Was kann man von einem Wahlplakat mehr erwarten, als dass es von den Medien ausgiebig rezipiert wird? In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass die Berliner PDS durchaus Erfolg mit Wahl ihres Slogans hatte, mit dem sie vor der Abgeordnetenhauswahl vom 17. September um Wählerstimmen wirbt. Denn ihr Spruch wurde von den Berliner Zeitungen mehrfach zum Anlass genommen, sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen. Wenn auch eher kritisch. Wie die PDS das geschafft hat? Sie hat einfach folgendes Tucholsky-Zitat genommen und groß auf ihre roten Plakate drucken lassen:
… für diese Stadt, in der immerhin Bewegung ist und Kraft und pulsierendes rotes Blut. Für Berlin.
Auf der Pressekonferenz, bei der die Partei das Plakat vorstellte, wurde immerhin der Originaltext „Berlin! Berlin!“ verteilt. Die Vertreter der verantwortlichen Werbeagentur konnten allerdings nicht eindeutig die Frage der Journalisten klären, ob der Text denn rechtlich überhaupt zu diesem Zweck verwendet werden dürfe. Dabei lautet die Antwort doch ganz einfach: Ja. Dies ging auch aus einer Meldung der Nachrichtenagentur ddp hervor, die weitestgehend in der taz abgedruckt wurde.
In derselben Ausgabe ging auch Gereon Asmuth in einem Kommentar der Frage nach, was denn der Tucholsky-Slogan mit der PDS zu tun habe:
Es bleibt ein irgendwie linker, vor allem aber längerer Slogan, als ihn die anderen Parteien bieten. Und das Gefühl, die PDS trauere alten Zeiten mit klaren Fronten nach. Immerhin wird der Wähler verleitet, mal wieder Tucholsky zu lesen. Viel mehr kann man von einem Wahlplakat kaum erwarten.
Zur Tucholsky-Lektüre fühlte sich offenbar auch Wiebke Hollersen von der Berliner Zeitung bemüßigt. Und in ihre Schulzeit versetzt:
Was will uns der Autor damit sagen? Es könnte eine Aufgabe aus der Abiturklausur sein. Der Prüfling müsste einbringen, was er über Kurt Tucholsky, den Autor der Aussage, gelernt hat, und auch etwas über die gesamtgesellschaftliche Situation im Entstehungsjahr des Zitats 1927.
schlägt Hollersen in ihrem Text „Wir grüßen uns kaum“ vor. Ihr Resümee:
Zumindest, dass es ihn nicht kümmert, dereinst klar gedeutet werden zu können. Dass sein Essay für Abiturklausuren eher nicht taugt. Für Wahlplakate vielleicht schon – aus demselben Grund.
Das sehen andere wiederum anders. Der Tagesspiegel hat zum Beispiel einen Experten die Wahlplakate der Berliner Parteien beurteilen lassen. Dabei kommt die PDS nicht so gut weg:
Die Linke verspricht, wie auch CDU und FDP, etwas „für Berlin“ zu tun. Statt konkrete Ziele zu nennen, benutzt sie ein Zitat von Kurt Tucholsky. Das ist ungewöhnlich. Man setzt auf das Pathos der roten Stadt, in der das rote Blut kraftvoll pulsiert. Die Metapher wirkt feierlich, will emotionalisieren. […] Das Zitat wirkt zu abgehoben. Freigeister und Intellektuelle mag es ansprechen, aber es bleibt unkonkret, da von jeder Programmatik abstrahiert wird. Tucholsky attestiert Berlin lediglich, dass „immerhin“ Bewegung und Kraft vorhanden sei.
Der vom Tagesspiegel befragte Berliner Werbepsychologe Alexander Schimansky ist nicht der einzige, der allen Ernstes glaubt, dass die PDS mit dem Plakat die Wählerstimmen von „Intellektuellen“ gewinnen könnte. Auch die taz machte sich zu diesem Thema Gedanken und interviewte den Politologen Gero Neugebauer, der lamentierte:
Schauen Sie sich doch um: Es gibt in Berlin noch keinen wirklichen Wahlkampf. Was hier läuft, kann man doch nicht Mobilisierung nennen. Die eine Partei bildet ihre Kandidaten ab wie Sardinen in Senfsoße, die andere plakatiert originell gemeinte Zitate. Ein Spruch von Tucholsky interessiert vielleicht 635 Kenner, mehr aber nicht.
Hm, meint Herr Neugebauer das im Ernst? Oder: was meint er überhaupt? Dass die 635 Berliner Tucholsky-Kenner wegen des Plakates plötzlich anfangen, auf dem Alexanderplatz PDS-Fähnchen zu schwenken? Und aus lauter Plaisier am 17. September der früheren SED ihre Stimme geben? Vermutlich hat das einzig wahre Wort in dieser Causa der Taxifahrer Kasupke von der Berliner Morgenpost gesprochen. Wie sagte er doch in seiner Kolumne zu recht:
… und die PDS schmückt sich mit nem Spruch von Tucholsky. Der is lang tot und kann sich nich wehren.