7.8.2008

Augen in der Großstadt 2.0

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
          da zeigt die Stadt
          dir asphaltglatt
     im Menschentrichter
     Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück . . .
War’s etwa der hier? Oder die da?

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
          Ein Auge winkt,
          die Seele klingt;
     du hasts gefunden,
     nur für Sekunden . . .
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück . . .
Schau besser nach hier, immer wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
          Es kann ein Feind sein,
          es kann ein Freund sein,
          es kann im Kampfe dein
          Genosse sein.
     Es sieht hinüber
     und zieht vorüber . . .
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
          Von der großen Menschheit ein Stück!
Man sagt nur C’est la vie da.


Wie erfolgreich solche Augenblicks-Anzeigen sind, steht in der Berliner Zeitung.

22.2.2008

Undurchdringliche Sprachverwirrung

Muss die Geschichte des Nationalsozialismus und deutschen Antifaschismus vielleicht umgeschrieben werden? In einer philologischen Schnellstudie für den Blogblick der „Netzeitung“ hat Maik Söhler in der „Weltbühne“ Passagen gefunden, „die von der nationalsozialistischen Durchdringung einer der wichtigsten Publikationen der Weimarer Republik zeugen“. Genauer gesagt, er hat den hier veröffentlichten Text „Raubstaat Liechtenstein“ von Hellmut von Gerlach gelesen und ist dabei auf die Begriffe Schmarotzer, Eiterbeule und Vampyr gestoßen, die seiner Meinung nach „reiner NS-Duktus“ sind und darauf verweisen, „in welchem Kontext die Weltbühne im Februar 1933 erschien“, wie er auf Anfrage erläuterte. Bei Texten von Tucholsky oder Ossietzky aus der „Weltbühne“ habe er dagegen solche Passagen nicht gefunden.

Gegen diese Behauptungen gibt es ziemlich viele Dinge einzuwenden. Hier einige davon:

Der Vorwurf einer „nationalsozialistischen Durchdringung“ einem demokratisch engagierten Journalisten und Pazifisten wie Hellmut von Gerlach gegenüber ist so absurd, dass man diesen nicht mal eben nach der Lektüre eines kurzen Textes erheben sollte. Dies an drei Begriffen und Formulierungen festzumachen, die übrigens im heutigen Diskurs ebenfalls auftauchen, ist reichlich unbedarft. Nur weil Söhler solche Begriffe aus dem NS-Kontext kennt, heißt das noch lange nicht, dass sie im damaligen Sprachgebrauch nicht gängige Metaphern waren. So schrieb zum Beispiel Tucholsky (!) 1929 (!) über die Unsitte, Autorenhonorare nicht zu bezahlen:

Was die Zeitungskorrespondenzen angeht, so steht es damit ähnlich: es gibt ganze Heerscharen von Parasiten, die von uns leben, schlecht abrechnen, noch unpünktlicher bezahlen und sich überhaupt an fremde Arbeit anzecken.

Oder über Bertolt Brecht:

In besonders schlimmen Fällen sind es Moos oder andre Parasiten, die Saft und Kraft aus den alten Bäumen ziehen — die Schmarotzer vergingen ohne den Alten.

1920 (!) schrieb der Rechtsanwalt und Schriftsteller Leo Pasch über die Novemberrevolution in der „Weltbühne“:

Der Moloch des Obrigkeitsstaates mußte ausgetilgt werden aus der Mitte des Volkes. War Deutschland den äußern Feinden unterlegen, so war es desto heiligere Aufgabe, den Vampyr zu töten, der dem kämpfenden Volke das Blut und das Hirn ausgesogen hatte: der Bureaukratismus mußte schleunigst in die Wolfsschlucht.

Es ist zweifellos so, dass die Nazis viele Begriffe der deutschen Sprache kontaminiert haben, weil sie deren Bedeutung pervertierten oder weil dem Gebrauch der Begriffe unvorstellbare Taten folgten. Aber gerade die „Weltbühne“ hat sich immer dagegen gewehrt, die Begrifflichkeiten der Nazis zu übernehmen und darauf verwiesen, wo die Nazis sie zusammengeklaubt hatten. Man würde den „Weltbühne“-Autoren heute auch keinen Rassismus vorwerfen, weil sie ständig die Begriffe Nigger oder Neger benutzten, die damals noch üblicher Sprachgebrauch waren.

Trotz dieses sprachlichen Kontextes kann sich natürlich fragen, warum ein fortschrittlicher und toleranter Mensch wie Hellmut von Gerlach sich in Sachen Liechtenstein so sehr in Rage redete und forderte, das Land im Grunde aufzulösen und notfalls unter die Verwaltung des Völkerbundes zu stellen. Dazu ist zu bemerken, dass Deutschland und andere europäische Länder sich in der Weltwirtschaftskrise in einer extremen Finanznot befanden und um jede Einnahme froh waren, die sie erzielen konnten. Deutschland war seit 1930 praktisch zahlungsunfähig und balancierte ständig am Rande des Staatsbankrotts. Dies machte es der Regierung Brüning unmöglich, durch großzügige Konjunkturprogramme oder Kreditausweitung die Wirtschaftskrise zu bekämpfen und der Nazi-Propaganda somit das Wasser abzugraben. Die Sanierung der Finanzen war für die Weimarer Republik eine Existenzfrage, an deren unzulänglicher Lösung sie mit gescheitert ist. Man mag sich wundern, dass sich Gerlach auch dann noch für die deutschen Staatsfinanzen einsetzte, als die Nazis bereits an der Macht waren. Aber erstens hoffte er sicher, dass der braune Spuk bald vorbei sein würde. Und zweitens widmete er sich auch in seinem letzten Beitrag für die „Weltbühne“, eine Woche später, der Außenpolitik, was damals sicher unverfänglicher war. Denn ihm selbst war klar, dass er persönlich in großer Gefahr schwebte und seine Name auf Verhaftungslisten der Nazis stand. Außerdem hatte der „Stahlhelm“ drei Wochen zuvor eine Resolution beschlossen, die die „Todesstrafe für Landesverräter und die Verächter wahren deutschen Volkstums wie Hello von Gerlach“ forderte. Wie sehr Gerlach den Nazis verhasst war, zeigt sich auch daran, dass er auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reiches stand.

Zuletzt könnte man noch spekulieren, dass Gerlach der antisemitischen Propaganda der Nazis entgegenwirken und darauf hinweisen wollte, wo seiner Meinung nach wirklich Schmarotzer saßen, die den Staat aussagten, so wie es die Nazis von den Juden behaupteten. Die eigentliche Botschaft hätte dann zwischen den Zeilen und in dem fast schon parodistischen Widerspruch zu den antisemitischen Tiraden Hitlers und Goebbels gelegen. Eine solche Intention hätte wohl nur Gerlach selbst bestätigen können.

Fazit: Die Wendungen am Ende des Textes zeigen wohl in der Tat, wie sehr sich Gerlach über die staatlich begünstigte Steuerflucht nach Liechtenstein damals geärgert hat. Nicht viel anders, als es unzählige Kommentatoren heute auch tun. Wer weiß, wie in 75 Jahren jemand beurteilt wird, der Liechtenstein heute als Schurkenstaat bezeichnet.

15.2.2008

Sudelblog-Spezial: „Raubstaat Liechtenstein“

Aus gegebenem Anlass sei hier auf einen Text verwiesen, der vor einiger Zeit in einer Tucholsky sehr nahestehenden deutschen Zeitschrift gestanden hat.

Raubstaat Liechtenstein

Eingeklemmt zwischen der Schweiz und Österreich liegt das sonderbare Staatsgebilde, das offiziell als Fürstentum Liechtenstein firmiert. Es hat zehntausend Einwohner und umfaßt drei Quadratmeilen Landes. Im alten deutschen Bunde war es vollberechtigtes Mitglied und nahm als solches 1866 an dem Kriege gegen Preußen teil, wofür es vierundsechzig Soldaten zu stellen hatte. Bei dem Friedensschluß wurde es von Bismarck vergessen. Friede zwischen Liechtenstein und Preußen ist nie geschlossen worden. Rechtlich befindet sich Vaduz seit 1866 noch immer im Kriegszustand mit Berlin, ohne daß sich daraus praktische oder gar blutige Konsequenzen ergeben hätten.

Staatsrechtlich ist Liechtenstein souverän. Wenigstens teilweise. Einen Teil seiner Souveränitätsrechte hat es nämlich an die Schweiz abgetreten, mit der es zum Beispiel in Münzunion lebt. Wegen des Verzichts auf einen Teil seiner Souveränitätsrechte konnte dem Wunsche Liechtensteins auf Aufnahme in den Völkerbund nicht entsprochen werden. Man darf den Völkerbund dazu beglückwünschen, daß er auf die Weise um die Belastung mit moralischem Ballast herumgekommen ist.

Was Liechtenstein an Souveränität übrig geblieben ist, reicht immerhin aus, um den Gebrüdern Rotter und andern Europäern gleichen Edelgehalts Schutz gegen den Strafrichter zu gewähren. Von allen Souveränitätsrechten liegt dem edlen Fürstentum natürlich weitaus am meisten an der Steuerhoheit. Dank ihr konnten sich fünfhundertundneunundsiebzig Aktiengesellschaften auf den drei Quadratmeilen ansiedeln. Dank ihr konnte die Landesbank Liechtensteins in die Gesellschaft der upper ten gelangen, in den Kreis der zehn mächtigsten Goldinstitute Europas. Gibt es heute noch eine sichere Geldanlage? fragt ein Finanzmann den andern. Jawohl, die gibt es, in Liechtenstein. Wer vor seinem eignen Finanzminister absolut sicher sein will, flüchtet sich nach Liechtenstein, in Person oder mit dem Sitz oder einer Filiale seiner Gesellschaft. Man kauft sich ein, durch Verhandlungen mit den Behörden des Fürstentums, von Gentleman zu Gentleman. Liechtenstein ist kulant. Der einzelne Finanzgewaltige braucht nicht viel zu zahlen. Die Masse muß es bringen: Fünfhundertundneunundsiebzig Aktiengesellschaften!

In der monarchistischen ‚Deutschen Zeitung‘ schreibt Hellmut Draws-Tychsen, dessen Spezialität das Studium der Zwergstaaten ist:

Ich will trotz meiner Bejahung der monarchischen Staatsform freimütig eingestehen, daß meine Hochachtung innerhalb der europäischen Miniaturstaaten den uralten, sauberen, freien, bescheidenen Republiken Andorra und San Marino gehört und nie und nimmer den korrupten Ländchen Monaco und Liechtenstein. Hier wünsche ich keine Freude zu haben, aber dort, wo die Einfachheit, die Gastfreundschaft, der Glauben und die Unverderbtheit herrschen. Tatkraft ist alles, denkt der Andorraner, wenn er dem kargen Boden eine karge Ernte abringt. Dagegen philosophiert der Liechtensteiner, der nichtstuerisch und genießerisch die Hände in den Schoß legen kann: Geld allein macht glücklich.

Herr Draws-Tychsen liebt Monaco und Liechtenstein gleich wenig. Er geht von der Moral aus. Die sollte man in solchem Fall ausschalten. Ob die Monegassen oder die Liechtensteiner moralisch höher stehen oder beide gleich niedrig, kann der Welt überaus gleichgültig sein. Was ihr nicht gleichgültig sein kann, ist die Schädigung, die sie durch die beiden Operettenstaaten erfährt. Und da liegt Liechtenstein mit mehreren Pferdelängen voran. In Monaco ruiniert sich wenigstens nur der einzelne Reiche, der das nötige Geld hat, um zur Spielbank zu reisen. Das ist eine Privatangelegenheit. In Liechtenstein dagegen sammeln sich die Milliarden, die Deutschland, Österreich und allen möglichen andern Ländern Europas entzogen werden. Die Kapitalfluchtgesetze werden zur Farce, solange die Hehlerhöhle Liechtenstein sich internationalen Schutzes erfreut. Die Steuerzahler ganz Europas müssen das aufbringen, was die Flucht ihrer potentesten Landsleute nach Liechtenstein ihnen entzieht.

Selbstbestimmungsrecht der Völker ist sehr schön. Aber Liechtenstein ist kein Staat mit Existenzberechtigung. Es ist ein Parasit, der auf allen andern Staaten herumschmarotzt. Es ist eine Eiterbeule.

Diese Eiterbeule muß aufgestochen werden. Mit dem Rest der Souveränität des Ländchens ist schleunigst ein Ende zu machen. Das ist eine Angelegenheit, die alle Völker Europas angeht. Denn die Steuerkraft aller wird von der Eiterbeule zerfressen.
Am einfachsten wäre es natürlich, wenn Liechtenstein der Schweiz einverleibt würde. Aber vielleicht widerstrebt ihr der Zuwachs dieses Mißwachses. Dann sollte Liechtenstein unter Völkerbundsverwaltung genommen werden. Irgendeine Lösung muß gefunden werden, um Europa von seiner partie la plus honteuse zu befreien. Man darf ein staatsrechtliches Naturdenkmal in dem Augenblick nicht mehr dulden, wo es sich als Vampyr herausstellt, der allen Nachbarn das Steuerblut aus den Adern saugt.

Hellmut v. Gerlach

In: Die Weltbühne, 21.2.1933, S. 297

15.12.2007

Texte zum Anprangern

In Stockholm gibt es ein Museum, das sich mit der Geschichte des Nobelpreises befasst. Die Welt hat sich das Nobelmuseum angeschaut. Das Herz der Ausstellung bilde die Sammlung Cultures of Creativity, schreibt Autorin Karin Schumann in ihrem Text „In Stockholm gibt es Genies zum Anfassen“. Obwohl die Friedensnobelpreise in Oslo verliehen werden, widmet sich die Ausstellung auch den Trägern dieses Preises. Und wie:

Das Museum scheut sich dabei nicht, auch Kontroversen aufzuzeigen. So wurde der Friedensnobelpreisträger von 1935, Carl von Ossietzky, schon von seinem Zeitgenossen Kurt Tucholsky als „Märtyrer ohne Wirkung“ angeprangert. Der Publizist von Ossietzky hatte 1931 die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufgedeckt und immer wieder die Weimarer Republik kritisiert. Später starb er an den Folgen seiner KZ-Haft.

Erstmal tief Luft holen – und dann der Reihe nach.

Das Museum schreckt also vor „Kontroversen“ nicht zurück. Aber worin bestand diese Streitfrage im Fall Ossietzky? Vielleicht darin, dass der letzte Herausgeber der Weltbühne sich freiwillig in ein sinnloses Martyrium begeben hat? Und dafür auch noch geehrt werden sollte? Sonst hätte Tucholsky das sicher nicht „angeprangert“.

Nun hat zum einen die Forschung bislang noch gar nicht klären können, ob Ossietzky bewusst in Nazi-Deutschland geblieben ist. Es spricht einiges dafür, dass er einer Flucht nicht abgeneigt war, aber den richtigen Zeitpunkt verpasste.

Zum anderen konnte Tucholsky in seinem damaligen Aufenthaltsort in Zürich sicher nicht wissen, wie freiwillig Ossietzky dieses Martyrium auf sich genommen hat. Er beklagte daher dessen

merkwürdig lethargische Art, die ich nicht verstanden habe, und die ihn wohl auch vielen Leuten, die ihn bewundern, entfremdet. Es ist sehr schade um ihn. Denn dieses Opfer ist völlig sinnlos. Mir hat das mein Instinkt immer gesagt: Märtyrer ohne Wirkung, das ist etwas Sinnloses. Ich glaube keinesfalls, daß sie ihm etwas tun, er ist in der Haft eher sicherer als draußen.

Aber an welchem „Pranger“ hat Tucholsky dies kundgetan? In einem persönlichen Brief an seinen Freund Walter Hasenclever. Es davon auszugehen, dass Schumann und die Welt-Redaktion unter einem Pranger auch eher ein öffentliches Instrument verstehen, um Menschen bloßzustellen. Zwar hat sich Tucholsky bisweilen in Briefen über Ossietzky beschwert. Aber er hat ihn nie als Herausgeber der Weltbühne öffentlich angegriffen oder ihm gar in der Presse vorgeworfen, den Nazis in die Hände gefallen zu sein. Im Gegenteil. Zum einen hat er sich in einem Brief an das Nobelkomitee für die Verleihung des Nobelpreises an Ossietzky eingesetzt. Zum anderen entschied er sich 1935 dazu, sein seit Jahren währendes öffentliches Schweigen zu brechen und sein literarisches Idol Knut Hamsun anzuprangern, weil dieser Ossietzky als Pazifisten attackiert hatte.

Oder besteht die Kontroverse etwa darin, dass Ossietzky „1931 die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufgedeckt und immer wieder die Weimarer Republik kritisiert“ hatte – und trotzdem einen Friedensnobelpreis erhielt? Zunächst gilt dabei festzuhalten, dass der Journalist und Flugzeugkonstrukteur Walter Kreiser bereits 1929 in der Weltbühne den verbotenen Aufbau einer deutschen Luftwaffe aufdeckte und zusammen mit Ossietzky dafür im November 1931 wegen Spionage zu 18 Monaten Haft verurteilt wurde. Warum das Verfahren mehrere Jahre dauerte, ist eine lange Geschichte. Für die Nazis war Ossietzky daher stets der verbrecherische „Landesverräter“, der zurecht in „Schutzhaft“ genommen worden war. Und dass Ossietzky wohl Grund hatte, „immer wieder“ die Weimarer Republik zu kritisieren, zeigt sich schon daran, dass die Nazis schließlich an die Regierung gelangen konnten. Was sie ihm mit brutalsten Schikanen und Misshandlungen in der KZ-Haft dankten.

An deren Folgen er 1938 tatsächlich gestorben ist.

1.2.2006

Beim Barte der Satire

In der Debatte um die umstrittenen Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten ist es wirklich nicht mehr so einfach, den Überblick zu bewahren. Die einen drucken die Karikaturen nach, um für die Pressefreiheit einzutreten, die anderen kritisieren den Abdruck als Missbrauch eben dieser Freiheit und als reine Marketing-Aktion. Kein Wunder natürlich, dass hier und da der Hinweis auf das Diktum Tucholskys auftaucht, wonach Satire „alles“ darf. Da sich nach der Lektüre von „Was darf die Satire?“ die Frage stellt, was die Mohammed-Karikaturen mit derselben zu haben, soll hier der Blick auf einen Text Tucholsky gerichtet werden, der sich stärker mit der Verwendung religiöser Symbole in der Kunst beschäftigt.

Dieser Text zeigt, dass man im Deutschland des Jahres 1929 nicht besonders tolerant war, was die Meinungsfreiheit in religiösen Dingen betraf. In „Die Begründung“ kritisierte Tucholsky ein Urteil gegen George Grosz, der aufgrund einer Christus-Darstellung wegen Gotteslästerung verurteilt worden war. Das Gericht hatte seine Entscheidung damit begründet, dass Grosz eine Einrichtung der christlichen Kirche, die Christusverehrung, angegriffen habe:

Denn richtete sich in den beiden vorgenannten Zeichnungen die Satire des Künstlers gegen einzelne Diener der christlichen Kirche und gegen den Gottesbegriff des ›heiligen Geistes‹, so ist hier in Bild 10 unverkennbar Christus selbst als Träger und Symbol jenes christlichen Glaubens, der bereits in den Zeichnungen 2 und 9 ironisiert wurde, das Angriffsobjekt.

Tucholsky lehnt den Versuch der Kirche, religiöse Gefühle mit Hilfe staatlicher Justiz schützen zu lassen, entscheiden ab. Sein Resümee:

Gegen eine solche unzureichende Begründung aber ist zu sagen, daß die Kirche unsre Gefühle verletzt; daß die aggressive Politik der Katholiken in Bayern und anderswo geeignet ist, unser Empfinden zu verletzen. Dieser Schutz der Kirche ist ein Angriff auf uns.

Grosz wurde nach einem mehrjährigen Berufungsverfahren schließlich vom Vorwurf der Gotteslästerung freigesprochen.

Nachtrag 4.2.2006: Heribert Prantl nimmt in der Süddeutschen den Fall George Grosz als Beispiel dafür, wie in der Geschichte um das gerungen wird, „was Kunst darf und was nicht“.

24.12.2005

Literarische Städtepartnerschaft

Es ist schon ein wenig merkwürdig, dass in Tucholskys bekanntesten Büchern zwei Schlösser eine Hauptrolle spielen. Und beide Orte profitieren seither von ihrer literarischen Popularität. Ohne Tucholsky würden etliche Besucher weniger ihren Weg ins märkische Rheinsberg finden. Auch Schloss Gripsholm ist vielen deutschen Touristen wegen der „kleinen Sommergeschichte“ ein Begriff. Konsequent scheint es daher, dass die Städtchen Rheinsberg und Mariefred, wo Tucholsky außerdem begraben liegt, eine Städtepartnerschaft begründet haben.

Die deutsch-schwedische Verbindung werde auch konkrete Projekte zur Folge haben, heißt es in dem Artikel „Ein Hauch von Tucholsky“ in der „Schweriner Volkszeitung“.

„Inzwischen besteht ein regelmäßiger Austausch, insbesondere auf künstlerischer Ebene“, sagt Rheinsbergs Bürgermeister Manfred Richter (SPD). Mit der offiziellen Beurkundung der Partnerschaft in diesem Jahr hoffe er nun auf weitere gemeinsame Projekte und zunehmende Touristenströme in beide Richtungen. „Wir planen auch eine Broschüre über Rheinsberg in schwedisch, die in Mariefred ausliegen soll.“ Zudem sei eine Tucholsky-Dauerausstellung in der schwedischen Stadt angedacht. Schließlich, so betont Böthig, „ist in Mariefred ein Bewusstsein für Tucholsky vorhanden.“

13.6.2005

Also doch Mörder??

Während sich in Deutschland die Gesellschaft und die Gerichte jahrzehntelang darüber streiten, ob Soldaten ganz allgemein Mörder genannt werden dürfen, machen es sich Rekrutenausbilder in den USA zum Teil viel einfacher. Bob Herbert, Kolumnist der „New York Times“, erinnert sich in seinem heutigen Beitrag an seine Zeit bei der US-Armee:

A soldier’s job is to kill. I can still hear the drill sergeants in basic training screaming at us decades ago: „What are you? What are you?“ And we’d scream back: „Killers! Killers!“ And the sergeants would say, „What is your purpose?“ And we would shout: „To kill! To kill!“

Die Aufgabe des Soldaten besteht darin, zu töten. Ich kann immer noch die Feldwebel hören, die uns während der Grundausbildung vor Jahrzehnten anbrüllten: „Was seid Ihr? Was seid Ihr?“ Und wir schrien zurück: „Mörder! Mörder!“ Und die Feldwebel sagten: „Was ist Eure Aufgabe?“ Und wir brüllten: „Töten! Töten!“

3.5.2005

Jüdischer Witz

Für die „taz“ hat Robin Alexander die Feststellung gemacht, dass man in Israel, ohne besonderen Ärger fürchten zu müssen, Witze über die Judenvernichtung machen darf. Vorausgesetzt, man ist Jude. In dem mit ebensolchen Witzen garnierten Text versucht der Fernseh-Komiker Gil Kopatch dieses Phänomen zu erläutern:

„Der israelische Humor ist ein ganz besonderer“, erklärt Kopatch. Nicht mehr der berühmte jüdische Witz, der von Kurt Tucholsky bis Woody Allen die besten Satiriker vieler Länder auszeichnete. „Der jüdische Witz war die Waffe der Schwachen: Er war vorsichtig, subtil, andeutend, aber präzise“, sagt Kopatch. Der typische Witz einer Minderheit, die sich besser nicht unbeliebt macht.

Nun kann man über Tucholskys Art von Humor denken, wie man will. Man kann sogar mit Maxim Biller behaupten, niemand sei so unlustig wie Kurt Tucholsky gewesen. Aber Tucholskys Witz als „vorsichtig, subtil, andeutend, aber präzise“ zu bezeichnen, geht wohl nur dann, wenn man von ihm nie mehr als einen seiner vielen Namen gelesen hat. Um Kopatchs Behauptung zu widerlegen, dürfte es fast schon reichen, den nicht gerade unbekannten Text „Was darf die Satire?“ heranzuziehen:

Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.

Und dass man sich mit einer Satire, die alles darf, alles andere als beliebt macht, dürfte auch Tucholsky klar gewesen sein. Vielleicht hat Biller in einem gewissen Sinne sogar recht, wenn er über die deutsch-jüdischen Humoristen sagt: “ Die waren nicht komisch, sondern furchtbar preußisch.“

18.4.2005

Wasser oder Bier?

Alle Jahre wieder kommt ein Journalist auf die Idee, auf den Spuren Tucholskys in den Pyrenäen zu wandeln. Dieses Mal hat sich Rainer Heubeck für die „Berliner Morgenpost“ auf den Weg nach Südfrankreich gemacht. Dort hat er einiges so vorgefunden, wie es schon Tucholsky beschrieben hatte. Zum Beispiel den höchsten Wasserfall Südwesteuropas (welch ein Superlativ) bei Gavarnie. Tucholsky war damals weder von dem Naturschauspiel noch von dessen Besuchern beeindruckt. „Geschwätziges, naturkneipendes Kleinbürgertum“ sah er dort. Warum sich diese Touristen in Heubecks Text „Eine kleine Flocke“ plötzlich für die Heilkraft des Wassers interessieren und ein „naturkneippendes Kleinbürgertum“ werden, wird wohl das Geheimnis irgendeines Autors oder Setzers bleiben.

11.2.2005

Happy End

Es ist sicherlich nicht besonders nett von der „Süddeutschen Zeitung“, die anstehende Hochzeit von Prinz Charles und Camilla Parker Bowles ausgerechnet mit einem Vers aus Tucholskys Gedicht „Danach“ zu kommentieren:

Was aber wird aus den beiden, wenn sie erst mal verheiratet sind? Längst vorbei die geheimen Rendezvous im Pferdestall, vorüber das honigsüße Gewisper am Telefon. Bald stehen sie am Balkon des Buckingham Palasts, überwacht von der Königin. Wie hat Tucholsky gedichtet? „Die Ehe war zum jrößten Teile vabrühte Milch un Langeweile.“

Nun ist es zum einen nicht Aufgabe des SZ- „Streiflichts“, zu Mitgliedern des britischen Königshauses nett zu sein, und zum anderen ist leider nicht zu hoffen, dass nach dem lang ersehnten Happy End der beiden plötzlich „abjeblendt“ wird, wie es im dem Tucholsky-Gedicht weiter heißt. Denn selbst verbrühte Biomilch schafft es in die Regenbogenpresse, wenn sie nur auf einem königlichen Herd schäumte.

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