Die Jahrhunderte des Schlagers
Manche Wünsche Tucholskys erfüllen sich erst sehr spät:
Schade, daß das noch niemand gemacht hat: Schlager und Moden von gestern auf die Bühne zu bringen.
bedauerte er 1925 in dem Artikel »Der Schlager von gestern«.
80 Jahre später gibt es noch viel mehr Schlager, die von gestern sind, so dass sich nicht nur eine kleine Bühne, sondern gleich eine ganze Ausstellung dem Thema widmet. »Melodien für Millionen« Das Jahrhundert des Schlagers heißt die Schau, die seit dem 21. November in Leipzig zu sehen ist. Nach Angaben der Veranstalter präsentiert sie
über 1500 Exponate aus über 100 Jahren, darunter Bühnenkostüme von Lilian Harvey und Zarah Leander, die Gitarre von Caterina Valente oder den gläsernen Flügel von Udo Jürgens, sowie viele Schlagerpreise, Plattencover, Fotos und Plakate.
Die Schreibmaschine von Tucholsky gehört nicht dazu, obwohl er darauf nicht nur viele Schlager- und Chansontexte, sondern auch mehrere Abhandlungen über das Wesen des Schlagers getippt hat. In denen er dabei zu folgendem Schluss kam:
Alle Schlager von gestern wirken auf den heutigen Menschen naiv. Er lächelt, er lächelt überlegen, er sagt sich: »Das ist alles? Das haben nun unsere Eltern als so furchtbar unpassend und frivol empfunden? Zu dieser Musik haben lockere Mädchen, die heute ehrwürdige Matronen sind, getanzt? Das füllte jene Nächte aus? Weiter nichts –?«
Aber diese Überlegung ist ganz und gar unrichtig. Der Schlager bewahrt nämlich nicht, wie man immer sagt, seine ganze Zeit, denn er ist kein großes Kunstwerk, sondern er hat es sich sehr leicht gemacht. Er hat eben die gesamte Zeit als selbstverständlich vorausgesetzt, er hat dem Hörer augenzwinkernd einen freundschaftlichen Rippenstoß versetzt und hat gesagt: »Du weißt doch, wie ichs meine …« Natürlich wußte der Hörer. Es sind nicht nur die lokalen und zeitlichen Anspielungen, die dahin sind, es ist vor allem jenes unnennbare Etwas, das eine Zeit ausmacht, ihr Rhythmus, ihr Takt, ihre Beziehung zwischen den Geschlechtern, ihr modus procedendi im Geldverdienen, ihr Klatsch, ihre Struktur der Familie, ihre Politik und ihre Klassen. Auf diesem Grund und Boden tanzt der Schlager. Dieser Grund und Boden ist ihm nun entzogen, er steht in der Luft, und nun lächelt der Mensch von heute in falscher Überlegenheit über das Gestern.
Peter Panter: »Der Schlager von gestern«, in: Vossische Zeitung, 18.10.1925
Vielleicht wären diese Überlegungen eine gute Gebrauchsanweisung für den Besuch der Ausstellung.
Dass es den deutschen Schlager aber erst seit der Erfindung des Grammophons gegen Ende des 19. Jahrhunderts gibt, wie die Ausstellungsmacher behaupten, scheint ein anderer Text Tucholskys zu widerlegen:
Schlager sind Lieder, bestehend aus Musik und Worten, die kaum noch etwas mit ihren Autoren zu tun haben, sondern die aus der Literatur zum Gebrauchsgegenstand des Volkes oder des jeweiligen Volkskreises avanciert oder degradiert sind. Solche Lieder zum sonntäglichen Gebrauch des deutschen Bürgertums aus den Jahren 1740 bis 1840 hat Gustav Wustmann, der Schöpfer des ausgezeichneten Werkes Allerhand Sprachdummheiten, veranstaltet, und ihre Neuausgabe liegt jetzt vor. (Als der Großvater die Großmutter nahm, im Insel-Verlag.)
Der Titel des Artikels war bezeichnend: »Alte Schlager«. Ungewöhnlich dagegen, dass Wustmanns Sammlung Tucholsky Lieblingsgedicht enthielt, das »Herbstlied« von Johann Gaudenz von Salis-Seewis. Vielleicht zählt Nicoles »Ein bißchen Frieden« in 100 Jahren auch zur Literatur.
Den Schluss von Tucholskys Text sollte man jedoch besser nicht als Motto für den Besuch einer historischen Ausstellung nehmen:
So bestätigt sich auch hier wieder, daß es die Invaliden des Lebens sind, die den Leierkasten der Erinnerung auf dem Buckel schleppen und ewig auf ihm werkeln.