8.3.2023

Tucholsky und die Statistik des Todes

Als engagierter Pazifist und Antimilitarist hat sich Kurt Tucholsky in seinen Texten intensiv mit dem Thema Krieg beschäftigt. Sein Diktum „Soldaten sind Mörder“ wird immer noch stark rezipiert und ist heute so umstritten wie im Jahr 1931, in dem es geprägt wurde.

Kaum weniger häufig wird Tucholsky ein Spruch zugeschrieben, der eine sehr zynische Auffassung vom Wert des Menschenlebens vertritt:

„Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe; aber hunderttausend Tote: das ist eine Statistik.“

Dieser Satz findet sich in der Tat in einem Artikel Tucholskys aus dem Jahr 1925. In „Französischer Witz“ beschäftigt er sich mit mehreren neu herausgekommenen Witzsammlungen in seinem Gastland. Die gesamte Passage lautet:

Das Spezifische des französischen Witzes ist seine Leichtigkeit, seine Delikatesse, seine Eleganz. Da schreibt etwa der zurückgetretene Minister an den Staatssekretär des Post- und Telegraphenwesens eine Stunde nach seinem Sturz: „Sehr verehrter Herr Kollege! Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern …“ Die Handbewegung, mit der eine Formulierung herausgebracht wird, ist ganz locker. Es wird von den Schrecknissen des Krieges gesprochen. Darauf sagt ein Diplomat vom Quai d’Orsay: „Der Krieg? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe; aber hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!“ Die Sprache dieser Diplomaten ist eben die französische, und die Definition des Berufes heißt so: „Ein Diplomat, mein liebes Kind, ist ein Mann, der das Geburtsdatum einer Frau kennt und ihr Alter vergessen hat!“

Es ist also ganz offensichtlich, dass Tucholsky diesen zynischen Spruch nicht selbst geprägt hat. Dass dieser ebenso häufig dem sowjetischen Diktator Stalin zugeschrieben wird, dürfte Tucholsky sicherlich nicht als schmeichelhaft empfunden haben. In mehreren Untersuchungen zum Ursprung des Zitats, beispielsweise auf Quote Investigator oder bei Oxford Reference, wird Tucholsky dennoch ausdrücklich als Urheber genannt.

Das Problem an der bisherigen Quellenlage: Aus Tucholskys Text geht nicht hervor, in welcher der genannten Sammlungen sich dieser Witz befindet. Daher war eine exakte Quellenangabe bislang nicht möglich.

Über die Antiquariatsplattform ZVAB kann man jedoch an die besprochenen Bücher gelangen. Und siehe da, gleich in dem erstgenannten wird man fündig. Der Witz findet sich in: J.-W. Bienstock et Curnonsky: T.S.V.P. Petites histoires de tous et de personne. Paris: Crès 1924, S. 6f

Un soir, dans un salon mondain. Des gens dissertent sur la guerre. Un ancien combattant raconte en termes émus la mort d’un de ses amis. Une dame pleure, elle songe à son mari mort au champ d’honneur.
– La guerre est une chose terrible, unjustifiable, soupire-t-elle.
Alors, un diplomate bien connu du quai d’Orsay, qui jusque-là n’avait pas pris part à la conversation, dit avec une tranquille suffisance.
– La guerre? ce n’est pas si terrible! La mort d’un homme est en effet chose épouvantable, mais cent mille morts, c’est une statistique.

Eines Abends in einem mondänen Salon. Einige Leute unterhalten sich über den Krieg. Ein Veteran erzählt in bewegten Worten vom Tod seines Freundes. Eine Frau weint und denkt an ihren Mann, der auf dem Feld der Ehre gefallen ist.
– Der Krieg ist etwas Schreckliches, nicht zu rechtfertigen, seufzt sie.
Da sagt ein bekannter Diplomat vom Quai d’Orsay, der sich bis dahin nicht an dem Gespräch beteiligt hatte, mit ruhiger Selbstgefälligkeit.
– Der Krieg? Der ist gar nicht so schlimm! Der Tod eines Menschen ist in der Tat etwas Furchtbares, aber hunderttausend Tote, das ist eine Statistik.


Der Witz im Original.

Doch wer sind die Autoren Bienstock und Curnonsky?

Jean-Wladimir Bienstock war laut Wikipedia ein französisch-russischer Rechtsanwalt, Schriftsteller und Übersetzer. Er wurde 1868 in der Ukraine geboren und starb 1933 in Paris. Der zum Katholizismus konvertierte Jude übersetzte wichtige russische Autoren wie Tolstoi und Dostojewski ins Französische.

Hinter dem Pseudonym Curnonsky verbirgt sich Maurice Edmond Sailland (1872-1956), ein französischer Romanautor, Gastronom, Humorist und Restaurantkritiker, der zum „Prinz der Gastronomen“ avancierte.

Von wem nun Bienstock und Curnonsky den Witz aufgeschnappt oder ob sie ihn sich selbst ausgedacht haben, wird wohl für immer deren Geheimnis bleiben. Zumindest, solange keine frühere Quelle dafür auftaucht.

Erstaunlich bleibt auf jeden Fall die Tatsache, dass der Spruch in seinem Ursprungsland nicht so verbreitet ist wie im deutsch- oder englischsprachigen Raum. Der französische Jura-Professor Patrick Morvan, der sich ebenfalls mit Ursprung des Zitats beschäftigt hat, brachte dessen Irrwege wie folgt auf den Punkt:

Der Satz, der in den Augen eines frankophilen Deutschen und Liebhabers von Bonmots die Quintessenz des französischen satirischen Geistes war, landete über einen Umweg, dessen Geheimnis die Geschichte kennt, in Stalins Mund!


Umschlag des Buches.

1.2.2021

Das Plagiats-Wunder von Lourdes

Was macht man, wenn man ein Buch übersetzt hat, das außerhalb katholischer Kreise vermutlich nur wenige Leser interessiert? Ein handfester literarischer Skandal könnte aus Promotionsgründen sicher nicht schaden.

Dieser Eindruck drängt sich bei der Lektüre von Hartmut Sommers Artikel „Was haben Sie da nur gemacht, Herr Tucholsky?“ in der nicht minder katholischen „Tagespost“ auf. Darin wird Kurt Tucholsky unterstellt, aus dem Buch Les foules de Lourdes des französischen Autors Joris-Karl Huysmans abgeschrieben zu haben. Sommers Übersetzung Lourdes: Mystik und Massen ist im vergangenen Jahr erschienen.

Die Vorwürfe betreffen das Kapitel über den französischen Wallfahrtsort Lourdes in Tucholskys 1927 erschienener Reisebeschreibung Ein Pyrenäenbuch.

Sommer schreibt:

Tucholskys Biograph Rolf Hosfeld bescheinigt ihm: „Mit dem geübten Blick eines Theaterkritikers erzählt Tucholsky im Pyrenäenbuch die Dramaturgie des Wunderspektakels eines ganzen Tages.“ Doch wie lange war Tucholsky wirklich selbst dort und was hat er selbst beobachtet, muss man sich fragen. Die meisten Beschreibungen jedenfalls sind offenbar von Huysmans Lourdes-Buch übernommen, als sehr eng daran angelehnte Wiedergabe oder als sehr ähnliche Paraphrase.

Das ist harter Tobak. Wird Tucholsky nun postum des Plagiats überführt, so wie im Jahr 1904 sein Mentor und väterlicher Freund Siegfried Jacobsohn? Dieser hatte als junger Theaterkritiker wortwörtlich Passagen aus früheren Artikeln des Kritikers Alfred Gold übernommen und war deshalb von seiner Zeitung entlassen worden. Dazu würde gut passen, dass Tucholsky das Pyrenäenbuch dem Ende 1926 unerwartet gestorbenen Jacobsohn gewidmet hat.

Wer von Sommer nun eine „Smoking gun“ erwartet, um Tucholskys geistigen Diebstahl nachzuweisen, wird jedoch arg enttäuscht. Als erstes Beispiel nennt er:

Tucholsky: „Es ist eine kleine Felsgrotte, ein paar Meter tief, mit einem schmiedeeisernen Gitter. ‚Entrée‘ und ‚Sortie‘ steht daran, auf blauen Emailschildern in weißer Schrift; einen Augenblick lang zieht ein Straßenschild an meinem Auge vorüber…“
Huysmans: „Schade, dass sie [die Grotte] so organisiert ist mit ihrer eingefassten Quelle, deren Wasser in Leitungen verborgen ist wie gewöhnliches Wasser, mit ihren Gittern wie in öffentlichen Gärten und blauen Emailleschildern, vergleichbar mit denen an unseren Straßenecken, auf denen in weißer Schrift auf der einen Seite ‚Eingang‘ und auf der anderen ‚Ausgang‘ steht.“

Da haben offenbar zwei Menschen ein und denselben Ort beschrieben und dabei ähnliche Beobachtungen gemacht. Wenn Sommers Definition zutrifft, dann muss die halbe Reiseliteratur aus Plagiaten bestehen. („Vor der Mona Lisa drängeln sich in Ihrem Text auch die Menschenmassen? Plagiat!“)


Die Grotte von Massabielle.

Nach dieser Logik liefert Sommer noch eine ganze Reihe weiterer „Belege“. Alles, was sich bei Tucholsky findet und von Huysmans in ähnlicher Weise beobachtet worden war, muss folglich übernommen worden sein.

Völlig absurd wird die Beweisführung in folgendem Beispiel:

Oft gerät die Übernahme des Huysmans’schen Berichtes, der das Gesehene dem Leser bildkräftig und vieldimensional vor Augen stellt, bei Tucholsky nur noch zu einer kümmerlichen Schrumpfform. Tucholsky etwa schreibt: „Die ganze Luft riecht nach Vanille“, während uns Huysmans geradezu in das volkstümliche Treiben versetzt: „Über allem hängt der Geruch von Vanille in der Luft. Die Bergbewohner verpesten Lourdes, indem sie von morgens bis abends mit Bündeln von Vanilleschoten umhergehen, deren Essenz schon von Konditoren und Parfümeuren abgezogen wurde, die man aber betrügerisch mit einigen Tropfen Duftstoff aufgefrischt hat.“

Tucholsky hat demnach so dilettantisch von Huysmans abgeschrieben, dass die Übernahme überhaupt nichts mehr mit dem Original zu tun. Nicht einmal richtig plagiieren kann er, der „Schnell- und Vielschreiber“, wie ihn Sommer bezeichnet.

Aber warum sollte Tucholsky es überhaupt nötig gehabt haben, Huysmans‘ Schilderung zu übernehmen? Schließlich war diese schon 20 Jahre vorher, im Jahr 1906, erschienen. Da könnte sich sogar im katholischen Lourdes manches geändert haben. War Tucholsky vielleicht ein entfernter Vorläufer des Spiegel-Autors Claas Relotius, der sich preisgekrönte Reportagen ausgedacht hat, anstatt selbst zu recherchieren?

Zwangsaufenthalt wegen böser Waldschlucht

Nicht einmal Sommer dürfte bezweifeln, dass sich Tucholsky von Mitte August bis Mitte Oktober 1925 tatsächlich in den Pyrenäen und auch in Lourdes aufgehalten hat. Stattdessen liefert er eine andere Erklärung:

(…)Tucholsky fehlten offenbar eigene Eindrücke, als er nach seiner Rückkehr das „Pyrenäenbuch“ verfasste, weil er wohl wenig Lust gehabt hatte, die religiöse Atmosphäre des Wallfahrtortes zu nahe an sich herankommen zu lassen. Der authentischste Teil seines Lourdes-Kapitels ist denn auch die Beschreibung eines Besuchs der Burg mit dem volkskundlichen Museum, von dem aus man in sicherem Abstand von der Stadt und dem heiligen Bezirk auf das Prozessionstreiben dort hinabschauen kann.

Viel Zeit für Lourdes selbst blieb dann wohl nicht.

Dieser letzte Satz ist eine einzige Frechheit. Was in Hosfelds Biografie nicht enthalten ist, geht unter anderem aus einem Brief Tucholskys an Heinrich Mann vom 7. November 1925 hervor:

Ich habe zwei Monate in den Pyrenäen – einschließlich Lourdes – gesteckt – nicht ohne in einer bösen Waldschlucht mir das Schienenbein glorios aufgeschlagen zu haben – und dann haben sie mich in Lourdes operiert (ohne Wunder).

Oder auch aus dem Text „Der Reisegott Zippi“ vom März 1927:

Ich hatte mir über einer Baumwurzel ein Bein aufgeschlagen, und mußte nach Lourdes zurückfahren, um mir von einem richtigen Menschenarzt im Bein herumschneiden zu lassen. Mit der Wunderquelle hatte ich es nicht so im Sinn … Der Arzt, ein tüchtiger piksauberer Mann, schnitt, verband und packte mich für zehn Tage ins Bett.

Notgedrungen muss sich Tucholsky wegen des Sturzes in der Schlucht von Kakaouetta (beschrieben im Kapitel „Lieber Jakopp“) nicht nur wenige Tage, sondern wohl gut zwei Wochen in Lourdes aufgehalten haben. Das geht auch – kaum übersehbar – aus dem Pyrenäenbuch hervor.


Die Schlucht von Kakouetta.
Foto: Ancalagon, Lizenz: CC-by-SA 3.0

Ja, man sieht zu viel. Treibe dich vierzehn Tage in der Stadt herum, und du fühlst nie mehr nasse Augen, aber manchmal ein verdächtiges Zucken im Gesicht. (…)

Man darf nicht verweilen. Man sieht zu viel. (…)

Man sieht zu viel. Man sieht, bei längerm Aufenthalt, wie es gemacht wird, sieht am Häuschen hinter der Basilika die Aufschrift: „Hommes“ – „Femmes“ und „Cabinets Reservés“, wonach also zu schließen wäre, daß die Geistlichen, denen man sie reserviert hat, weder Männchen noch Weibchen sind …

Aber laut Sommer hat Tucholsky das alles nur abgeschrieben, weil er, der evangelisch getaufte Jude, die „religiöse Atmosphäre des Wallfahrtortes“ nicht zu nahe an sich heranlassen wollte.

Erstaunlicherweise hat Tucholsky in dem Text „Aus aller Welt“ das Pyrenäenbuch selbst als eher untypische Reiseliteratur gesehen, denn es sei

darin mehr von meiner Welt als von den Pyrenäen die Rede,

Aber nicht das ganze Buch:

nur das Kapitel über Lourdes macht eine Ausnahme. Ich konnte zum Beispiel mit den Leuten nicht baskisch sprechen – wie soll ich diesen Landstrich ganz begreifen?

Diese Sprachbarriere gab es in den zwei Wochen Lourdes hingegen nicht. Tucholsky konnte daher nicht nur Huysmans‘ Buch lesen, sondern sich in Lourdes sogar mit echten Franzosen unterhalten.

Wie kam Sommer Tucholsky auf die Schliche?

Aber wie ist Sommer dem angeblichen Plagiator Tucholsky auf die Schliche gekommen? Hat in Deutschland noch nie jemand die Schilderungen Huysmans‘ gelesen, bevor Sommer sie nun erstmals ins Deutsche übersetzt hat?

Moment mal, heißt es im Pyrenäenbuch nicht an einer Stelle:

Die Ausstattung in den Kirchen. „Aber das übersteigt die kühnsten Träume. Mit Kunst, selbst mit Kunst in ihrer niedrigsten Entartung, hat das hier überhaupt nichts zu tun. Das ist nicht einmal schlecht …“ Nein, es ist grauslich. „Das ist alles so häßlich! Wenn es wenigstens naiv wäre – aber leider: grade das ist es nicht.“ Das sagt ein Freigeist? ein frecher Aufklärichtsmann? ein Kerl, der vom Katholischen nichts versteht -? Ach, es ist J.-K. Huysmans, dessen A rebours Oscar Wilde zum Dorian Gray angeregt hat, der in den Schoß der Kirche zurückgekehrte, reuige Sünder.

Fünf Mal wird Huysmans in dem Kapitel über Lourdes erwähnt. So auch hier:

Und so vieles hiervon steht bei Huysmans. Sein Fanatismus hat ihn, den Frischbekehrten und also lächerlich Überhitzten, nicht gehindert, in Lourdes die Augen aufzumachen. Auf einen Teil der schwarzen Flecke hat er mich erst aufmerksam gemacht, und wenn ich zögerte, mir Luft zu machen, so stärkte mich ein Blick in sein Buch. Da stands noch viel schlimmer.

Vielleicht hat ihn Huysmans auch auf folgende Beobachtung aufmerksam gemacht: „Eine Verkrüppelte hat unter Glas und Rahmen die braunen Nägel aufbewahrt, die ihr durch die Hand gewachsen waren und von denen sie nun befreit ist.“ Dieses Beispiel findet sich laut Sommer auch in Huysmans Buch. Ebenso wie ein Zitat über „Engländer, die alles für sich haben wollen, die besten Plätze, die Spitze bei den Prozessionen“, das sich demnach ebenfalls bei Huysmans findet. Bei Tucholsky wird dies nicht Huysmans zugeschrieben, sondern einem unbekannten „jemand“, der sich über die Engländer beklagt.

Ob diese Klage 1925 immer noch berechtigt war? Tucholsky schreibt in seinem Text „Anglikanische Pastöre“:

Ich habe sie im Zug nach Lourdes gesehen und auf vielen Bildern: die glatten Ledergesichter der Hagern, wie Fußball-Champions, und die guten, onkelhaften der Dicken – ja, sie hatten diese schwarzen Röcke an, es waren wohl Geistliche, Alles, was recht ist … aber es waren keine

Sommer sind die vielen Erwähnungen von Huysmans‘ Buch durch Tucholsky natürlich nicht entgangen. Er sieht sie jedoch allesamt als Beleg dafür, dass der „Agnostiker“ Tucholsky auch den Rest seiner Eindrücke übernommen haben muss.

Unbelegte Rufschädigung

Was bleibt also von Vorwürfen übrig?

Wie Tucholsky selbst bemerkte, hat er sich damals Lourdes auch mit den Augen Huysmans angeschaut. So wie sich Abertausende deutscher Touristen das schwedische Schloss Gripsholm mit den Augen Tucholsky angeschaut haben mögen.

Er fand Huysmans‘ Buch sogar so lesenswert, dass er ein Exemplar im Jahr 1927 seiner Geliebten Lisa Matthias schenkte.

Tucholsky zu unterstellen, er habe sich Lourdes aus Zeitgründen und religiöser Ignoranz gar nicht richtig angesehen, um stattdessen aus Les foules de Lourdes abzuschreiben, ist aber eine durch nichts belegte Rufschädigung. Wäre Tucholsky noch am Leben, wäre eine Gegendarstellung in der „Tagespost“ wohl das Mindeste, das er durchsetzen würde.

Absurd auch der Versuch Sommers, Tucholsky eine Scheinheiligkeit im Umgang mit tatsächlichen Plagiaten nachzuweisen. Denn Tucholsky habe er der Schriftstellerin Irmgard Keun unterstellt, in ihrem Roman Das kunstseidene Mädchen den „Ton“ eines anderen Romans imitiert zu haben. Abgesehen davon, dass Tucholsky gerade nicht versucht hat, den „bildkräftigen und vieldimensionalen“ Stil Huysmans nachzuahmen, muss man ihn beim Thema Plagiat an den Maßstäben messen, die er im Falle Bertolt Brechts angelegt hat.

So heißt es im Artikel „Die Anhängewagen“ vom Mai 1929:

Ich bin kein Plagiatschnüffler; ich weiß, wie halb verwehte Klänge haften, wie einem Erinnerungen aufsitzen, wie man unbewußt plagiieren kann … aber weil ich es weiß, passe ich auf. Zu denken, daß sich unsereiner quält, wegläßt, weil vielleicht diese Zeile zu sehr an eine von Mehring erinnert – ich habe den größten Respekt vor geistigem Eigentum, und eine ebenso große Verachtung literarischer Einbrecher.

Der Plagiatschnüffler Sommer ist bei Tucholsky offensichtlich auf eine falsche Fährte gestoßen. Vielleicht hätte er sich vor der Abfassung des Artikels besser diesen Artikel der „Tagespost“ durchgelesen.

5.1.2015

Die Rettung des Schwejk

Kurt Tucholsky gehörte zu den frühen deutschsprachigen Fans des Schwejk, den er in Auszügen schon in einer Humoranthologie Roda Rodas (Band 6) entdeckt hatte:

Hervorzuheben die kleine Erzählung eines Tschechen: Hascheks, ich habe den Namen nie gehört. Sie ist das Muster einer politischen Satire, von einer Bitterkeit, die doppelt wirkt, weil sie eingemummelt ist in sanfte Blödheit, die scheinbar von nichts nicht weiß. Was ist das für ein Mann -?

schrieb er im Dezember 1925 in der Weltbühne. Hätte Tucholsky das Konkurrenzblatt Tagebuch gelesen, wäre ihm 1923 vielleicht schon der Nachruf Egon Erwin Kischs auf den früh gestorbenen Schwejk-Erfinder Jaroslav Haschek aufgefallen. So aber stellte ein Weltbühne-Leser den Autor und dessen Hauptwerk im April 1926 mit den Worten vor:

Seit Jahrzehnten ist kein tschechisches Buch so gelesen und so gekauft worden. Es ist kaum zu übersetzen, und das ist schade. Denn aus diesem Buch kann man den Krieg kennen lernen, wie er wirklich gewesen ist. Karel [sic] Haschek war ein Vollblut-Tscheche und eine Vollblut-Europäer.

in: »Antworten«: Peter Panter, Die Weltbühne, 6.4.1926, S. 557 f.

Richtig populär wurde der »brave Soldat« auch in Deutschland, als der erste von vier Bänden übersetzt wurden. Die Übersetzerin Grete Reiner hatte ihr Werk zuvor schon den Lesern der Weltbühne angekündigt und sehr selbstbewusst der Einschätzung des zitierten Lesers widersprochen:

Der Schreiber dieser begeisterten Zeilen hat nur zum Teil recht, nämlich in Bezug auf die einzigartige Bedeutung dieses Werkes. Dagegen irrt er ein wenig, wenn er dieses köstliche Buch für unübersetzbar hält und bedauert, dass es dem deutschen Publikum dauernd entzogen bleiben soll. Ich habe es übersetzt und soeben im Verlag A. Synek zu Prag erscheinen lassen.

in: »Antworten«: Grete Reiner in Prag, Die Weltbühne, 27.4.1926, S. 676

Keine Frage, dass sich Tucholsky alias Peter Panter sogleich auf die Übersetzung stürzte und sie wenige Wochen später ausführlich rezensierte.

Obwohl er kein Tschechisch konnte, war er von der Leistung Reiners nicht überzeugt:

Das Buch ist aus dem Tschechischen ins Deutsche übertragen worden – soweit ich das beurteilen kann, nicht sehr glücklich. Vielleicht ist es gut übersetzt, aber der Eindruck dieses Jargons, den Schwejk spricht, ist nicht lustig. Seine Grammatik ist farblos und steht in gar keinem Verhältnis zu den herrlichen Sachen, die er zusammenphilosophiert – man ahnt, was einem da Alles verloren gegangen sein mag. Ich gebe zu: dergleichen überträgt sich nicht. »Du bist woll mit de Muffe jebufft?« heißt nicht: »Hat Sie Jemand unsanft mit einem Pelzmuff angerührt?« – sondern etwas anders. Und das bleibt freilich am Bodensatz des Dialekts kleben, es kommt nicht herauf, und hier steckt die Tragik des Buches.

Auch den zweiten Band nahm er sich direkt nach dem Erscheinen vor. Darin kanzelte er Reiner noch schärfer ab:

Gott weiß, was uns durch diese unmögliche Übersetzung verloren geht – aber es bleibt noch genug.

Dieses »genug« reichte immerhin aus, dass bis vor kurzem keine weitere deutsche Übersetzung des Schwejk gegeben hat.

Ein Makel, den nun der 1962 in Prag geborene Übersetzer Antonín Brousek beseitigt hat. Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg sind zwar schon im vergangenen Jahr bei Reclam erschienen, werden aber weiterhin fleißig in den Feuilletons besprochen. Darin geht es unter anderem um die Frage, wie »kongenial« Reiners Übersetzung war, oder, besser gesagt, wie sehr sie das Werk verfremdete und umdeutete. Reiner ließ den Schwejk »böhmakeln«, laut Wikipedia ein »gesprochenes Deutsch mit auffallendem ›böhmischen‹ Akzent«. Als deutscher Leser nimmt man nun mit Erstaunen zur Kenntnis, dass eine solche Sprechweise überhaupt nicht dem Original entspricht. Mit den Worten Brouseks:

Grete Reiner hat sich mit ihrem »Böhmakeln« etwas Neues ausgedacht. Dabei hat sie das Buch nicht übersetzt, sondern interpretiert und umgeschrieben und damit ein eigenständiges Werk geschaffen. Das bedeutet, die deutsche Fassung entsprach nicht nur nicht der tschechischen, sondern war auch noch eine eigenständige neue Interpretation, die mit dem Original nur bedingt etwas gemeinsam hat. […]

Hašeks Roman ist im Original in einem modernen Umgangstschechisch geschrieben. Es musste also ein modernes Umgangsdeutsch her. Das Buch enthält teilweise altertümelnde Begriffe, aber in der Regel reden alle Leute völlig normal. Das heißt, es ist genau umgekehrt zu Grete Reiner. […]

Alle Dialoge sind in einem normalen Umgangstschechisch verfasst, das auch »Schwejk« spricht. Die einzigen, die im Roman komisch sprechen, sind die Deutschen, denn diese können kein richtiges Tschechisch – und sobald sie versuchen Tschechisch zu sprechen, hört sich dies lächerlich an.

Brousek gibt im Interview mit Radio Prag der Kritik Tucholskys an der merkwürdigen Sprache der Protagonisten ausdrücklich recht:

Ich finde es erstaunlich, dass Tucholsky damals fast als Einziger dies bemerkte, obwohl er kein Tschechisch sprach. Den meisten gefiel Reiners Übersetzung bei der Veröffentlichung. Bert Brecht fand die Übersetzung beispielsweise urkomisch. Doch Kurt Tucholsky hat es richtig beschrieben, die Übersetzung ist in gewissem Sinne »unmöglich«.

Gut möglich ist aber, dass Reiner auch inhaltlich in den Roman eingriff. So schimpft Schwejk bei Brousek über die Deutschen: »Das sind solche Drecksäcke, wie sonst keiner auf der Welt.« Diese Passage zu Beginn des Buches findet sich bei Reiner nicht, wie die Berliner Zeitung kritisch bemerkt:

Bisher war dieser Satz, gesprochen zum Auftakt des Romans im Wirtshaus Zum Kelch, allen Lesern des Svejk bekannt – nur den titulierten Drecksäcken nicht. Denn in der einzigen deutschen Übertragung des Romans von 1926 und sämtlichen Neuauflagen fehlen diese Worte.

Kein Wunder, dass die Rezensenten die neue Übersetzung als »bahnbrechend« (Berliner Zeitung) und »überfällige Rettung eines modernen Klassikers aus dem K.-u.-k.-Komödienstadel« (Tagesspiegel) loben.

Umso besser, dass Brousek die Lorbeeren für sein Werk noch zu Lebzeiten ernten kann. Nicht nur die Schwäbische Zeitung hat ihn mit einem Namensvetter verwechselt und bereits 2013 sterben lassen. Auch der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek schreibt dem gleichnamigen Dichter und Literaturkritiker Brousek die neue Schwejk-Übersetzung zu. Wie quicklebendig der Übersetzer und laut Reclam in Berlin lebende Richter Brousek ist, zeigte er auch auf einer Lesung während der Leipziger Buchmesse 2014.

17.6.2014

too-HOLE-skee spricht Englisch

Viel zu lange ist an dieser Stelle schon versäumt worden, auf die neuen englischsprachigen Tucholsky-Ausgaben aus dem Berlinica-Verlag von Eva C. Schweitzer hinzuweisen. Im vergangenen Jahr erschien bereits der umfangreiche Band Berlin! Berlin! Dispatches from the Weimar Republic, der zahlreiche Texte Tucholskys nebst biografischen Erläuterungen und vielen zeitgeschichtlichen Fotos enthält. Zuletzt ließ Schweitzer noch Rheinsberg übersetzen, Tucholskys „Bilderbuch für Verliebte“, das ihn vor 100 Jahren in der Literaturwelt bekanntmachte.

Dass Tucholsky in der englischsprachigen Welt nahezu unbekannt ist, mag sicher auch am Mangel an Übersetzungen liegen. Die von Harry Zohn herausgegebenen Ausgaben liegen schon Jahrzehnte zurück. What if – ?; Satirical writings of Kurt Tucholsky stammt aus dem Jahr 1967, das Deutschland-Buch wurde 1972 übersetzt. Der Sammelband »Germany? Germany«: a Kurt Tucholsky Reader erschien 1990.

Die neuen Ausgaben des Berlinica-Verlages haben sogar das Interesse der New York Times geweckt. Anfang Juni porträtierte William Grimes unter der Überschrift »Giving a Satirist of the Third Reich the Last Laugh« den Schriftsteller, der 1936 in dem renommierten Blatt immerhin einen Nachruf erhalten hatte. Grimes stellt Tucholsky seinen Lesern wie folgt vor:

In Weimar Germany, Tucholsky (pronounced too-HOLE-skee) was big, the most brilliant, prolific and witty cultural journalist of his time. He remains big in Germany, a widely read author, with sales in the millions. In the English-speaking world, however, he barely exists.

Es bleibt zu hoffen, dass sich Letzteres aufgrund der beiden Bände ein wenig ändert. Dass Tucholskys Sprache durch eine Übersetzung einiges an ihrer Wirkung verliert, lässt sich wohl nicht vermeiden. Aber zumindest scheint die Übersetzerin Cindy Opitz den Ton gut getroffen zu haben. Tucholsky-Fan Fred Roberts, der selbst ein Blog mit Übersetzungen betreibt, schrieb über Berlin! Berlin!:

Cindy Opitz hat ins zeitgenössische Englisch übersetzt, aber ich hatte das Gefühl, dass die Gedanken exakt wie die von Tucholsky klangen. Dies ist das erste Mal, dass ich ihn nicht auf Deutsch gelesen haben. Kompliment an Cindy Opitz. Es ist nicht einfach, Tucholsky auf Englisch zu artikulieren.

Um Tucholsky für die amerikanischen Leser literarisch einordnen zu können, vergleicht die New York Times ihn zum einen mit dem Humoristen Robert Benchley, zum anderen mit dem Satiriker H. L. Mencken.

Jemand, der wie Tucholsky gleich »mit 5 PS« schrieb, gab es aber selbst in den USA offenbar nicht.

18.11.2013

»Still, wie eine Jungfrau im achten Monat« – Unbekannter Tucholsky-Brief entdeckt

Es kommt nur sehr selten vor, dass fast 80 Jahre nach dem Tod Tucholskys unbekannte Briefe aus der Maschine des manischen Briefschreibers auftauchen. Doch gelegentlich werden solche raren Exemplare auf irgendeinem Dachboden wieder hervorgekramt. So auch im Falle von Jørn Dietrich. Dieser entdeckte im Nachlass seines Großvaters Alfred Dietrich einen Brief, den Tucholsky am 23. Juni 1927 während seines Aufenthaltes im dänischen Mogenstrup Kro getippt hatte. Der Brief ist zweifellos ein echter Tucholsky:

Hier ist es ganz still, der Wirt spricht so wenig Deutsch, dass meine Konversation auf das erfreulichste eingerostet ist, und ich arbeite vor mich hin und gehe im Wald spazieren und lebe still, wie eine Jungfrau im achten Monat.

Zugleich beantwortet der Brief einige Fragen, die Tucholskys Aufenthalte in Kopenhagen betreffen und klärt die Identität einer Person, die in einem anderen Brief erwähnt wurde. Ein Fund, der sich für die Tucholsky-Forschung gelohnt hat.

Der Briefadressat war damals Presseattaché der deutschen Botschaft in der dänischen Hauptstadt. Tucholsky hatte ihn wohl zu einem Essen eingeladen, um über ihn Kontakte zu prominenten dänischen Literaten und Politikern zu knüpfen. Das geht aus einem »Kassensturz« vom 13. Juni 1927 hervor, den er einem Brief an seine Frau Mary Tucholsky beilegte.

Hotel 140 Kronen (Dabei ein unverschämt hoher
Gepäcktransport von Terminus.)
Gepäck 15
Marken 45
Papier 15
Diverses 30
Whisky 10
Bücher 20
eine Pfeife 15
Essen mit
Dietrich 30

steht dort notiert. In der Tucholsky-Gesamtausgabe (Band 18, S. 627) heißt es noch zu Dietrich: »Nicht identifiziert.«

Auch wenn Tucholsky sich in dem Brief bitterlich beklagte, wohin seine ansehnlichen Honorare verschwunden sind (»Es sieht ja schrecklich mit dem Geld aus, und ich möchte nur wissen, wie das gekommen ist«). Die 30 Kronen für das Essen mit Dietrich waren offenbar gut angelegt. Denn in dem Schreiben an den Diplomaten bedankt er sich sehr artig «für alle Freundlichkeiten«, mit denen Dietrich ihm »wirklich ganz besonders nett weitergeholfen« habe. Ob dies der einzige Kontakt zwischen dem umherreisenden Schriftsteller und dem Presseattaché war, geht aus den überlieferten Texten und Briefen Tucholskys nicht hervor. Wobei er sich bei Dietrich mit dem Satz verabschiedete: »Sollte ich in Kopenhagen noch einmal Station machen, melde ich mich natürlich.«

Weitere Begegnungen sind durchaus wahrscheinlich. Es ist dazu sehr aufschlussreich, sich das Leben Dietrichs genauer anzuschauen. Denn in vieler Hinsicht ist es typisch für die Karriere eines linken Intellektuellen in den Wirren von Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nachkriegsepoche. Eine gute Quelle dafür ist ein Lebenslauf, den Dietrich nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb, um als »Opfer des Faschismus« anerkannt zu werden.

Karl Wilhelm Alfred Dietrich wurde demnach am 1. September 1878 in Spremberg in der Niederlausitz geboren. Der Sohn eines Seilermeisters sollte nach dem Willen seines Vaters evangelischer Geistlicher werden, was Dietrich jedoch ablehnte, so dass er nur die Volksschule absolvierte. Mit 14 Jahren kam er zum Spremberger Anzeiger, wo er zum Setzer und Stenografen ausgebildet wurde. Mit 18 wurde er Redaktionsgehilfe beim Niederlausitzer Anzeiger in Finsterwalde. Von dort zog er nach Bremen, wo er bei der Weser-Zeitung sechs Jahre lang als Redakteur arbeitete. In Bremen lernte er auch den späteren Reichspräsidenten Friedrich Ebert kennen, mit dem ihm eine »warme Freundschaft“ verband, wie Dietrich in dem Lebenslauf schreibt. Zum Jahreswechsel 1904 ging Dietrich nach Kopenhagen, wo er 40 Jahre seines Lebens verbringen sollte. Bis nach Ende des Ersten Weltkrieges arbeitete er dort als Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien, darunter das offiziöse Nachrichtenbüro WTB, die Kölnische Zeitung und das Hamburger Fremdenblatt. Nach der Novemberrevolution zahlten sich die alten Verbindungen zur SPD und insbesondere zu Ebert aus. Dietrich wurde 1919 Leiter der Presse- und Kulturabteilung der deutschen Gesandtschaft in Kopenhagen und behielt diesen Posten bis zum 1. Oktober 1934.

In diesen 15 Jahren machte er die Bekanntschaft mit vielen »bedeutenden Persönlichkeiten«, wie in dem Lebenslauf schreibt. Zu den ersten Bekanntschaften zählte einer der Fliegerhelden des Ersten Weltkrieges, der nach der Abrüstung der Reichswehr als Militärberater nach Dänemark gegangen war. Der spätere Nazi-Bonze und Reichsmarschall Hermann Göring habe am meisten als »Schürzenjäger, Säufer und Morphinist« von sich reden gemacht, schreibt Dietrich. Ein Teil seiner Dienstzeit sei damit draufgegangen, Görings »zahlreiche Gläubiger zu beruhigen«. Dass Göring schon vor dem Münchner Putsch von 1923 Morphinist gewesen sein soll, widerspricht historischen Darstellungen. Er soll sich aber bereits im Ersten Weltkrieg mit Kokain aufgeputscht haben und nahm die Droge vielleicht auch in Kopenhagen. Die Bekanntschaft mit Göring sollte Dietrich aber noch einmal aus einer prekären Situation helfen.

Solange Dietrich noch als Presseattaché wirkte, lernte er zahlreiche deutsche und dänische Literaten kennen. »Ich nenne hierbei besonders Max Reinhardt, Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Emil Ludwig, Kurt Tucholski [sic], ferner Einstein, Thälmann und Scheidemann …« Auch mit dem dänischen Ministerpräsidenten Thorvald Stauning sowie den Schriftstellern Martin Andersen Nexø und Georges Brandes hätten ihn »eine viele Jahre währende Freundschaft« verbunden. Es wundert nicht, dass die Nazis nach ihrer Machtübernahme den sozialdemokratischen Diplomaten auf Linie bringen wollten. Dietrich musste nach eigenen Angaben bei Propagandaminister Joseph Goebbels in Berlin zum Rapport, weigerte sich jedoch, der NSDAP beizutreten.

Eine persönliche Aussprach mit Goebbels hierüber, die der damalige Außenminister v. Neurath vermittelt hatte, und die im Auswärtigen Amt in Berlin stattfand, verlief ausserordentlich heftig, aber vollkommen ergebnislos. U.A. machte Goebbels mir zum Vorwurf, dass ich immer von einer »Partei« spräche, während es sich doch jetzt um eine Weltanschauung handele, worauf ich ihm erwidern konnte, dass er mich ja selbst aufgefordert habe, in die Partei einzutreten. Mit blutrotem Kopf fuhr er mich hierauf an, dass er sich eine derartige »Anpöbelung« verbäte.

Am 1. Oktober 1934 verlor Dietrich seinen Posten und fand in Kopenhagen nach Darstellung seines Enkels jahrelang keinen Job, was auch mit seiner Nazi-kritischer Haltung zusammengehangen haben könnte. Dietrich selbst behauptet hingegen, schon im April 1935 als Schriftleiter bei der Zeitung Licitationen angefangen zu haben. Auch in anderer Hinsicht flunkert Dietrich in seinem Lebenslauf ein wenig. Während er schreibt, seine Ehe sei 1935 geschieden worden, weil seine Frau ihm die ablehnende Haltung gegenüber den Nazis nicht habe verzeihen können, sieht das seine Familie anders. Der Diplomat sei immer schon seiner Frau untreu gewesen und habe das auch in den dreißiger Jahren fortgesetzt, was schließlich zum Bruch geführt habe.

Glaubhaft hingegen scheint, dass Dietrich sich aktiv für Flüchtlinge und durchreisende Regimegegner einsetzte: »Ernst Toller und Kurt Tucholski und andere haben bei mir vorübergehend Unterkunft erhalten«, schreibt er, wobei in diesem Fall unklar ist, ob Kopenhagen für Tucholsky weiterhin als Durchreisestation diente oder er auf dem Weg in die Schweiz nicht gleich per Schiff von Schweden nach den Niederlanden oder Belgien gefahren ist.

Die Geheime Staatspolizei beobachtete Dietrich auch nach seiner Entlassung aus dem diplomatischen Dienst und notierte Hitler-kritische Reden in der Öffentlichkeit. Anderthalb Jahre nach der Besetzung Dänemarks durch deutsche Truppen wurde er von der Gestapo in Dänemark verhaftet. Am 9. November 1941 brachten ihn zwei Beamte nach Deutschland, wo er schließlich im berüchtigten Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz landete. »Vollkommen überrascht« sei er gewesen, als er im April 1942 entlassen worden sei. Dahinter steckte offenbar ein Besuch seiner Tochter bei Göring, die den damaligen Reichsmarschall daran erinnerte, wie ihr Vater ihn 1920 in sturzbetrunkenem Zustand und ohne Geld aus einer Bar mit nach Hause genommen hatte. Zwar habe Göring behauptet, im Gegensatz zu Goebbels nichts für Dietrich tun zu können, doch die plötzliche Entlassung dürfte sicherlich in einem Zusammenhang mit dem Besuch gestanden haben.

Dietrich durfte Berlin nicht verlassen. Ausgebombt und nervenkrank überstand er das Ende des Krieges in der Berliner Charité. Im September 1945 heiratete er seine zweite Frau Emma. Nach dem Krieg arbeitete er für den Berliner Magistrat unter den Bürgermeistern Louise Schroeder und Ernst Reuter. Wie aus dem abgebildeten Ausweis hervorgeht, wurde er als »Opfer des Faschismus« anerkannt. Am 27. Oktober 1951 starb er im Alter von 73 Jahren und wurde auf dem St. Thomas-Friedhof in Neukölln beerdigt. Postum erhielt er 1953 eine Entschädigung von 1.395 D-Mark für 279 Tage Freiheitsentzug in der NS-Zeit. Seine Witwe erhielt 1964 eine Entschädigungssumme von 25.000 D-Mark, die Dietrich offenbar als Opfer des NS-Regimes zustand.

Wann und wie er Tucholsky zum letzten Mal gesehen hatte, ist nicht bekannt. Im April 1931 wurde Tucholsky in Kopenhagen an der Nase operiert. Ende Juni 1934 war er zum letzten Mal nach Schweden eingereist – dabei aber vermutlich mit dem Schiff von Amsterdam nach Göteborg gefahren. Solche und viele weitere Details von Tucholskys Leben sind noch ungeklärt. Aber vielleicht findet sich mal wieder ein verschollener Brief auf einem Dachboden, der für neue Erkenntnisse sorgt.

22.2.2012

»Wo Tucholsky unrecht hatte«

… schrieb die Süddeutsche Zeitung heute provokant als Titel über einen ihrer Artikel. Worum geht’s? Sind Soldaten doch keine Mörder? Die Sozialdemokraten doch eine Arbeiterpartei? Die Deutschen doch zu einer richtigen Revolution fähig? Weit gefehlt. In dem Text würdigt Wolfgang Koydl den im Alter von 81 Jahren gestorbenen SZ-Auslandskorrespondenten Carl E. Buchalla. Darin heißt es:

Kurt Tucholsky unterstellte Auslandskorrespondenten einmal, dass sie fremde Nationen »nicht erkennen, sondern durchschauen«, sie gleichsam auf frischer Tat ertappen wollten. Doch Tucholsky hatte nie eine Reportage von buc. gelesen. Carl Buchalla erkannte seine Pappenheimer und er kannte sie gut – die Serben und die Saudis, die Albaner und die Ägypter.

Nun hat Tucholsky sich in der Tat mehrfach kritisch über die Arbeit deutscher Auslandskorrespondenten geäußert. Am ausführlichsten in den Texten »Auslandskorrespondenten« oder »Auslandsberichte«. Koydls Zitat bezieht sich aber wohl auf Tucholskys kurze Bemerkung in der Aphorismensammlung »So verschieden ist es im menschlichen Leben!« von 1931:

Es gibt Auslandskorrespondenten, die wollen die fremden Völker, zu denen man sie geschickt hat, nicht erkennen. Sie wollen sie durchschauen.

Hm. Was sich bei Koydl wie nach einer pauschalen Korrespondentenschelte anhört, klingt im Original längst nicht so verallgemeinernd. Im Gegenteil. Insofern hätte Tucholsky in Buchalla, wenn er ihn je hätte lesen können, vermutlich nicht die rühmliche Ausnahme unter seinen Journalisten-Kollegen gesehen. Womit er am Ende natürlich doch nicht unrecht hatte.

11.8.2011

Schloß Gripsholm und das Rätsel des Polysandrions

Es ist 80 Jahre her, dass Tucholsky seine Sommergeschichte Schloß Gripsholm veröffentlichte. Seine Leser führte er darin in mancher Hinsicht an der Nase herum. Der Briefwechsel mit Verleger Rowohlt? Glatt erfunden. Übernachtung im Schloss? Dichterische Freiheit. Und seine Prinzessin, die Sekretärin Lydia? Die gebe es »nun aber gar nicht«, schrieb Tucholsky einst an einen Leser und schob seufzend hinterher: »Ja, es ist sehr schade.« Eine Episode jedoch, die der reinen Fantasie des Autors entsprungen zu sein schien, ist aber viel realer als jahrzehntelang geglaubt. Auf der Fahrt nach Schweden machten die Prinzessin und Tucholsky alias Daddy Station in Kopenhagen, wo er plötzlich einen Einfall hatte:

»Lydia!« rief ich, »Lydia! Beinah hätt ich es vergessen! Wir müssen uns das Polysandrion ansehn!« – »Das … was?« – »Das Polysandrion! Das mußt du sehn. Komm mit.« Es war ein langer Spaziergang, denn dieses kleine Museum lag weit draußen vor der Stadt.
»Was ist das?« fragte die Prinzessin.
»Du wirst ja sehn«, sagte ich.

Es ist schwer zu sagen, wie viele der Millionen Gripsholm-Leser sich in Kopenhagen schon auf die Spur des Polysandrions begeben haben. Fündig geworden ist dort niemand. Selbst im Kommentar der Gesamtausgabe, Band 14, heißt es nur lapidar: »Dazu nichts ermittelt.« Dabei hat Tucholsky selbst schon einige Andeutungen gemacht, was es mit Haus auf sich hat und wo das merkwürdige Gebäude zu finden sein sollte.

»Da haben sich zwei Balten ein Haus gebaut. Und der eine, Polysander von Kuckers zu Tiesenhausen, ein baltischer Baron, vermeint, malen zu können. Das kann er aber nicht.« – »Und deshalb gehn wir soweit?« – »Nein, deshalb nicht. Er kann also nicht malen, malt aber doch – und zwar malt er immerzu dasselbe, seine Jugendträume: Jünglinge … und vor allem Schmetterlinge.« – »Ja, darf er denn das?« fragte die Prinzessin. »Frag ihn … er wird da sein. Wenn er sich nicht zeigt, dann erklärt uns sein Freund die ganze Historie. Denn erklärt muß sie werden. Es ist wundervoll.« – »Ist es denn wenigstens unanständig?« – »Führte ich dich dann hin, mein schwarzes Glück?«

Da stand die kleine Villa – sie war nicht schön und paßte auch gar nicht in den Norden; man hätte sie viel eher im Süden, in Oberitalien oder dortherum vermutet … Wir traten ein.

»Oberitalien« ist schon ganz gut. Aber »dortherum« passt noch besser. Denn das reale Vorbild der Lydia, Tucholskys Geliebte Lisa Matthias, besaß ein Ferienhaus im Schweizer Kanton Tessin. Mehrere Male hielten sich die beiden dort in Lugano auf. Zudem verbrachte Tucholsky im Sommer 1930 einige Wochen in Locarno und Brissago. Genug Gelegenheit, das wirkliche Polysandrion kennenzulernen. In Gripsholm beschreibt er es als ein künstlerisches Kuriosum:

Die Prinzessin machte große Kulleraugen, und ich sah das Polysandrion zum zweiten Mal.

Hier war ein Traum Wahrheit geworden – Gott behüte uns davor! Der brave Polysander hatte etwa vierzig Quadratkilometer teurer Leinwand voll gemalt, und da standen und ruhten nun die Jünglinge, da schwebten und tanzten sie, und es war immer derselbe, immer derselbe. Blaßrosa, blau und gelb; vorn waren die Jünglinge, und hinten war die Perspektive.

»Die Schmetterlinge!« rief Lydia und faßte meine Hand. »Ich flehe dich an«, sagte ich, »nicht so laut! Hinter uns kriecht die Aufwärterin herum, und die erzählt nachher alles dem Herrn Maler. Wir wollen ihm doch nicht weh tun.« Wirklich: die Schmetterlinge. Sie gaukelten in der gemalten Luft, sie hatten sich auf die runden Schultern der Jünglinge gesetzt, und während wir bisher geglaubt hatten, Schmetterlinge ruhten am liebsten auf Blüten, so erwies sich das nun als ein Irrtum: diese hier saßen den Jünglingen mit Vorliebe auf dem Popo. Es war sehr lyrisch.

»Nun bitte ich dich …«, sagte die Prinzessin. »Still!« sagte ich. »Der Freund!« Es erschien der Freund des Malers, ein ältlicher, sympathisch aussehender Mann; er war bravbürgerlich angezogen, doch schien es, als verachtete er die grauen Kleider unsres grauen Jahrhunderts, und der Anzug vergalt ihm das. Er sah aus wie ein Ephebe a.D. Murmelnd stellte er sich vor und begann zu erklären. Vor einem Jüngling, der stramm mit Schwert und Schmetterling dastand und die Rechte wie zum Gruß an sein Haupt gelegt hatte, sprach der Freund in schönstem baltischem Tonfall, singend und mit allen rollenden Rrrs: »Was Sie hier sehn, ist der völlich verjäistichte Militarrismus!« Ich wendete mich ab – vor Erschütterung. Und wir sahen tanzende Knaben, sie trugen Matrosenanzüge mit Klappkragen, und ihnen zu Häupten hing eine kleine Lampe mit Bommelfransen, solch eine, wie sie in den Korridoren hängen –: ein möbliertes Gefilde der Seligen. Hier war ein Paradies aufgeblüht, von dem so viele Seelenfreunde des Malers ein Eckchen in der Seele trugen; ob es nun die ungerechte Verfolgung war oder was immer: wenn sie schwärmten, dann schwärmten sie in sanftem Himmelblau, sozusagen blausa. Und taten sich sehr viel darauf zu gute. Und an einer Wand hing die Photographie des Künstlers aus seiner italienischen Zeit; er war nur mit Sandalen und einem Hoihotoho-Speer bekleidet. Man trug also Bauch in Capri.

»Da bleibt einem ja die Luft weg!« sagte die Prinzessin, als wir draußen waren. »Die sind doch keineswegs alle so …?« – »Nein, die Gattung darf man das nicht entgelten lassen. Das Haus ist ein stehen gebliebenes Plüschsofa aus den neunziger Jahren; keineswegs sind sie alle so. Der Mann hätte seine Schokoladenbildchen gradesogut mit kleinen Feen und Gnomen bevölkern können … Aber denk dir nur mal ein ganzes Museum mit solch realisierten Wunschträumen – das müßte schön sein!«
»Und dann ist es so … blutärmlich!« sagte die Prinzessin. »Na, jeder sein eigner Unterleib! Und daraufhin wollen wir wohl einen Schnaps trinken!« Das taten wir.

Um den Erhalt des »Polysandrions« kümmert sich unter anderem der Schweizer Kunsthistoriker Rolf Thalmann. Er machte die Tucholsky-Gesellschaft auf das Museum aufmerksam, – und um das Rätsel endlich aufzulösen – das eigentlich »Sanctuarium Artis Elisarion« heißt. Thalmann schreibt:

In Wirklichkeit stand dieses Gebäude in Minusio bei Locarno im schweizerischen Kanton Tessin, und Tucholsky hat es nach mindestens mündlicher Überlieferung zweimal besucht, bevor er es in seiner Sommergeschichte »würdigte«. Die Erbauer waren tatsächlich zwei Balten, Elisàr von Kupffer (1872–1942), von dem die Bilder stammten, und Eduard von Mayer (1873–1960).

Nach längerer Pause soll das »Centro d’arte Elisarion« neu belebt werden. Den Auftakt bildet diesen Herbst eine Ausstellung des fotografischen Nachlasses der beiden Besitzer, der mit Hilfe verschiedener Organisationen gesichert worden ist. Er dokumentiert gleichzeitig den ursprünglichen Zustand des 1926 eröffneten Hauses, in dem das bereits 1924 gemalte Rundbild »Klarwelt der Seligen« eingebaut wurde. Die Ausstellung wird am 16. September eröffnet.
Wer sich bereits vorher über das Vorbild des Polysandrions orientieren will, dem stehen zwei hervorragende Quellen zur Verfügung:
– ein Buch von Fabio Ricci: Ritter, Tod & Eros. Die Kunst Elisàr von Kupffers (1872-1942), Köln Weimar Wien (Böhlau) 2007
– die Website www.elisarion.ch

Nachdem nun geklärt ist, wo sich das ominöse Polysandrion befindet, stellen sich weitere Fragen: Warum hat Tucholsky dieses Gebäude so verfremdet? Und warum hat er die Beschreibung in Schloß Gripsholm verwertet und nicht in einem Text in der Weltbühne oder anderen Medien?

Eine Erklärung könnte sein: Tucholsky fand das Ganze künstlerisch genauso despektierlich, wie er es beschrieben hat. Aber er wollte die Maler und deren Homosexualität nicht bloßstellen und verschlüsselte daher ihre Identität. Dies wäre natürlich in einem Zeitschriftenbeitrag nicht so leicht möglich gewesen. Und seine zeitgenössischen Leser? Konnte Tucholsky erwarten, dass sie seine Anspielungen verstanden? Vermutlich nicht. In der Weltbühne werden Kupffer und sein Elisarion nie erwähnt, in der Vossischen Zeitung nur einmal. Dort hieß es am 7. März 1931 über ihn:

Elisarion sei ein streng logischer Kosmo-Lyriker, dessen Gedichte an die leidende Menschheit, dessen Schau des verklärten Seins, dessen Drama »Feuer im Osten«, dessen Lebenswerk »die Klarwelt der Seligen« uns neue Offenbarungen über die kosmischen Jahreszeiten des Menschentums bringen sollen, indem sie Kraft des Mannes mit Anmut des Weibes vereinigen.

Vermutlich verstanden wenige Eingeweihte, wer mit »Polysander von Kuckers zu Tiesenhausen« gemeint war. Die anderen irrten stunden- oder tagelang durch Kopenhagen auf der Suche nach einem Museum, das gar nicht in den Norden passte.

2.2.2011

Massives Gedenken

Tucholsky hat im Laufe seines Lebens an vielen unterschiedlichen Orten gelebt. Mal kürzer, mal länger. Eine sehr langlebige Erinnerung an sein Wirken und seine Aufenthalte sind hingegen die Gedenktafeln, die in mehreren Ländern Europas zu Ehren Tucholskys hängen. Allein in Berlin gibt es vier davon.

Ende vergangenen Jahres ist eine weitere hinzugekommen. Am 21. Dezember, Tucholskys 75. Todestag, stellte die Deutsche Botschaft in Stockholm an dessen Grab in Mariefred eine Tafel auf. Einen kleinen Überblick über die unterschiedlichen Gedenktafeln gibt die folgende Diashow. Nur Paris sollte sich beeilen, auch mal in diese Sammlung zu kommen.

30.9.2010

Unterwegs in einem langen Land

»Schweden – das ist ja ein langes Land.« Mit diesem Seufzer aus Tucholskys Sudelbuch lassen sich noch heute rudimentäre Geographiekenntnisse über Skandinavien vortäuschen. Über 1574 Kilometer erstreckt sich Tucholskys Wahlheimat – von Trelleborg im Süden bis Kiruna im Norden. Soweit wie von München bis kurz vor Palermo. Wer sich auf die Spuren Tucholskys in Schweden begibt, muss diese Distanz jedoch nicht komplett überwinden. Zum Glück bewegte er sich nur im Süden des Landes, auf und unterhalb der Linie zwischen Stockholm im Osten und Göteborg im Westen. Zwischen Juli 1928 und Dezember 1935. Zwischen fruchtbarer schriftstellerischer Produktion und zerstörter Existenz.

Tucholsky näherte sich peu à peu dem Norden. Im Sommer 1927 zog es ihn zunächst nach Dänemark, wo er in Morgenstrup-Kro per Lou den Sammelband Mit 5 PS zusammenstellte. Im nächsten Jahr ging es dann ins nordöstlich gelegene Nachbarland. Über Malmö und Ystad (wo Kommissar Wallander nicht einmal geboren war) kam er nach Kivik (sprich: Chivik), einem beschaulichen Küstenort in der Provinz Skåne län (Schonen). Knapp sechs Wochen hielt sich Tucholsky dort auf. Von einer Apfelmosterei und einem »kleinen buckligen Mädchen« abgesehen gab es wenig Ablenkung.

Es ist ganz still, und ich habe zwei kleine Zimmer in einem Häuschen, und es sind nur 10 Leute da, und hier ist nun mal ausnahmsweise ruhig. Der Strand ist mäßig, aber ich brauche ihn nicht.

schrieb er an seine Frau Mary am ersten Tag. Und notierte am nächsten: »Ablenkung ist hier nicht; es kann kaum jemand deutsch, und ich spiele Grammophon und Schreibmaschine, immer abwechselnd.« Trotz der ersehnten Ruhe gelang es ihm nicht, seine geplanten literarischen Projekte umzusetzen. Ein Theaterstück über Christoph Kolumbus wollte er schreiben und einen weiteren Sammelband zusammenstellen, wovon er nur letzteres schaffte (Das Lächeln der Mona Lisa).


Kivik: Noch immer ein ruhiger Ort an der Küste Schonens.

Wo mag Tucholsky damals gewohnt haben?, fragt man sich bei Besuch des immer noch beschaulichen Ortes. Als Adresse gab er damals »Kvasa Solbad« an. Was es damit auf sich hat, klärte der im vergangenen Jahr gestorbene Schweden- und Tucholsky-Kenner Jochen Reinert einmal auf:

Kvasa Solbad bestand im wesentlichen aus einem Badehäuschen, aufgestellt vom damals unternehmenslustigsten Kiviker, dem schwedischen »Apfelkönig« Henric Åkesson. Unweit des »Steinkopfs« ist an einem stattlichen Haus eine Erinnerungstafel für den Obstbau-Pionier zu sehen. War Tucholsky wirklich hier, wie eine Briefstelle vermuten läßt? Die freundliche Hausherrin Gunhild Åkesson weiß zu berichten: »Ja der deutsche Schriftsteller hat hier einen Sommer gewohnt und geschrieben, in den beiden vorderen Zimmern des Hauses.«

Der »Steinkopf« (schwedisch: Stenshuvud) ist ein schöner Nationalpark mit durchaus nicht »mäßigem« Strand. Die Apfelmosterei ist bei den alkoholgegängelten Schweden natürlich sehr beliebt. Reinert hat sogar herausgefunden, wer das »bucklige Mädchen« war, mit dem Tucholsky häufig spazieren ging: Eine junge Berlinerin, die bei ihren schwedischen Verwandten Urlaub machte.


Der Stenshuvud ragt mit seinen Felsen bis an Meer heran.

Nach dem Ende des sechswöchigen Aufenthalts zeigte sich Tucholsky mit seiner Produktion sehr zufrieden:

Hier ist quantitativ enorm viel gekommen – nur nicht das, wozu ich hergefahren bin. […] Und nächsten Sommer macht, wenn GOtt ihm Gesundheit gibt, eine Reise nach Schweden, mit Malzen, wie?

Die Reise machte Tucholsky tatsächlich. Allerdings nicht mit Malzen (Mary), die sich zwischenzeitlich von ihm getrennt hatte, sondern mit seiner Geliebten Lisa Matthias, dem »Lottchen«. Nicht erst im Sommer, sondern schon am 5. April 1929 reisten beide in Schweden ein. Ebenso wie der Ich-Erzähler mit seiner »Prinzessin« in Schloß Gripsholm fuhren auch Tucholsky und Matthias zunächst nach Stockholm. »Eine Stadt mit Wasser ist immer schön«, notierte er in der kleinen Sommergeschichte beiläufig, womit er den Reiz der schwedischen Hauptstadt schon in großen Teilen erfasst hat. »Wunderschöne junge Frauen gingen durch die Straßen … von einem geradezu lockenden Blond«, die heutzutage von lauter übergewichtigen Kreuzfahrttouristinnen und knipsenden Asiaten verdrängt werden.


Eine Stadt mit Wasser ist immer schön…

Tucholsky zog es damals schnell aufs schwedische Land. Zunächst mietete er in der Nähe von Läggesta am Mälarsee das Haus Fjälltorp (sprich: Fjälltorp). Dort blieb er von April bis Oktober 1929. Von Läggesta, wen nimmt’s wunder, ist es nicht weit zum Schloss Gripsholm. Noch immer dampft eine Schmalspurbahn die 4,5 Kilometer lange Strecke nach Mariefred. Der Bahnhof hat sich seit Tucholskys Zeiten wohl kaum verändert. »Eigentlich war es nur ein kleines Haus«, schrieb er, »das aber furchtbar ernst tat und vor lauter Bahnhof vergessen hatte, daß es Haus war.« Inzwischen hat es vor lauter Museum vergessen, dass es Bahnhof ist.


Wo alle bessern Geschichten anfangen: am Bahnhof.

»Sie kämen nur sonntags«, heißt in Schloß Gripsholm über die Touristen. Das stimmt nicht mehr. Tucholsky hat mit seinem Buch selbst dazu beigetragen, dass ein Besuch des Schlosses zum Pflichtprogramm für deutsche Schwedenreisende gehört. »Wo hat er denn nun im Schloss gewohnt?«, dürften sich manche nach der Lektüre des Büchleins fragen. Dies kann selbst die deutsche Schlossführerin Maren von Bothmer nicht beantworten, die eines der kleinen Häuschen vor dem Schlossgraben bewohnt. Dafür erklärt sie gerne, wo Daddy und die Prinzessin alias Peter und Lydia alias Kurt und Lisa tatsächlich untergeschlüpft waren. Früher fragten die deutschen Touristen noch, ob sie ebenfalls den angeblichen Schlossanbau mit Blick auf See und Park mieten könnten. Diesen Wunsch dürften angesichts der Besucherscharen wohl nur noch wenige verspüren.


Mariefred ist eine klitzekleine Stadt am Mälarsee.

Anders als in Rheinsberg, wo ein Tucholsky-Museum in den Schlossräumen eingerichtet wurde, gehört der deutsche Schriftsteller nicht zur offiziellen Geschichte des schwedischen Königsschlosses. Als der Journalist Herman Lindqvist (eine Art schwedischer Guido Knopp) jüngst den Lesern des Aftonbladet die Schlossgeschichte erzählte, kam Tucholsky nicht einmal darin vor. Im Schlossladen liegt auch kein Exemplar des Buches aus, werden keine Tucholsky-Postkarten verkauft. Dazu muss man schon in den Buchladen in der Storgatan gehen. Dort gibt es tatsächlich eine »Tucholsky-Ecke«, und eine Ausgabe von Schloß Gripsholm liegt verkaufsgünstig an der Kasse. Gibt es Tucholsky auch auf Schwedisch? Derzeit nicht, sagt der Vorsitzende des schwedischen PEN-Clubs, Ola Larsmo. Es habe zwar schon Übersetzungen des Buches gegeben, doch die seien derzeit vergriffen. Der PEN-Club vergibt jedes Jahr ein mit rund 16.000 Euro dotiertes Tucholsky-Stipendium. Es geht an Schriftsteller, die im Exil leben müssen, und soll ihnen ein wirtschaftliches unabhängiges Arbeiten ermöglichen. Mit dem Stipendium wäre Tucholsky damals nicht lange über die Runden gekommen – aber dazu später mehr.

In dem Mariefreder Buchladen liegen auch altmodisch gestaltete Postkarten, die Fotos von Tucholskys Grab zeigen. Ach ja, da war noch was. An diesem idyllischen Ort, den er literarisch verewigte, fand er selbst seine letzte Ruhestätte. Anders als das Schloss wird Tucholskys Grab jedoch von deutlich weniger Touristen aufgesucht. Der Friedhof liegt am Ortsausgang ( Ärnäsvägen) in Richtung Kalkudden. Auf einem Lageplan am Eingang ist ein rotes T eingezeichnet, das die Lage des Grabes markiert.

Es hilft aber auch, nach einer Eiche Ausschau zu halten, unter der sich die schwere Granitplatte mit den vier klobigen Metallringen befindet. Die Entscheidung, die Urne mit seiner Asche dort beizusetzen, traf Tucholskys schwedische Helferin und Geliebte Gertrude Meyer. Laut Tucholsky-Biographin Helga Bemman erfüllte sie damit dessen letzten Wunsch. Unlängst hat der niederländische Tucholsky-Fan Henk Mantel ein Büchlein um die Idee geschrieben, dass Tucholsky selbst diesen Ort ausgesucht hat, weil er damit seinen Frieden mit seiner zweiten Frau Mary habe ausdrücken wollen. Das klingt charmant, ist aber letztlich nicht zu beweisen und eher unwahrscheinlich.

Es mutet ein wenig merkwürdig an, dass Tucholsky und Lisa Matthias auf der Suche nach einem dauerhaften Aufenthaltsort ausgerechnet im 400 Kilometer entfernten westschwedischen Hindås (sprich: Hindoos) landeten. Aber der kleine Ort in der Nähe von Göteborg war für Tucholsky wohl schneller von Deutschland aus zu erreichen. Im August 1929 mietete er die Villa Nedsjölund (sprich: Nedschölund), wo er im Dezember 1935 die tödliche Dosis Schlafmittel nehmen sollte.

Die Tatsache, dass Tucholsky in Hindås wohnte, wird nicht einmal in den Reiseführern erwähnt. Auch ist das Haus nicht so leicht wie das etwas auffälligere und besser ausgeschilderte Schloss Gripsholm zu finden. Kommt man von der Autobahn aus an den See Västra Nedsjön, stößt man rechterhand zunächst auf den Eingang zum Hindåsgården, einem Konferenzzentrum. Links geht es in den Ort. Eine vorausgegangene Webrecherche hatte ergeben, dass man in der Bibliothek von Hindås durchaus weiß, wo Tucholskys Villa liegt. Ein Straßenname fand sich aber weder in diesem noch jenem Artikel. Also gehts zunächst einmal auf die Suche zur Bibliothek, die sich oberhalb des Bahnhofs befindet.


Mit dem Zug war Tucholsky schnell in Göteborg.

Wie fast alles in Schweden hat auch die Bücherei im Sommer »semester«, also das, was für Studenten vor der Bologna-Reform ohnehin Urlaub bedeutete. Aber nebenan in einer Galerie hat man ebenfalls schon von Tucholskys früherem Wohnsitz gehört. Auf einem vorsorglich mitgebrachten Stadtplan von Google-Maps machen die beiden Galerie-Damen nach einigem Hin und Her ein Kreuz an der äußersten rechten Ecke des Ausdrucks. Da müsse das Haus sein. Groß und blau, gar nicht zu übersehen. In der angegeben Ecke von Hindås, östlich des im Jugendstil erbauten Bahnhofs, findet sich aber kein Haus, das annähernd der Villa Nedsjöslund ähnelt. Dafür ein interessantes Phänomen: die einzige Frau in Schweden, die kein Englisch versteht. Daher kann Frau Ingen Engelska, wie sie sich vorstellt, leider auch keine anderen Ort im Stadtplan ankreuzen. Was bleibt also anderes übrig, als das Ufer weiter abzufahren und Ausschau nach einem großen, blauen Haus zu halten. Und tatsächlich, gleich hinter dem Eingang zum zunächst verschmähten Hindåsgården steht solch ein Gebäude. Letzte Gewissheit bringt eine Gedenktafel, die unten an der Gartenmauer angebracht ist.


Till sin död lebte Tucholsky hier.

Um es für weitere Suchende festzuhalten: Die Villa liegt im Iva Bergers Väg und bietet noch immer einen unverbauten Blick auf den See. Das Haus ist vor kurzem renoviert worden und macht einen imposanten Eindruck.

Mit einem Stipendium von 16.000 Euro wäre Tucholsky damals vermutlich nicht lange über die Runden gekommen. Bei seinem Tod schuldete er seiner Züricher Freundin Hedwig Müller 10.000 Schweizer Franken. Weit mehr als das damalige Jahresgehalt eines Schweizer Volksschullehrers. Auch aus finanziellen Gründen wollte er in der Zeit vor seinem Tod die Villa aufgeben. Den großen Hausstand auflösen, sich verkleinern, möglicherweise an die schwedische Ostküste ziehen. Oder in die Schweiz, zu Hedwig Müller. Seine schwedische Geliebte Gertrude Meyer machte sich hingegen Hoffnungen, dass Tucholsky sie heirate, mit ihm den Flügel eines Schlosses miete, wo auch immer. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.


Ich weiß nichts vom Stil dieser Villa – ich weiß nur: wenn ich mir eine baute, so eine baute ich mir.

Meyer fand Tucholsky im Laufe des 21. Dezember 1935 bewusstlos in dessen Schlafzimmer. Sie nährte, zum Teil wohl wider besseres Wissen, von Anfang an die Legende vom Selbstmord aus Verzweiflung. Verzweiflung über den Gesundheitszustand, die politische Situation in Deutschland, seine allgemeine Lage. Nichtsdestotrotz ist bis heute unklar, was zu dieser letzten Fahrt Tucholskys von Hindås ins Sahlgrenska Krankenhaus nach Göteborg führte. Dort stellte man an jenem Abend um 21.55 Uhr seinen Tod fest. Die Ursache nach der Obduktion mit zwei Fragezeichen: »Intoxicatio ? (veronal ?)«

Seit diesem Tag hat sich die schwedische Landmasse wohl gut 30 Zentimeter aus dem Meer gehoben. Wie lange es dauern wird, bis die ganze Wahrheit um Tucholskys Tod aus der Vergangenheit auftaucht, lässt sich hingegen nicht abschätzen. Vielleicht ist Schweden aber nicht nur ein langes, sondern auch ein langsames Land.

8.12.2008

Unser Ausland

Die unklare politische Situation in Thailand nimmt Kai Strittmatter in der Süddeutschen zum Anlass, sich Gedanken über das Verhältnis der Deutschen zum Ausland zu machen. Sein Leitartikel »Unser Thailand« beginnt mit dem Zitat:

Kurt Tucholsky hätte die Idee mit den Konsumgutscheinen gut gefunden. Und auch eine Verwendung dafür gehabt: »Man sollte jedem Deutschen noch fünfhundert Mark dazugeben, damit er ins Ausland reisen kann«, schrieb der Schriftsteller und Journalist 1924: »Er würde sich manche Plakatanschauung abgewöhnen – wenn er vorurteilslos genug ist, die Augen aufzumachen.« Ein schöner Traum. Der vom Reisen, das bildet. Ein Traum, in dem vor dem Hinausrufen der Weltanschauung das genaue Anschauen der Welt steht. Tucholsky wollte den Deutschen damals ihre Klischees über die Franzosen austreiben.

Gegen Ende seiner Ausführungen kommt Strittmatter dann noch auf die Bedeutung der Auslandsberichterstattung zu sprechen.

Die Welt ist so klein wie nie, aber ist der Wissensdurst gewachsen? Eine Reihe von Korrespondenten von ARD und ZDF hat sich im letzten Jahr zu Wort gemeldet und einen sinkenden Stellenwert der Auslandsberichterstattung beklagt. Auch eine neue Studie des »Netzwerk Recherche« stellt »erhebliche Defizite« in deutschen Medien fest: Zum einen gebe es eine Hinwendung zu Innenpolitik und Lokalem, zum anderen nehme auch bei Auslandsberichten der Deutschlandbezug stark zu.

Bei aller Kritik ist die Arbeit der Korrespondenten weit davon entfernt, auf das Niveau früherer Zeiten zu sinken. Vor dem Zweiten Weltkrieg bestand sie häufig daraus, die Zeitungen des Gastlandes abzuschreiben, was Tucholsky in einer Generalabrechnung mit der Auslandsberichterstattung beklagte:

Das Leben eines Landes spielt sich eben nicht in seinen Zeitungen ab. Man kann zwar aus diesen Zeitungen viel ersehen, wenn man auch sonst gut Bescheid weiß — ihre Macht soll nicht unterschätzt werden. Aber eine Zeitung ist keine Kamera — Journalisten sind Abzeichner. Man muß immer wieder Bild und Wirklichkeit vergleichen.

Ignaz Wrobel: »Auslandsberichte«, in: Die Weltbühne, 12.5.1925, S. 694

Auch die beliebten Meldungen aus dem »Vermischten« waren darin Grund zur Klage:

Die faits divers sind auch schuld daran, daß die eine Nation die andre für einen Haufen tobsüchtig gewordener, ewig ehebrechender, halbirrer, sonderlinghafter, unter völlig desperaten Umständen lebender und mit Revolvern herumfuchtelnder Menschen hält.

Was ja immer noch zu stimmen scheint.

Nach Ansicht von Weltbühne-Herausgeber Siegfried Jacobsohn trug die unzureichende Auslandsberichterstattung sogar Mitschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges:

Ich für mein Teil will nicht ablassen, den Anteil der Presse an dieser brennenden Schmach unsrer Tage festzustellen — in der Zuversicht, durch Mahnung, Spott, Warnung und bloße sachliche Feststellung am Ende doch zu einer Gesundung der Verhältnisse beizutragen. Da kommt mir der Schutzverband deutscher Schriftsteller höchst dankenswert zu Hilfe. In dessen Organ begründet ein Mann, der durch viele Jahre zwei große deutsche Zeitungen aus London bedient hat, die Überzeugung, »daß der Krieg mit England bei einer bessern Vertretung der deutschen Presse in London während des letzten Jahrzehnts zu vermeiden gewesen wäre«.

»Antworten. Hermann M.«, in: Die Schaubühne, 22.7.1915, S. 95

Sein Text endet mit einem flammenden Appell, die Auslandskorrespondenten finanziell gut auszustatten, um eine sinnvolle Berichterstattung zu ermöglichen:

Auch um dieser Auslandskorrespondenten willen wird Deutschland in der Welt verlacht. Die Verleger scheffeln Millionen, von Jahr zu Jahr mehr Millionen, und mieten sich — die Ausnahmen sind allzu schnell hergezählt — für eine Arbeit, von der letzten Endes unser aller Leben abhängt, um ein Almosen einen Kuli, der nichts weiß, nichts sieht und nichts hört, sich so schlecht anzieht, wie er schreibt, keine Manieren hat, die Hintertreppe benutzen muß und sich am allerwenigsten den Luxus eines Gewissens oder gar des Interesses für seine Tätigkeit leisten kann. Schadet nichts, da Deutschland ja trotzdem siegt, die lachende, längst nicht mehr lachende Welt besiegt? Aber unser Sieg wird zu teuer erkauft und wäre ohne Krieg zu haben gewesen, wenn unsre Zeitungen, soweit sie wirklich Einfluß haben, nicht meistens im Dienst mehr oder minder skrupelloser Plusmacher, sondern des Geists, der Freiheit und der Menschlichkeit stünden.

PS: Die Ausgabe des Economist, in der der im ersten Satz verlinkte Artikel erschien, wurde deswegen in Thailand verboten.

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