben werden.
Über die ältere Nationalökonomie kann man ja nur lachen und dürfen wir selbe daher mit Stillschweigen übergehn. Sie regierte von 715 vor Christo bis zum Jahre nach Marx. Seitdem ist die Frage völlig gelöst: die Leute haben zwar immer noch kein Geld, wissen aber wenigstens, warum.
Die Grundlage aller Nationalökonomie ist das sog. ›Geld‹.
Geld ist weder ein Zahlungsmittel noch ein Tauschmittel, auch ist es keine Fiktion, vor allem aber ist es kein Geld. Für Geld kann man Waren kaufen, weil es Geld ist, und es ist Geld, weil man dafür Waren kaufen kann. Doch ist diese Theorie inzwischen fallen gelassen worden. Woher das Geld kommt, ist unbekannt. Es ist eben da bzw. nicht da – meist nicht da. Das im Umlauf befindliche Papiergeld ist durch den Staat garantiert; dieses vollzieht sich derart, daß jeder Papiergeldbesitzer zur Reichsbank gehn und dort für sein Papier Gold einfordern kann. Das kann er. Die obern Staatsbankbeamten sind gesetzlich verpflichtet, Goldplomben zu tragen, die für das Papiergeld haften. Dieses nennt man Golddeckung.
Der Wohlstand eines Landes beruht auf seiner aktiven und passiven Handelsbilanz, auf seinen innern und äußern Anleihen sowie auf dem Unterschied zwischen dem Giro des Wechselagios und dem Zinsfuß der Lombardkredite; bei Regenwetter ist das umgekehrt. Jeden Morgen wird in den Staatsbanken der sog. ›Diskont‹ ausgewürfelt; es ist den Deutschen neulich gelungen, mit drei Würfeln 20 zu trudeln.
Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.
Wenn die Ware den Unternehmer durch Verkauf verlassen hat, so ist sie nichts mehr wert, sondern ein Pofel, dafür hat aber der Unternehmer das Geld, welches Mehrwert genannt wird, obgleich es immer weniger wert ist. Wenn ein Unternehmer sich langweilt, dann ruft er die andern und dann bilden sie einen Trust, das heißt, sie verpflichten sich, keinesfalls mehr zu produzieren, als sie produzieren können sowie ihre Waren nicht unter Selbstkostenverdienst abzugeben. Daß der Arbeiter für seine Arbeit auch einen Lohn haben muß, ist eine Theorie, die heute allgemein fallen gelassen worden ist.
Eine wichtige Rolle im Handel spielt der Export, Export ist, wenn die andern kaufen sollen, was wir nicht kaufen können; auch ist es unpatriotisch, fremde Waren zu kaufen, daher muß das Ausland einheimische, also deutsche Waren konsumieren, weil wir sonst nicht konkurrenzfähig sind. Wenn der Export andersrum geht, heißt er Import, welches im Plural eine Zigarre ist. Weil billiger Weizen ungesund und lange nicht so bekömmlich ist wie teurer Roggen, haben wir den Schutzzoll, der den Zoll schützt sowie auch die deutsche Landwirtschaft. Die deutsche Landwirtschaft wohnt seit fünfundzwanzig Jahren am Rande des Abgrunds und fühlt sich dort ziemlich wohl. Sie ist verschuldet, weil die Schwerindustrie ihr nichts übrig läßt, und die Schwerindustrie ist nicht auf der Höhe, weil die Landwirtschaft ihr zu viel fortnimmt. Dieses nennt man den Ausgleich der Interessen. Von beiden Institutionen werden hohe Steuern gefordert, und muß der Konsument sie auch bezahlen.
Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andre werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog. ›Stützungsaktion‹, bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, daß die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie ja dann auch meist nichts mehr.
Wenn die Unternehmer alles Geld im Ausland untergebracht haben, nennt man dieses den Ernst der Lage. Geordnete Staatswesen werden mit einer solchen Lage leicht fertig; das ist bei ihnen nicht so wie in den kleinen Raubstaaten, wo Scharen von Briganten die notleidende Bevölkerung aussaugen. Auch die Aktiengesellschaften sind ein wichtiger Bestandteil der Nationalökonomie. Der Aktionär hat zweierlei wichtige Rechte: er ist der, wo das Geld gibt, und er darf bei der Generalversammlung in die Opposition gehn und etwas zu Protokoll geben, woraus sich der Vorstand einen sog. Sonnabend macht. Die Aktiengesellschaften sind für das Wirtschaftsleben unerläßlich: stellen sie doch die Vorzugsaktien und die Aufsichtsratsstellen her. Denn jede Aktiengesellschaft hat einen Aufsichtsrat, der rät, was er eigentlich beaufsichtigen soll. Die Aktiengesellschaft haftet dem Aufsichtsrat für pünktliche Zahlung der Tantiemen. Diejenigen Ausreden, in denen gesagt ist, warum die A.-G. keine Steuern bezahlen kann, werden in einer sogenannten ›Bilanz‹ zusammengestellt.
Die Wirtschaft wäre keine Wirtschaft, wenn wir die Börse nicht hätten. Die Börse dient dazu, einer Reihe aufgeregter Herren den Spielklub und das Restaurant zu ersetzen; die frommern gehn außerdem noch in die Synagoge. Die Börse sieht jeden Mittag die Weltlage an: dies richtet sich nach dem Weitblick der Bankdirektoren, welche jedoch meist nur bis zu ihrer Nasenspitze sehn, was allerdings mitunter ein weiter Weg ist. Schreien die Leute auf der Börse außergewöhnlich viel, so nennt man das: die Börse ist fest. In diesem Fall kommt – am nächsten Tage – das Publikum gelaufen und engagiert sich, nachdem bereits das Beste wegverdient ist. Ist die Börse schwach, so ist das Publikum allemal dabei. Dieses nennt man Dienst am Kunden. Die Börse erfüllt eine wirtschaftliche Funktion: ohne sie verbreiteten sich neue Witze wesentlich langsamer.
In der Wirtschaft gibt es auch noch kleinere Angestellte und Arbeiter, doch sind solche von der neuen Theorie längst fallen gelassen worden.
Zusammenfassend kann gesagt werden: die Nationalökonomie ist die Metaphysik des Pokerspielers.
Ich hoffe, Ihnen mit diesen Angaben gedient zu haben, und füge noch hinzu, daß sie so gegeben sind wie alle Waren, Verträge, Zahlungen, Wechselunterschriften und sämtliche andern Handelsverpflichtungen –: also ohne jedes Obligo.

Autorenangabe: Kaspar Hauser

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 15. September 1931, Nr. 37, S. 393.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1931

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 9, S. 287 ff.

Friedhelm Greis, Stefanie Oswalt (Hg.): Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur Weltbühne, Berlin 2008, S. 274-276.

Rosen auf den Weg gestreut

Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
    Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
    getreulich ihrer Eigenart!
        Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
        Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!

    Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
    sagt: „Ja und Amen – aber gern!
    Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!“
    Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
        Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
        Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

    Und schießen sie –: du lieber Himmel,
    schätzt ihr das Leben so hoch ein?
    Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
    Wer möchte nicht gern Opfer sein?
        Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
        gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen …
    Und verspürt ihr auch
    in euerm Bauch
        den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
        Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
        küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!


Autorenangabe: Theobald Tiger

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 31. März 1931, Nr. 13, S. 452.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1931.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 9, S. 162 ff.

Zyniker

Auf meinem Nachttisch haben viele Bücher gelegen, in denen waren Schilderungen von Zeitungsredaktionen zu finden. Da ging es hoch her. Dideldumdei, bin nicht dabei, aber dies wäre zu sagen:

   Die geschilderten zigarettenrauchenden und schnapstrinkenden Redakteure sind gar große Zyniker. Sie scheinen ihren Beruf nicht ernst zu nehmen. Sie hauen ihren Umbruch hin; sie streichen und sie schmieren, und was sie zu vermelden haben, ist ihnen, wie unser Feldwebel zu sagen pflegte, reißpipeneengal.

   Ja, sollen denn Redakteure eine Zeitung wie einen Gottesdienst zelebrieren? Sind wir nicht, wenn wir klug sind, im Beruf allesamt Zyniker? Kann man einen Alltagsberuf, der in den meisten Fällen keine Berufung ist, anders ausüben als: aus dem Handgelenk, mit der Zigarette im Mundwinkel, routiniert, halb gleichgültig, halb interessiert … ist das nicht überall so? Es ist überall so.

   Wie wird denn operiert? Wie wird denn eingekauft? Wie werden denn Fahrpläne gemacht? Feierlich? Nur Dummköpfe sind im Beruf feierlich. Wer auch nur ein wenig Verstand hat, weiß, daß die Welt nicht von Heiligen bevölkert ist, und daß, wie Ludwig Marcuse in seiner Heine-Biographie so gut sagt, nur Heilige oder pekuniär unabhängige Menschen ganz kompromißlos leben können. Wodurch es sich denn vielleicht erklärt, daß sich mancher wohlhabende Literat als Heiliger aufspielt.

   Daß Redakteure Zyniker sind, unterscheidet sie nicht von andern Leuten. Ach, wenn sie nur Zyniker wären … ! Im Grunde zeigt diese Kritik, daß der Kritiker die Zeitung überschätzt: er sieht in ihr die vom Himmel geflatterte Botschaft, die ihm Befehl und Gesetz ist – und nun ist er enttäuscht. Wie! Die himmlischen Heerscharen glauben nicht ganz und gar an das, was sie durch die Posaune blasen? Diese Zyniker!

   Ganz abgesehen davon, daß der zynische Journalist immer noch angenehmer ist als der feierliche Zeitungsfachmann, der sich für das Zentrum der Welt hält, scheint mir eine solche Kritik nicht etwa unerlaubt – Berufsreligionen habe ich nie mitgemacht. Aber schief ist sie, diese Kritik.

   Was ist denn der Redakteur? Ein Angestellter. Traurig genug, daß ers immer nur zu fühlen bekommt, es aber nicht recht wahr haben will. Wer macht die Zeitung? Der Herr Zyniker? Ach, du lieber Gott. Er macht nur den Umbruch.

   Die Zeitung wird vom Verleger gemacht. Den sollte man kritisieren – nicht durchaus und durchum mit Betonklötzern bewerfen, aber einmal schildern, wie er ist. In seiner ewig schielenden Angst, die er für Witterung hält; in seiner Beeinflußbarkeit; in der Verflechtung seiner geschäftlichen Interessen mit denen andrer Leute … ich höre immer: Korruption. In Deutschland wird nicht bestochen. In Deutschland wird beeinflußt. Und was in der Zeitung steht, ist nicht halb so wichtig wie das, was nicht drin steht.

   Daß aber die Abfassung der Nachrichten über Feuersbrünste und Erdbeben von fettigen Witzen begleitet wird, ist noch lange nicht das schlimmste an der Zeitung. Diese Redaktionsschilderungen sind so alt wie die Zolaschen Romane; wir kennen das. Ich vermisse etwas andres. Nämlich ein Postulat.

   Die Zeitung sollte geistigen Leuten gehören, die sich geschäftliche Mitarbeiter halten. Das Umgekehrte dürfte nicht ganz das richtige


Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 19.1.1932, Nr. 3, S. 100.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1932

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 10, S. 17 ff.

Die Leibesfrucht

Du bist so schwer, du bist so blaß –
was hast du, Mutter?
Du willst etwas und weißt nicht was –
was hast du, Mutter?
Ich trag in meinem Leibe ein Kind;
ich weiß, wie seine Geschwister sind:
ohne Stiefel, ohne Wolle, ohne Milch, ohne Butter –
ich bin eine Mutter! Ich will keine Mutter mehr sein!
Laß mich schrein –!
Laß mich schrein –!“

Es darf und darf mir nicht zur Welt!
„Frau, was wollen Sie?“
Mein Mann ohne Stellung – wir haben kein Geld!
„Frau, was wollen Sie?“
Ich will nicht, daß man für eine Nacht
mich und die Kinder unglücklich macht!
Dieselben Rechte will ich wie die Reichen,
die ungestraft zum Abtreiber schleichen –
Warum will mich denn keiner befrein?
Laßt mich schrein –!
Laßt mich schrein –!

Mit Schreien ist da nichts getan –
Wacht auf, ihr Frauen!
Nieder mit kirchlichem Größenwahn!
Wacht auf, ihr Frauen!
Ihr krümmt euch vor Schmerzen, und in euer Ohr
tönt heulend der Untemehmerchor:
„Trag es aus! Trag es aus!
Trag es aus im Sturmgebraus!
Wenn der Staat bleibt bestehn,
könnt ihr alle zugrunde gehn!
Ihr habt nichts zu fressen?
Wir brauchen die Kinder für Dortmund und Essen,
für die Reichswehr und für die Büros –
und wenn ihr krepiert, dann sind wir euch los!“

Aus Jodoform und blutigem Leinen
kommt winselnd eines Kindes Weinen.
Es wartet an dem kleinen Bett
bereits ein mächtiges Quartett:
Fabrik. Finanzamt. Schwindsucht. Kirchenzucht.

Das ist das Schicksal einer deutschen Leibesfrucht.


Autorenangabe: Theobald Tiger

Ersterscheinung: AIZ Jg. 7 (13.6.1928), Nr. 24, S. 10.

Wieder in: Das Lächeln der Mona Lisa, Berlin 1929, S. 376–378.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928.

Powered by WordPress