Dieses Bild

im Jahre 1982 betrachtet, wird recht merkwürdig anzusehen sein. Es stellt eine Modekönigin dar – ein Geschöpf, das die meisten von uns gar nicht als besonders schön oder hübsch empfinden … es ist das eine Reklamesache der Modehäuser … Soweit gut.
Aber so, wie wir uns heute mit einer Art böser Rührung verblichene Photos aus den Jahren 1911 und 1913, der kleinen Zeit vor dem großen Kriege, ansehen –: so sehen sich einmal unsere Enkel dieses Bild hier an und sprechen, nachdem sie sich über «die unmöglichen Moden» beruhigt haben:
«Ja, das war vor den Gaskriegen … Sieh doch diese leeren Gesichter, die von nichts wissen … Hattet Ihr sonst keine Sorgen? … Habt Ihr nicht gefälligst verhindern können, daß man uns vergiftet? … Ahntet Ihr denn nichts von der ungeheurn Gefahr, die über Europa hing? … Gab es denn irgend etwas andres zu tun als zusammenzulaufen und dafür zu sorgen, daß keine Gasgranaten zusammengesetzt werden konnten? daß der Staatenwahnsinn nicht hohe Wellen schlug? daß den Gewaltkerlen in allen Ländern klargemacht wurde, daß noch andre Mächte da waren, stärker als sie und die profithungrigen Großindustriellen, die in ihren Häusern voll feiner Kultur van Goghs sammelten? … Wußtet Ihr das nicht –? Tatet Ihr nichts für uns, nichts –? Saht Ihr es nicht?»
Doch, wir sahen es. Wir haben auch gegen das Gas gearbeitet, in unserer Art. Aber das kann man nicht photographieren. Und vergiß nicht, Mann von 1982:
Die Welt ist kein Zweckorganismus und der Vernunft nicht untertan. Die Welt will spielen. Immer ist ihr die Modekönigin näher gewesen als das Schicksal der nächsten Generation, die allein sehen mußte, wo sie blieb, – und die es dann gerade so gemacht hat. Glaubst du, diese feinen Herren im Smoking wüßten von ihrem wahren Schicksal? Sie sind ganz gefangen vom Alltag, um wieviel mehr vom Sonntag – sie wissen nichts. Und die es wissen, sind grau und unscheinbar und nicht recht repräsentabel für eine Photographie. Vergiß nie, Nachkomme: auch während der französischen Revolution haben sich die Frauen um Milch gestritten und um Kleiderfragen und um ihren Geliebten – niemals beherrscht eine Idee die ganze Welt.
Sei denen dankbar, die für dich vorgesorgt haben. Viele sinds nicht. Sorg du für dich. Wir hatten so viel zu tun: wir mußten leben.

Autorenangabe: Kurt Tucholsky

Ersterscheinung: Deutschland, Deutschland über alles. Berlin 1929, S. 182 f.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 12, S. 182 f.

Die geschundenen Pazifisten

von Hellmut v. Gerlach

(Aus der Reihe: Erinnerungen an die Große Zeit, XVII)

Eine meiner wenigen erhebenden Stunden während des Krieges war, als Heinrich Ströbel, den ich persönlich noch nicht kannte, zu mir kam und etwa Folgendes sagte:

»Ich habe vor dem Kriege meine Parteigenossen immer davor gewarnt, sich einer pazifistischen Organisation anzuschließen, da die Arbeiterinternationale genüge, um den Kampf gegen den Militarismus zu führen. Ich stehe jetzt auf einem andern Standpunkt. Im Kriege haben die bürgerlichen Pazifisten die Probe bestanden, viele meiner Parteigenossen nicht. Ich sehe ein, daß besondere pazifistische Organisationen nötig sind. Wenn Sie meine Mitarbeit haben wollen, steht sie Ihnen zur Verfügung.«

Jawohl, die »bürgerlichen« Pazifisten — die sich übrigens zum Teil gar nicht sehr bürgerlich fühlten — hatten sich bewährt. Nur wenige sind abtrünnig geworden. Alle andern hielten mit ihrer Gesinnung durch, wenn sie sie auch unter der Militärdiktatur nur in bescheidenem Maß betätigen konnten.

Dies bescheidene Maß genügte jedoch vollständig, um sie den allmächtigen Militärs als den »innern Feind« erscheinen zu lassen, der mit allen Mitteln zu bekämpfen sei.

Die einzige unbedingt pazifistische Organisation, die vor dem Kriege in Deutschland bestand, war die Deutsche Friedensgesellschaft mit damals etwa 8000 Mitgliedern.

Sie hatte ein Organ: den Völkerfrieden, den der sehr national gesinnte Pfarrer Umfried leitete. Der Völkerfriede wurde sofort unter Vorzensur gestellt. Peinlichst paßte er sich den Weisungen des Zensors an. Nicht Ein Verstoß ist ihm unterlaufen. Trotzdem: am 17. November 1915 wurde er dauernd verboten. Die ganze Richtung paßte den Herren Generalen eben nicht.

Die Friedensgesellschaft, die damals ihren Sitz in Stuttgart hatte, besaß dort eine Buchhandlung. Diese reichte ein Verzeichnis der von ihr vertriebenen Literatur ein. Nachdem das Generalkommando die Auswahl der zulässigen Schriften getroffen hatte, wurden nur noch diese vertrieben. Trotzdem wurde die Buchhandlung im April 1916 auf behördlichen Befehl geschlossen. Warum? Darum! Nicht einmal die Satzungen der Friedensgesellschaft durften mehr verbreitet werden.

Geschlossene Mitgliederversammlungen waren der Friedensgesellschaft zunächst noch erlaubt. Sie konnte sogar im Herbst 1915 ihre Generalversammlung in Leipzig abhalten, allerdings unter der Bedingung, daß kein Bericht darüber in die Presse käme. Die reaktionäre Presse griff sie ob der in Leipzig unter Ausschluß der Öffentlichkeit gefaßten Beschlüsse wüst an als »Tröster unsrer Feinde« und behauptete, daß ihre Beschlüsse »an Landesverrat grenzten und geeignet seien, den Krieg unnötig zu verlängern«. Nicht einmal zur Abwehr dieser ebenso infamen wie sinnlosen Angriffe durfte auch nur der Wortlaut der Beschlüsse bekannt gegeben werden.

Bald wurden sogar die geschlossenen Mitgliederversammlungen verboten. Als daraufhin einige Dutzend Berliner Pazifisten sich zwanglos — ohne Tagesordnung, ohne Vorsitz, ohne Geschäftsordnung — einmal wöchentlich im Café Austria trafen, wurden sie bespitzelt. Im Einverständnis mit dem Wirt plazierte die Polizei in den dunkeln Hohlraum zwischen einer Doppeltür ein paar Ehrenmänner, die dort angeblich stenographisch die Gespräche aufnahmen. Das kam zufällig bei einem Disziplinarverfahren gegen einen Oberlehrer heraus, dem man vorhielt, er habe sich im Café Austria gegen den rücksichtslosen U-Boot-Krieg ausgesprochen. Am 5. April 1917 drang übrigens die Polizei ganz offiziell in das Café ein und machte den »verbotenen Versammlungen« ein für alle Mal ein Ende. Das Gesuch eines der Teilnehmer, des Rechtsanwalts Victor Fränkl, diese zwanglosen Zusammenkünfte zu genehmigen, wurde abschlägig beschieden. Der Oberpräsident schrieb, daß »die Abhaltung von Zusammenkünften von Freunden pazifistischer Bestrebungen in jetziger Zeit zur Schädigung des Staatswohls führe und somit eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstelle«.

Als dem Sekretär der Deutschen Friedensgesellschaft, Herrn Röttcher, sogar die Versendung von Sitzungsprotokollen des Vorstandes verboten wurde, da war es selbst mit dem letzten Rest internster politischer Tätigkeit aus.

Die Friedensgesellschaft, die selbst unter diesem eisernen Druck nicht ganz in Schlaf versinken wollte, wandte sich charitativer Tätigkeit zu. Auf Grund einer Ermächtigung des Preußischen Kriegsministeriums widmete sie sich dem Briefverkehr, der der Gefangenenfürsorge und der Nachforschung nach Zivilinternierten diente. Sie leistete damit zahllosen Familien unendlich wertvolle Dienste, zumal es zunächst keine andre Organisation für diesen Zweck gab.

Aber auch die charitative Tätigkeit wurde ihr am 30. Mai 1916 untersagt. Dem Generalkommando genügte nicht, die Friedensgesellschaft politisch getötet zu haben. Sie mußte ganz und gar verröcheln. Wenn sie sich auch nur charitativ betätigte: das hätte sie doch manchem Menschen als nützlich erscheinen lassen. Und das durfte nicht sein.

Im Herbst 1914 wurde der Bund Neues Vaterland gegründet. Er war nicht nur als pazifistische Organisation gedacht, sondern verfolgte, wie sein Name besagt, auch innenpolitische Zwecke: Erneuerung Deutschlands auf demokratischer Grundlage. Nicht als Massenorganisation war er gewollt, sondern als wahre Arbeitsgemeinschaft aktiver Persönlichkeiten. Schon der hohe Jahresbeitrag von 50 Mark schloß den Gedanken an Propaganda in den breiten Massen aus.

Neue Männer, die bis dahin als Pazifisten nicht sichtbar geworden waren, traten an die Spitze: Deutschlands bekanntester Pferdesportsmann Kurt v. Tepper-Laski als Vorsitzender und Graf Arco von den Telefunken als sein Stellvertreter. Beide hatten sich bis dahin besonders als Monisten betätigt. Aber die Kriegserfahrung drängte sie zum Bekenntnis ihres Pazifismus. Ihnen schlossen sich eine ganze Anzahl freigesinnter Aristokraten, namentlich ehemalige Diplomaten, bedeutende Gelehrte und sonst hervorragende Persönlichkeiten an. Otto Lehmann-Rußbüldt war, ehe er ins Feld mußte, die treibende Kraft als Organisator.

Der Bund Neues Vaterland wurde zunächst glimpflicher angefaßt als die Friedensgesellschaft. Im kaiserlichen Deutschland hatte man instinktiven Respekt vor einem authentischen Grafen und einem adligen Herrenreiter, mit dem der Kronprinz vertrauensvolle Briefe über Rennpferde auszutauschen pflegte.

Aber der Wind schlug gänzlich um, als im Frühjahr 1915 Herr v. Tepper-Laski im Einverständnis mit dem Auswärtigen Amt im Haag war und dort in Gemeinschaft mit Professor Walther Schücking die Möglichkeit von Friedensverhandlungen mit England feststellte. Das enthüllte ihn als einen ganz gemeingefährlichen Menschen.

Und nun begann der Leidensweg des Bundes Neues Vaterland.

Erst wurde ihm verboten, an Nichtmitglieder Mitteilungen zu versenden. Als Übertretung dieses Verbotes wurde schon schwer gerügt, daß er den bisherigen Empfängern seiner Mitteilungen mitteilte, er könne ihnen in Zukunft nichts mehr mitteilen.

Dann wurde ihm verboten, seinen eignen Mitgliedern Mitteilungen zukommen zu lassen. Und es wurde diesem Verbot das Verbot hinzugefügt, den Mitgliedern von dem Verbot Kenntnis zu geben. Sie sollten an seinen Selbstmord glauben.

Es folgte eine Haussuchung und die Beschlagnahme aller Drucksachen. Es folgte die Verhaftung der Sekretärin Lilli Jannasch. Aber da dem Oberkommando der Bund trotz alledem und alledem immer noch als eine gefährliche Größe erschien, wurde am 7. Februar 1916 kurzerhand verfügt, daß »dem Bunde für die Dauer des Krieges jede weitere Betätigung im Sinne seiner Bestrebungen … verboten sei«.

Sehr bezeichnend für die Noblesse, mit der die Militärbehörde in solchen Dingen vorzugehen pflegte, ist die Unterredung, die der berüchtigte Polizeimajor Henninger, die rechte Hand des Generals v. Kessel, am 14. Oktober 1915 mit Graf Arco und Lilli Jannasch hatte. Zu Graf Arco sagte Herr Henninger: »Ich verstehe, wenn Ballin für den Frieden ist. Seine Linie ist durch den Krieg lahmgelegt. Aber Ihre Gesellschaft hat doch Kriegslieferungen!« Und zu Fräulein Jannasch: »Lösen Sie sich doch auf! Denken Sie, wenn Sie als Landesverräterin verhaftet würden, Sie könnten sich ja in Ihrem Hause nicht mehr sehen lassen.« (Ihr Vater war ein berühmter Professor an der Berliner Universität.) »Nach der Anti-Annexions-Broschüre wollten wir Ihren Bund schon auflösen. Nur dem Reichskanzler verdanken Sie, daß es nicht geschehen ist.«

Die Verhaftung von Lilli Jannasch ist am 31. März 1916 erfolgt. Volle 14 Wochen ist sie in Haft behalten worden, ohne daß jemals ein Grund ihr mitgeteilt, jemals ein Verhör mit ihr veranstaltet worden wäre. Als sie, gleichfalls ohne Angabe von Gründen, freigelassen wurde, mußte sie einen Revers unterschreiben, daß sie für die Dauer des Krieges sich weder für den Pazifismus noch für das Frauenstimmrecht betätigen und von diesem Verbot keinem Dritten Mitteilung machen werde.

Auch ihre Nachfolgerin im Sekretariat des Bundes, Elsbeth Brück, wurde ohne Angabe von Gründen verhaftet, aus Berlin transportiert und so schnöde auf dem Transport behandelt, daß sie fast gebrochen aus der Haft zurückkehrte.

Nachdem die Deutsche Friedensgesellschaft und der Bund Neues Vaterland abgewürgt waren, gründeten wir am 30. Juli 1916 die Zentralstelle Völkerrecht. Wir wählten den etwas akademisch anmutenden Namen, um nicht von vorn herein die Militärs kopfscheu zu machen.

Vergebens!

Gleich die Veröffentlichung unsres Gründungsaufrufs wurde verboten. Überhaupt betätigte das Oberkommando in den Marken uns gegenüber eine Taktik, die nur als fortgesetzter Abtreibungsversuch bezeichnet werden kann.

In der für Berlin geplanten Gründungsversammlung sollte Ludwig Quidde das Referat halten. Er wurde schleunigst in seiner Eigenschaft als bayrischer Staatsangehöriger aus Berlin und der ganzen Provinz Brandenburg ausgewiesen. Sein zur Verlesung eingesandtes Referat wurde verboten, und zwar mit dem hübschen Zusatz, »daß es auch mit Änderungen nicht genehmigt werden würde«. Verboten wurde außerdem jede Diskussion für die Versammlung, die augenscheinlich vom Oberkommando als eine Art Trappistenkonvent gedacht war. Wiederum verlangte von uns dasselbe Oberkommando, daß wir uns als Verein konstituierten, Satzungen annähmen, einen Vorstand wählten. Wie das ohne ein gewisses Minimum von Diskussion möglich sein sollte, war das Geheimnis des Oberkommandos. Wir baten um seine Lüpfung und erhielten darauf die einzige Antwort, die es geben konnte: keine.

Unter diesen Umständen verzichteten wir auf Berlin und flüchteten nach Frankfurt am Main. Das Oberkommando dort war das einzige, bei dem man wenigstens auf lucida intervalla rechnen konnte. Es genehmigte die Gründungsversammlung als geschlossene Versammlung für Eingeladene, unter polizeilicher und militärischer Überwachung, mit der Bedingung, daß ein Versammlungsbericht nur von der Versammlungsleitung angefertigt und zur Zensur eingereicht werde.

Die Versammlung fand am 3. Dezember 1916 statt. Keiner der anwesenden Behördenvertreter fand Anlaß zum Einschreiten. Der Bericht wurde schon am 4. Dezember der Frankfurter Zensurstelle eingereicht, die ihn als »an sich gar nicht zensurpflichtig« erklärte, aber auf Befehl von Berlin dorthin sandte.

Von Berlin ist er trotz all unsrer Mahnungen und Beschwerden nie zurückgekommen.

Schon am 25. Januar 1917 wurde der Zentralstelle übrigens in Berlin jede Werbetätigkeit und jede Kundgebung verboten. Womit auch sie lahmgelegt war, ehe sie ihre eigentliche Tätigkeit überhaupt hatte aufnehmen können.

Uns Pazifisten ist manchmal von befreundeter Seite vorgeworfen worden, wir hätten während des Krieges zu wenig getan. Mir scheint, wir haben unter Übernahme nicht ganz unerheblicher persönlicher Risiken getan, was wir tun konnten, ohne illegal zu werden.

Wir haben uns an das bestehende Recht gehalten, auch wenn wir es noch so abscheulich fanden. Den Militärbehörden freilich genügten ihre legalen Befugnisse noch nicht. Sie wurden uns gegenüber zu Rechtsbrechern, ohne daß wir uns dagegen zur Wehr setzen konnten.

Völlig illegal war etwa das an alle pazifistischen Organisationen gerichtete Verlangen, die Mitgliederlisten auszuliefern. Wir mußten ihm trotz seiner Gesetzwidrigkeit stattgeben, weil uns im Falle der Weigerung mit der Auflösung gedroht wurde.

Warum wollten die Militärbehörden unsre Mitglieder kennen lernen? Einen anständigen Grund konnten sie nicht vorbringen. Folglich muß man annehmen, daß entweder die noch Militärpflichtigen an die Front gebracht oder die Beamten diszipliniert oder die Geschäftsleute wirtschaftlich geschädigt werden sollten. In Schweinfurt, zum Beispiel, war die Folge der erzwungenen Adressenauslieferung, daß der Magistrat allen Mitgliedern schriftlich den Austritt nahelegte, widrigenfalls über sie die Briefsperre verhängt werden würde.

Wie jeder einzelne von uns Pazifisten gepiesackt worden ist, dafür will ich ein paar meiner eignen Erlebnisse anführen.

Mein Vortrag in Budapest im Januar 1916 über Ernährungsfragen hatte in den maßgebenden ungarischen Kreisen den lebhaften Wunsch geweckt, mich bald noch einmal zu hören, weil man eine der deutschen ähnliche Organisation für die Lebensmittelversorgung schaffen wollte. Ich bekam eine ganz offizielle Einladung, aber — keinen deutschen Paß! Am 15. Mai 1916 eröffnete mir Minister von Loebell schriftlich:

»Unter den gegenwärtigen Verhältnissen lassen es die Interessen des Reiches erforderlich erscheinen, Reisen nach dem verbündeten und dem neutralen Ausland auf Fälle dringendster Notwendigkeit einzuschränken. Ich sehe mich daher zu meinem Bedauern nicht in der Lage, den Bescheid des hiesigen Polizeipräsidenten, durch welchen der Antrag Ew. Hoch-wohlgeboren auf Erteilung eines Auslandspasses abgelehnt worden ist, einer Abänderung zu unterziehen.«

Im Herbst 1917 sollte eine wichtige Besprechung von deutschen Pazifisten mit Neutralen in Bern stattfinden. Am 1. November eröffnete mir Unterstaatssekretär von dem Bussche, das Auswärtige Amt sei zwar für die Bewilligung aller Pässe, aber das Militär verweigere sie für Quidde, Schücking und mich, indem es behaupte, wir besäßen zu viel Material von der Front. Meine Hinweise darauf, daß doch die Abgeordneten das meiste Material von der Front bekämen, und daß man trotzdem erst kürzlich die sozialdemokratischen Abgeordneten nach Kopenhagen gelassen habe, rief nur die Feststellung hervor: »Wir denken ja darüber auch anders. Aber die Bedenken des Generalstabs Ihnen gegenüber sind unüberwindlich.«

Daß meine Telephongespräche überwacht wurden, daß die harmlosesten Zeitungen aus der Schweiz an der Grenze zurückgebalten wurden — Hunderte davon habe ich nach dem Kriege nachträglich ausgeliefert erhalten —, daß ich der Briefsperre unterlag und auch meine Familienkorrespondenz von den schmutzigen Fingern der Spione durchwühlt wurde: das sind fast Selbstverständlichkeiten.

Reden durfte ich nur ganz ausnahmsweise. Eine Reihe von Generalkommandos verbot mir ein für alle Mal das Auftreten in ihrem Bereich selbst in geschlossenen Versammlungen. In einigen Bezirken erlaubte man mir das Reden unter der Bedingung, daß ich vorher mein Manuskript zur Zensur einsende (wobei ich mir übrigens, sobald ich mich von der genügenden Dämlichkeit des überwachenden Beamten überzeugt hatte, wesentliche Einschiebsel gestattet habe). In Erfurt wurde, nachdem mir ein Vortrag über »Europa nach dem Kriege” erlaubt worden war, nachträglich die Bedingung gestellt, daß das Wort Friede in der Bezeichnung der Versammlung fehle. Die Einladungen waren schon gesetzt. Die Überschrift sah nach Erfüllung der Bedingung so aus:

»Öffentliche            versammlung.«


Am 13. Mai 1917 hatte Licentiat Mumm, der jetzige deutschnationale Abgeordnete, mit Professor Seeberg im Zirkus Busch eine große Versammlung für Annexionen abgehalten. Unter Berufung darauf meldete ich für den Zirkus Schumann auf den 24. Juni eine Versammlung an, in der Quidde »Was erwarten wir vom Frieden?« und Eduard Bernstein: »Was erwarten wir von Stockholm?« behandeln sollten. Das Polizeipräsidium antwortete mir am 15. Juni, es sei vom Oberkommando in den Marken angewiesen, mir die Genehmigung zu versagen, da öffentliche Versammlungen politischer Parteien oder diesen gleich zu achtender Vereinigungen verboten seien.

Ich war zwar weder eine politische Partei noch eine dieser gleich zu achtende Vereinigung, ich war nur genau das Selbe wie Licentiat Mumm, nämlich ein Privatmann. Aber das half mir nichts. Was Mumm für Annexionen tat, durfte ich nicht dagegen tun.

Das war ja überhaupt so aufreizend, daß ständig mit zweierlei Maß gemessen wurde. Die Alldeutschen konnten die hetzerischsten Broschüren selbst an der Front verbreiten, konnten uns mit den verlogensten Angriffen überschütten, konnten die Regierungspolitik in jeder Weise durchkreuzen. Wir, die Quidde, Schücking, Wehberg, L. G. Heymann und die Andern, durften uns nicht zur Wehr setzen, durften die Regierungspolitik nicht vertreten, wo sie uns richtig schien, durften nicht die Stimme der Vernunft erschallen lassen, die allein Deutschland im Ausland hätte nützen können.

Wir waren nicht nur machtlos: wir waren auch rechtlos. Mein alter Freund Theodor Barth pflegte zu sagen: Unrecht tun sei schlimm, Unrecht dulden sei schlimmer. Nun, wir mußten wehrlos jegliches Unrecht dulden. Die Herren Militärs gestatteten keinem Deutschen, den von ihnen in den Abgrund kutschierten Karren aufzuhalten.

Erschienen in: Die Weltbühne, Nr. 51, 21. Jg, (15. Dezember 1925), S. 901

Beilage zum Brief an Hedwig Müller vom 16.3.1935

Q – Tagebuch

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für Nuna qbinke

Über den Fall Labour Party ist gar nicht zu reden. Lieschen hat ganz, aber auch ganz und gar unrecht. Nichts als Pacifist zu sein – das ist ungefähr so, wie wenn ein Hautarzt sagt: »Ich bin gegen Pickel.« Damit heilt man nicht. Ich weiß Bescheid, denn ich habe diese Irrtümer hinter mir. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung läßt scharf und genau einen Teil der Kriegsgründe begreifen, die immer da sind, wenn Absatzgebiete geschaffen werden sollen. Das ist – gegen die rosenroten Idealisten – eine sehr gute Lehre. Aber sie ist nicht vollständig. Ein Teil liegt im Wesen der Menschen. »Es wird immer Kriege geben.« Es wird auch immer Morde geben. Es fragt sich nur, wie die Staatsordnung Krieg und Mord bewertet. Den Mord bewertet man als Rechtsbruch – den Krieg als Naturereignis, mehr: als eine heroische Sache. Er ist, oft und in vielem, eine Schweinerei. Also –?

Nun ist es durchaus das Recht Lieschens, wie auch das Recht der englischen Arbeiterfrauen, zu sagen: »Also vor allem mal nicht mein Mann!« Das ist elementar – und es gibt leider so viele Weiber, bei denen das Weibchen stärker ist als die Mutter. (Hier kann man einwenden, das sei falsch: bei den Tieren sehen die Weibchen zu, wenn sich die Männer hauen. Ja, aber um sie – oder um das Fressen für die Brut – oder auch nur, um zu zeigen, wer der stärkere ist? Bei den Hirschen? Das weiß ich nicht.) Will man aber den Krieg verhindern, dann muß man etwas tun, was alle diese nicht tun wollen: Man muß bezahlen.

Ein Ideal, für das man nicht bezahlt, kriegt man nicht.

Ein Ideal, für das ein Mann oder eine Frau nicht kämpfen wollen, stirbt – das ist ein Naturgesetz. Der Rest ist Familiäre Faschingsfeier im Odeon.

Ich kann das nur Dir schreiben – ich habe es schon Lieschen gegenüber schwer. Ganz hinten, wo man kaum noch hinleuchtet, steckt ja doch: »Also vielleicht soll Roby dem seinen Krieg führen, den er verloren hat!« – Mitnichten. Roby soll überhaupt keinen Krieg führen.

Ich habe einen Interventionskrieg stets für wahnsinnig gehalten, das wäre so, wie wenn man meine Mama, um sie zu ändern, ins Gefängnis sperren wollte. Was sollte dieser Krieg? Die boches sind boches – was nützt der Krieg? Aber:

Zwischen diesem Krieg und einer energischen und klaren Haltung aller Mächte Europas ist noch ein großer Unterschied. Die vollendete Instinktlosigkeit der englischen Weiber und der alten Weiber in der Labour fördert den Krieg – und Baldwin hatte ganz recht, ihnen zu entgegnen: Ihr boykottiert ja Deutschland, also was wollt ihr von uns, wenn wir uns vorsehn?

Ich halte im übrigen dieses Wettrüsten für Wahnwitz – es muß zum Kriege führen, und es ist gar kein Mittel, wie das Weißbuch sagt, ihn zu verhindern. Aber das nur deshalb, weil die Regierungen, vollgesogen – von Minger bis zu Lloyd George – von der blödsinnigen Idee der absoluten Souveränität – in Anarchie leben und keine Rechtsordnung über sich anerkennen wollen. Also muß der Friedenstörer, der ja Deutschland ist, den Ton angeben, wie ja immer der niedrigste den Ton angibt. Hier war der Kern – seit 1919 nur hier. Jetzt ist es viel zu spät, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Die Schrift Ferreros habe ich Dir damals gezeigt – seitdem haben die Mächte Fehler auf Fehler gehäuft, die schlimmsten seit 1933. Zu machen war:

Boykott. Blockade. Innere Einmischung in diese Barbarei, ohne Krieg zu führen. Vor allem aber, und das halte ich für das schrecklichste: die geistige Haltung hätte eben anders sein müssen, aber sie konnte nicht anders sein, denn da ist nichts. Man siegt nicht mit negativen Ideen, die ja stets das Verneinte als Maß aller Dinge anerkennen – man siegt nur mit positiven Gedanken. Europa hat keine. Beharren ist nichts. Es geht zurück. Es verliert.

Zu haben war, bei der Gemütsart der boches: Sturz des Regimes, äußerste Vorsicht der Reichswehr, Zurückdämmung der Rüstungen, Verzicht auf einen Überfall im Osten, wenigstens für lange Jahre.
Es gibt keine geistige Position, von der aus ich das sagen könnte. Es hat so etwas verfehlt savonarolahaftes: der verlangt Opfer! Und die tiefe Beschämung, daß da doch etwas nicht stimmt, verwandelt sich in Ablehnung und Wut, »man will das nicht mehr hören«, und »Auf einmal so kriegerisch?« – es gibt keine geistige Position. Daher mein Schweigen.

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Der couillon wird sich also nach Osten ergießen. Wie wenig diese lächerlichen Emigranten recht haben, sieht man zum Beispiel an Lagarde. So nannte sich (nach dem Familiennamen seiner Mutter) ein Gymnasialprofessor, der aber ein großes Lumen war, Paul Bötticher, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der schrieb schon, »Rußland solle die Gewogenheit haben, sich bis nach Mittelasien zurückzuziehen«, und das war durchaus kein verschrullter Esel, wie der Mann Lieschen Förster-Nietzsches – er war eine geistige Erscheinung. Christian Morgenstern hat diesen Lagarde verehrt, wie deutsch muß das also sein! Und sie werden siegen. Und dann –?

Was mich an diesem Sieg so anekelt, ist nicht, daß jemand siegt, den ich nicht mag. Das wäre doch recht eng. Aber wer siegt denn hier? Der deutsche Bauer –?

Hier siegt der deutsche Drogist. Der Zigarrenhändler. Der pensionsberechtigte kleine Mann. Und das wird furchtbar.

Zu denken, daß in Minsk oder Neo-Georgjewsk eine Krankenkasse aufgebaut wird, »also wissen Sie, die Panjes werden staunen, sonwas haben sie noch nie gesehn« – erstklassig, mit Wasserspülung hinten und vorn – und richtige Fahrdämme und alles klappt, und herrlich – das ist das Ideal des Vorstadtdrogisten.

Je mehr es die Seele herausbrüllt – um so seelenloser ist es in Wahrheit. In einem kleinen französischen Kaninchenzüchter steckt mehr Seele als in dem Getue da. Und das hat Europa gefördert, und hier trägt jeder einzelne Staat ein gerüttelt Maß an Schuld: die Schweden, die ums Verrecken nicht boykottieren; Frankreich, das schläft und viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist; England, das die Sache – the too white nations – fördert; die Schweiz, die sich in der Saar-Abstimmung entsprechend benommen hat und die, wie die Katholiken, nur einen Feind kennt: Rußland – sie alle fördern das. Und ein Teil von ihnen weiß es auch. Der Papst ist nicht gutgläubig, Minger vielleicht, aber der zählt ja nicht – und der einzelne Pfahlbürger in der Schweiz weiß nichts. Woher auch? Aus seinen Zeitungen?

Ich habe den Eindruck, hier zu stören.

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Das soll uns nicht hindern, der Zukunft Hasis (der ja nicht Peter heißt, also ich will mich darüber nicht verbreitern, ich ja nicht) mutig ins Auge zu blicken

Festprogramm zur berliner Season

  1. »Haus der Nationen«, Weinabteilung, allabendlich 21 und 23 Uhr: Auf- und Abziehen eines Reichstagsgewitters; an der Windmaschine: Georg Bernhard. Lachabteilung: Schuhplattler zu Ehren des 60. Geburtstags seiner königlichen Hoheit des Prinzen Rupprecht von Bayern, Damen: Bäumer, v. Oheimb; Herren: Breitscheid, Bronnen; Arizona-Bar, 22 Uhr: Reichsbankpräsident Schacht kreiert das französische Champagnerlied Extra dry, anschließend internationaler Beifall.
  2. Straßenkampfmanöver der Schutzpolizei zwischen Wittenplatz und Halensee unter Mitwirkung des Schupo-Sinfonie-Orchesters (Beethoven: »Lied an die Freude«), Dachschützen: Paul Morgan und Kurt Robitschek; Führer der Hundertschaft: Fritz Kortner und Hans Albers. Gleichzeitig besichtigen die Mitglieder der mailänder Scala die berliner Scala und äußern sich höchst befriedigt darüber; Hin- und Rücktransport der Künstler im geschlossenen Auto, um anlässlich der Kurfürstendamm-Manöver unliebsame Verwechslungen mit einheimischen Fremdstämmigen zu vermeiden.
  3. Prof. Einstein legt auf dem Bauplatz am Bahnhof Friedrichstraße eigenhändig den Grundstein zu dem ihm vom Magistrat als Ehrengeschenk überwiesenen Hochhaus, anschließend Lustfahrt zum berliner Wohnungsamt zwecks Überreichung eines weißen Scheins.
  4. Vorfeier zum siebzigsten Geburtstag von Gerhart Hauptmann. Ansprache Leopold Jessner auf der erstmalig rollenden, kontraktlich neumontierten Freitreppe des Staatstheaters: »Hat Doktor Gerhart Hauptmann gelebt?«
  5. Eröffnung der Großen berliner Kunstausstellung im Funkturmrestaurant; im Fahrstuhl: Max Liebermann mit seinem Originalgemälde: Der Reichspräsident in Stahlhelmuniform vor schwarzrotgoldnem Grunde, von 21.30 bis 24.15 Scheinwerferbeleuchtung; anschließend Besichtigung der Rundfunkzensur unter sachverständiger Führung. Jeder Teilnehmer zahlt 5000 Mark Konventionalstrafe.
  6. Vortrag des Herrn Oberbürgermeisters Böß: »Warum ich noch immer Bürgermeister bin.« Mit Lichtbildern.
  7. Feierliche Aufstellung der Berolina in der Redaktion des Acht-Uhr-Abendblatts, vierte Etage, erste Tür links.
  8. Auf den vereinigten rotweiß-blauweißen Tennisplätzen des Klubs Lilaweiß, mittags 3–4: Schauohrfeigen zwischen Frau von Reznicek und Frau Außem.
  9. Fremde, die kein Hotelzimmer gefunden haben, erhalten Freischlafplätze in der Volksbühne am Bülowplatz. Polizeiliches Geleit.
  10. Käses Rundfahrten durch die Stadt für angelsächsische Festspielbesucher. Am Megaphon: Arnold Zweig und Lion Feuchtwanger.
  11. Überführung des Karl-May-Museums aus Radebeul in die Galerie Flechtheim.
  12. Propagandatag für das pommersche Frischei.
  13. Allabendlich 22 Uhr, Fernbahnhof Friedrichstraße: Flucht eines Berliner Notars mit oder ohne Familie. Im Falle einer Behinderung springt ein Bankier ein.
  14. Abschließend: Dankgottesdienst der Reichswehr am Pergamonaltar.

Old Shatterhand

In: Die Weltbühne, 21. Mai 1929

Eine Rede ist keine Rede
oder:
Wat macht denn nu eijentlich Else Müller?

»Na, man hört ja so allerlei und denkt sich dann sein Teil. Ich will ja nischt gesagt haben, aber unsereins hat ja schließlich auch seine Augen im Kopp. Wissen Se, ich hab mir mein ganzes Leben kein X vorn U machen lassen, und uff meine alten Tahre werd ich damit ooch nich mehr anfangen. Aber wie jesacht, ick will ja nischt gesacht haben, aber ’n bisken Selbstachtung hat ja ein jeder von uns, da hab ich doch recht, Frau Meyer, nich wahr? Wir wohnen doch nu schon fuffssehn ein halbet Jahr visavieß mit Müllers, und da kriggt man ja allerhand zu sehen. Aba man äußert sich doch nich dazu, man hat ja schließlich auch seine Bildung, und wissen Se, wenn ick auch einen fuffsehn Jahre in die Fenster kieke, ich kiek auch imma wieder raus. Un nu voriget Jahr im Sommer, als det ganze Vorderhaus verreist war, na, ick meine um jeden einzelnen Mieta kann man sich doch nich kimmern, nich wa? da geh ich grade mit Lottchen iebern Hoff zum Verwalta, na, un wat ick jesehn habe, det habe ich jesehn, und det redt mir ooch keiner wieder aus. Wenn ick ooch ne Brille trage, blind bin ick deswegen noch lange nich, det solln sich man alle jesacht sein lassen. Ick meine man is ja ooch mal jung gewesen un ick hab mir imma mein Herz vor die Jugend bewahrt aba wat zu vill is is zu vill ick kann Ihnen nur eins saren sowat find ich unanständich einfach unanständich aber wat ick weeß weeß ick un for dumm laß ich mer nun ooch nich koofen det stößt nämlich jejen meine Selbstachtung!
Übrijens will ick nischt jesacht ham…«

Old Shatterhand

In: Die Weltbühne, 22. März 1927, S. 477

Was darf die Satire?

Frau Vockerat: „Aber man muß doch
seine Freude haben können an der
Kunst.“
Johannes: „Man kann viel mehr haben
an der Kunst als seine Freude.“
Gerhart Hauptmann

Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.

Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: „Nein!“ Eine Satire, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist.

Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den.

Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.

Die Satire eines charaktervollen Künstlers, der um des Guten willen kämpft, verdient also nicht diese bürgerliche Nichtachtung und das empörte Fauchen, mit dem hierzulande diese Kunst abgetan wird.

Vor allem macht der Deutsche einen Fehler: er verwechselt das Dargestellte mit dem Darstellenden. Wenn ich die Folgen der Trunksucht aufzeigen will, also dieses Laster bekämpfe, so kann ich das nicht mit frommen Bibelsprüchen, sondern ich werde es am wirksamsten durch die packende Darstellung eines Mannes tun, der hoffnungslos betrunken ist. Ich hebe den Vorhang auf, der schonend über die Fäulnis gebreitet war, und sage: „Seht!“ – In Deutschland nennt man dergleichen ›Kraßheit‹. Aber Trunksucht ist ein böses Ding, sie schädigt das Volk, und nur schonungslose Wahrheit kann da helfen. Und so ist das damals mit dem Weberelend gewesen, und mit der Prostitution ist es noch heute so.

Der Einfluß Krähwinkels hat die deutsche Satire in ihren so dürftigen Grenzen gehalten. Große Themen scheiden nahezu völlig aus. Der einzige ›Simplicissimus‹ hat damals, als er noch die große, rote Bulldogge rechtens im Wappen führte, an all die deutschen Heiligtümer zu rühren gewagt: an den prügelnden Unteroffizier, an den stockfleckigen Bürokraten, an den Rohrstockpauker und an das Straßenmädchen, an den fettherzigen Unternehmer und an den näselnden Offizier. Nun kann man gewiß über all diese Themen denken wie man mag, und es ist jedem unbenommen, einen Angriff für ungerechtfertigt und einen anderen für übertrieben zu halten, aber die Berechtigung eines ehrlichen Mannes, die Zeit zu peitschen, darf nicht mit dicken Worten zunichte gemacht werden.

Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.

Aber nun sitzt zutiefst im Deutschen die leidige Angewohnheit, nicht in Individuen, sondern in Ständen, in Korporationen zu denken und aufzutreten, und wehe, wenn du einer dieser zu nahe trittst. Warum sind unsere Witzblätter, unsere Lustspiele, unsere Komödien und unsere Filme so mager? Weil keiner wagt, dem dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend.

Nicht einmal dem Landesfeind gegenüber hat sich die deutsche Satire herausgetraut. Wir sollten gewiß nicht den scheußlichen unter den französischen Kriegskarikaturen nacheifern, aber welche Kraft lag in denen, welch elementare Wut, welcher Wurf und welche Wirkung! Freilich: sie scheuten vor gar nichts zurück. Daneben hingen unsere bescheidenen Rechentafeln über U-Boot-Zahlen, taten niemandem etwas zuleide und wurden von keinem Menschen gelesen.

Wir sollten nicht so kleinlich sein. Wir alle – Volksschullehrer und Kaufleute und Professoren und Redakteure und Musiker und Ärzte und Beamte und Frauen und Volksbeauftragte – wir alle haben Fehler und komische Seiten und kleine und große Schwächen. Und wir müssen nun nicht immer gleich aufbegehren (›Schlächtermeister, wahret eure heiligsten Güter!‹), wenn einer wirklich einmal einen guten Witz über uns reißt. Boshaft kann er sein, aber ehrlich soll er sein. Das ist kein rechter Mann und kein rechter Stand, der nicht einen ordentlichen Puff vertragen kann. Er mag sich mit denselben Mitteln dagegen wehren, er mag widerschlagen – aber er wende nicht verletzt, empört, gekränkt das Haupt. Es wehte bei uns im öffentlichen Leben ein reinerer Wind, wenn nicht alle übel nähmen.

So aber schwillt ständischer Dünkel zum Größenwahn an. Der deutsche Satiriker tanzt zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen Eiertanz. Das ist gewiß recht graziös, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint.

Was darf die Satire?

Alles.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Berliner Tageblatt, 27. Januar 1919, Nr. 36.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 3. Texte 1919, S. 82 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 2, S. 42 ff.

Wir Negativen

Wie ist er hier so sanft und zärtlich! Wohlseyn will er, und ruhigen Genuß und sanfte Freuden, für sich, für andere. Es ist das Thema des Anakreon. So lockt und schmeichelt er sich selbst ins Leben hinein. Ist er aber darin, dann zieht die Qual das Verbrechen und das Verbrechen die Qual herbei: Greuel und Verwüstung füllen den Schauplatz. Es ist das Thema des Aischylos.

Schopenhauer

Es wird uns Mitarbeitern der Weltbühne der Vorwurf gemacht, wir sagten zu allem Nein und seien nicht positiv genug. Wir lehnten ab und kritisierten nur und beschmutzten gar das eigene deutsche Nest. Und bekämpften – und das sei das Schlimmste – Haß mit Haß, Gewalt mit Gewalt, Faust mit Faust.

   Es sind eigentlich immer dieselben Leute, die in diesem Blatt zu Worte kommen, und es mag einmal gesagt werden, wie sehr wir alle innerlich zusammenstimmen, obwohl wir uns kaum kennen. Es existieren Nummern dieser Zeitschrift, die in einer langen Redaktionssitzung entstanden zu sein scheinen, und doch hat der Herausgeber mutterseelenallein gewaltet. Es scheint mir also der Vorwurf, wir seien negativ, geistig unabhängige und von einander nicht beeinflußte Männer zu treffen. Aber sind wirs? Sind wirs denn wirklich?

   Ich will einmal die Schubladen unsres deutschen Schrankes aufmachen und sehen, was darinnen liegt.

   Die Revolution. Wenn Revolution nur Zusammenbruch bedeutet, dann war es eine; aber man darf nicht erwarten, daß die Trümmer anders aussehen als das alte Gebäude. Wir haben Mißerfolg gehabt und Hunger, und die Verantwortlichen sind davongelaufen. Und da stand das Volk: die alten Fahnen hatten sie ihm heruntergerissen, aber es hatte keine neue.

   Der Bürger. Das ist – wie oft wurde das mißverstanden! – eine geistige Klassifizierung, man ist Bürger durch Anlage, nicht durch Geburt und am allerwenigsten durch Beruf. Dieses deutsche Bürgertum ist ganz und gar antidemokratisch, dergleichen gibt es wohl kaum in einem andern Lande, und das ist der Kernpunkt alles Elends. Es ist ja nicht wahr, daß sie in der Zeit vor dem Kriege unterdrückt worden sind, es war ihnen tiefstes Bedürfnis, emporzublicken, mit treuen Hundeaugen, sich zurechtstoßen zu lassen und die starke Hand des göttlichen Vormunds zu fühlen! Heute ist er nicht mehr da, und fröstelnd vermissen sie etwas. Die Zensur ist in Fortfall gekommen, brav beten sie die alten Sprüchlein weiter, ängstlich plappernd, als ob nichts geschehen sei. Sie kennen zwischen patriarchalischer Herrschaft und einem ins Räuberhafte entarteten Bolschewismus keine Mitte, denn sie sind unfrei. Sie nehmen alles hin, wenn man sie nur verdienen läßt. Und dazu sollen wir Ja sagen?

   Der Offizier. Wir haben hier nachgewiesen, warum und inwiefern der deutsche Offizier im Kriege versagt hat, und was er an seinen Leuten gesündigt. Es geht ja nicht um den Stand – Angriffe gegen eine Kollektivität sind immer ungerecht –: es geht um den schlechten Geist, der den Stand beseelte und der sich tief in das Bürgertum hineingefressen hatte. Der Leutnant und seine – sagen wir immerhin: Geistigkeit war ein deutsches Ideal, und der Reserve-Offizier brauchte keine lange Zeit, in die Uniform hineinzuwachsen. Es war die infernalische Lust, den Nebenmenschen ungestraft zu treten, es war die deutsche Lust, im Dienst mehr zu scheinen, als man im Privatleben ist, das Vergnügen, sich vor seiner Frau, vor seiner Geliebten aufzuspielen, und unten krümmte sich ein Mensch. Eine gewisse Pflichterfüllung des Offiziers (und sein Geist saß auch in vielen untern Chargen) soll nicht geleugnet werden, aber sie geschah oft nur auf der Basis der Übersättigung und der übelsten Raffgier. Die jungen Herren, denen ich im Kriege hinter die Karten gucken konnte, machten keinen hervorragenden Eindruck. Aber es geht ja nicht um die einzelnen, und wie soll je eine Besserung kommen, wenn wir es jetzt nicht sagen! Jetzt, denn später hat es keinen Sinn mehr; jetzt, denn später, wenn das neue Heer aufgebaut ist, wäre es überflüssig, noch einmal die Sünden des alten Regimes aufzublättern. Und es muß den Deutschen eingehämmert werden, daß das niemals wiederkommen darf, und es muß allen gesagt werden, denn es waren ja nicht die Sünden gewisser reaktionärer Kreise, sondern alle, alle taten mit! Das Soldatenelend – und mit ihm das Elend aller »Untergebenen« in Deutschland – war keine Angelegenheit der politischen Überzeugung: es war eine der mangelnden Kultur. Die übelsten Instinkte wurden in entfesselten Bürgern wachgerufen, gab ihnen der Staat die Machtfülle eines »Vorgesetzten« in die Hand. Sie hat ihnen nicht gebührt. Und dazu sollen wir Ja sagen?

   Der Beamte. Was haltet ihr von einer Verwaltung, bei der der Angestellte wichtiger ist als die Maßnahmen, und die Maßnahme wichtiger als die Sache? Wie knarrte der Apparat und machte sich imponierend breit! Was war das für ein Gespreize mit den Ämtern und den Ämtchen! Welche Wonne, wenn einer verfügen konnte! Von allen andern Dienststellen – und es gab ja so viele – wurde er unterdrückt: jetzt durfte er auch einmal! Und die Sache selbst ersoff in Verordnungen und Erlassen, die kleinen Kabalen und Reibereien in den Ämtern füllten Menschenleben aus, und der Steuerzahler war wehrlos gegen sein eigenes Werk. Und dazu sollen wir Ja sagen?

   Der Politiker. Politik kann man in diesem Lande definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung. Die Politik war bei uns eine Sache des Sitzfleisches, nicht des Geistes. Sie wurde in Bezirksvereinen abgehaspelt und durchgehechelt, und gegen den Arbeiter standen alle andern zusammen. Vergessen war der Geist, auf dessen Grundlage man zu Vorschlägen und Gesetzen kam, vergessen die Gesinnung, die, Antrieb und Motiv in einem, erst verständlich und erklärbar machte, was man wollte. Der Diplomat alter Schule hatte abgewirtschaftet, »er besitzt keinen modernen Geist«, sagten die Leute; nun sollte der Kaufmann an seine Stelle treten. Aber der besitzt ihn auch nicht. Eine wilde Überschätzung des Wirtschaftlichen hob an. Feudale und Händler raufen sich um den Einfluß im Staat, der in Wirklichkeit ihnen beiden unter der Führung der Geistigen zukommen sollte. Und dazu sollen wir Ja sagen?

   Daß der Bürger zetert, dem anständige Politik nichts ist als Geschäftsstörung, nimmt uns nicht wunder. Daß Geistige gegen uns eifern, schon mehr. Wozu führen denn letzten Endes die Erkenntnisse des Geistes, wenn man nicht ein Mal von den Höhen der Weisheit herunterklettert, ihre Ergebnisse auf das tägliche Leben anwendet und das zu formen versucht nach ihrem Ebenbilde? Nichts ist bei uns peinlicher und verhaßter als konkret gewordene Geistigkeit. Alles darfst du: die gefährlichsten Forderungen aufstellen, in abstracto, Bücherrevolutionen machen, den lieben Gott absetzen – aber die Steuergesetzgebung, die machen sie doch lieber allein. Sie haben eine unendlich feine Witterung und den zuverlässigsten Instinkt gegen alles, was ihre trübe Geschäftigkeit stören kann, ihr Mißtrauen ist unsäglich, ihre Abneigung unüberwindbar. Sie riechen förmlich, ob sich deine Liebe und dein Haß mit ihrem Kolonialwarenladen verträgt, und tun sies nicht: dann gnade dir Gott!

   Hier steht Wille gegen Willen. Kein Resultat, kein Ziel auf dieser Erde wird nach dem logisch geführten Beweis ex argumentis gewonnen. Überall steht das Ziel, gefühlsmäßig geliebt, vorher fest, die Argumente folgen, als Entschuldigung für den Geist, als Gesellschaftsspiel für den Intellekt. Noch niemals hat einer den andern mit Gründen überzeugt. Hier steht Wille gegen Willen: wir sind uns über die Ziele mit allen anständig Gesinnten einig – ich glaube, was an uns bekämpft wird, ist nicht der Kampf: es ist die Taktik.

   Aber wie sollen wir gegen kurzstirnige Tölpel und eisenharte Bauernknechte anders aufkommen als mit Knüppeln? Das ist seit Jahrhunderten das große Elend und der Jammer dieses Landes gewesen: daß man vermeint hat, der eindeutigen Kraft mit der bohrenden Geistigkeit beikommen zu können. Wenn wir andern – die wir hinter die Dinge gesehen haben, die wir glauben, daß die Welt, so wie sie ist, nicht das letzte Ziel für Menschen sein kann – keinen Exekutor unsrer geistigen Gesinnung haben, so sind wir verdammt, ewig und auch fürderhin unter Fleischergesellen zu leben, und uns bleiben die Bücher und die Tinte und das Papier, worauf wir uns ergehen dürfen. Das ist so unendlich unfruchtbar, zu glauben, man könne die negative Tätigkeit des Niederreißens entbehren, wenn man aufbauen will. Seien wir konkret. Eine Naumannsche Rede in Weimar verpflichtet zu gar nichts: der Beschluß irgendeines Gemeindekollegiums zeigt uns den Bürger in seiner Nacktheit.

   Der unbedingten Solidarität aller Geldverdiener muß die ebenso unbedingte Solidarität der Geistigen gegenüberstehen. Es geht nicht an, daß man feixenden Bürgern das Schauspiel eines Kampfes liefert, aus dem sie nur und ausschließlich heraushören: dürfen wir weiter schachern, oder dürfen wir es nicht? Dürfen wir weiter in Cliquen und Klüngeln schieben, oder dürfen wir es nicht? Nur das wird gehört, und keine metaphysische Wahrheit und kein kritizistischer Irrtum.

   Ist schon alles vergessen? Gleiten wir schon wieder in den behaglichen Trott hinüber, in dem Ruhe die erste und letzte Pflicht ist? Schon regt sich allerorten der fade Spruch: »Es wird nicht so schlimm gewesen sein.« – »Ihr Herr Gemahl ist an Lungenentzündung gestorben?« sagte jener Mann, »na, es wird nicht so schlimm gewesen sein!«

   Es ist so schlimm gewesen. Und man mache ja nicht wieder den Versuch, zu behaupten, die »Pionierarbeit des deutschen Kaufmanns« werde uns »schon herausreißen«! Wir sind in der ganzen Welt blamiert, weil wir unsre besten Kräfte tief im Land versteckt und unsre minderwertigen hinausgeschickt haben. Aber schon regen sich die Stimmen, die dem Deutschen einzureden versuchen, es werde, wenn er nur billige Ware liefere, sich alles einrenken lassen. Das wollen wir nicht! Wir wollen nicht mehr benutzt sein, weil unsre jungen Leute im Ausland alle andern unterboten haben, und weil man bei uns schuftete, aber nicht arbeitete. Wir wollen geachtet werden um unsrer selbst willen.

   Und damit wir in der Welt geachtet werden, müssen wir zunächst zu Haus gründlich rein machen. Beschmutzen wir unser eigenes Nest? Aber einen Augiasstall kann man nicht beschmutzen, und es ist widersinnig, sich auf das zerfallene Dach einer alten Scheune zu stellen und da oben die Nationalhymne ertönen zu lassen.

   Wir sollen positive Vorschläge machen. Aber alle positiven Vorschläge nützen nichts, wenn nicht die rechte Redlichkeit das Land durchzieht. Die Reformen, die wir meinen, sind nicht mit Vorschriften zu erfüllen, und auch nicht mit neuen Reichsämtern, von denen sich heute jeder für sein Fach das Heil erhofft. Wir glauben nicht, daß es genügt, eine große Kartothek und ein vielköpfiges Personal aufzubauen und damit sein Gebiet zu bearbeiten. Wir glauben, daß das Wesentliche auf der Welt hinter den Dingen sitzt, und daß eine anständige Gesinnung mit jeder, auch mit der schlechtesten, Vorschrift fertig wird und sie gut handhabt. Ohne sie aber ist nichts getan.

   Was wir brauchen, ist diese anständige Gesinnung.

   Wir können noch nicht Ja sagen. Wir können nicht einen Sinn stärken, der über den Menschen die Menschlichkeit vergißt. Wir können nicht ein Volk darin bestärken, seine Pflicht nur dann zu tun, wenn jedem Arbeitenden ein Popanz von Ehre aufgebaut wird, der sachlicher Arbeit nur im Wege ist. Wir können nicht zu einem Volk Ja sagen, das, noch heute, in einer Verfassung ist, die, wäre der Krieg zufälligerweise glücklich ausgegangen, das Schlimmste hätte befürchten lassen. Wir können nicht zu einem Land Ja sagen, das von Kollektivitäten besessen ist, und dem die Korporation weit über dem Individuum steht. Kollektivitäten sind nur ein Hilfsmittel für die einzelnen. Wir können nicht Ja zu denen sagen, deren Früchte die junge Generation darstellt: ein laues und flaues Geschlecht, angesteckt von dem kindischen Machthunger nach innen und der Gleichgültigkeit nach außen, den Bars mehr zugetan als der Bravour, von unsäglicher Verachtung für allen Sturm und Drang, den man zur Zeit nicht mehr trägt, ohne Flamme und ohne Schwung, ohne Haß und ohne Liebe. Wir sollen laufen, aber unsre Schenkel sind mit Schnüren gefesselt. Wir können noch nicht Ja sagen.

   Leute, bar jedes Verständnisses für den Willen, der über die Tagesinteressen hinausheben will – man nennt das hierzulande: Realpolitiker – bekämpfen uns, weil wir im Kompromiß kein Heil sehen, weil wir in neuen Abzeichen und neuen Aktenstücken kein Heil sehen. Wir wissen wohl, daß man Ideale nicht verwirklichen kann, aber wir wissen auch, daß nichts auf der Welt ohne die Flamme des Ideals geschehen ist, geändert ist, gewirkt wurde. Und – das eben scheint unsern Gegnern eine Gefahr und ist auch eine – wir glauben nicht, daß die Flamme des Ideals nur dekorativ am Sternenhimmel zu leuchten hat, sondern sie muß hienieden brennen: brennen in den Kellerwinkeln, wo die Asseln hausen, und brennen auf den Palastdächern der Reichen, brennen in den Kirchen, wo man die alten Wunder rationalistisch verrät, und brennen bei den Wechslern, die aus ihrer Bude einen Tempel gemacht haben.

   Wir können noch nicht Ja sagen. Wir wissen nur das eine: es soll mit eisernem Besen jetzt, grade jetzt und heute ausgekehrt werden, was in Deutschland faul und vom Übel war und ist. Wir kommen nicht damit weiter, daß wir den Kopf in ein schwarz-weiß-rotes Tuch stecken und ängstlich flüstern: Später, mein Bester, später! nur jetzt kein Aufsehen!

   Jetzt.

   Es ist lächerlich, einer jungen Bewegung von vier Monaten vorzuwerfen, sie habe nicht dasselbe Positive geleistet wie eine Tradition von dreihundert Jahren. Das wissen wir.

   Wir stehen vor einem Deutschland voll unerhörter Korruption, voll Schiebern und Schleichern, voll dreimalhunderttausend Teufeln, von denen jeder das Recht in Anspruch nimmt, für seine schwarze Person von der Revolution unangetastet zu bleiben. Wir meinen aber ihn und grade ihn und nur ihn.

   Und wir haben die Möglichkeit, zu wählen: bekämpfen wir ihn mit der Liebe, bekämpfen wir ihn mit Haß? Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. Mit Haß gegen jeden Burschen, der sich erkühnt hat, das Blut seiner Landsleute zu trinken, wie man Wein trinkt, um damit auf seine Gesundheit und die seiner Freunde anzustoßen. Mit Haß gegen einen Klüngel, dem übermäßig erraffter Besitz und das Elend der Heimarbeiter gottgewollt erscheint, der von erkauften Professoren beweisen läßt, daß dem so sein muß, und der auf gebeugten Rücken vegetierender Menschen freundliche Idyllen feiert. Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit.

   Negativ? Viereinhalb Jahre haben wir das fürchterliche Ja gehört, das alles gut hieß, was frecher Dünkel auszuführen befahl. Wie war die Welt so lieblich! Wie klappte alles, wie waren alle d’accord, ein Herz und keine Seele, wie bewegte sich die künstlich hergerichtete Landschaft mit den uniformierten Puppen darin zum Preise unsrer Herren! Es war das Thema des Anakreon. Und mit donnerndem Krachen ist das zusammengebrochen, was man früher für eisern gehalten hatte, und was nicht einmal Gußeisen war, die Generale fangen an, sich zu rechtfertigen, obgleich sie es gar nicht nötig hätten, keiner will es gewesen sein, und die Revolutionäre, die zu spät kamen und zu früh gebremst wurden, werden beschuldigt, das Elend herbeigeführt zu haben, an dem doch Generationen gewirkt hatten. Negativ? Blut und Elend und Wunden und zertretenes Menschentum – es soll wenigstens nicht umsonst gewesen sein. Laßt uns auch weiterhin Nein sagen, wenn es not tut! Es ist das Thema des Aischylos.


Autorenangabe: Kurt Tucholsky

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 13. März 1919, Nr. 12, S. 279.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 3, Texte 1919

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 2, S. 54 ff.

Friedhelm Greis, Stefanie Oswalt (Hg.): Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur Weltbühne, Berlin 2008, S. 26-31.

Auch eine Urteilsbegründung

In einem der jetzt üblichen Hexenprozesse ist Walther Victor als verantwortlicher Redakteur des Sächsischen Volksblattes in Zwickau zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden. Durch einen Beitrag seien dort eine staatlich geschützte Religionsgesellschaft und ihre Einrichtungen beleidigt. Vier Monate Gefängnis … dafür kann man schon eine ganze Menge Leute vom Reichsbanner in den Bauch knallen.
Unerörtert bleibe, ob dieses Urteil zu Recht ergangen ist oder nicht. Ich untersuche die Urteilsbegründung.
In dieser ist den beiden Juristen – Küntzel und Lindner – etwas durchgerutscht, was in Urteilsbegründungen sehr selten zu finden ist: nämlich die wahren Gründe, die das Urteil hervorgerufen haben. Es heißt da:

Bei der Strafzumessung hat das Schöffengericht als straferhöhend folgende Umstände berücksichtigt:Der Artikel, der weitesten Volkskreisen zugängig war, hat eine zersetzende Wirkung auf die Bevölkerung, namentlich auf die Jugendlichen, ausüben müssen. Das ergibt ohne weiteres Form und Inhalt dieses Aufsatzes. Durch den Artikel wird in der Bevölkerung die Ehrfurcht vor der christlichen Religion und ihren Einrichtungen in hohem Maße untergraben. Das muß eine Verrohung der sittlichen Anschauungen des Volkes und damit eine Erschütterung der Grundlage eines gesunden Volkstums und eines gefestigten Staatswesens zur Folge haben. Es ist in dieser Richtung nicht abzusehen, welcher Schaden durch diesen Artikel angerichtet worden ist. Weiterhin fiel in gleichem Sinne ins Gewicht, daß nach der Überzeugung des Gerichts die genannte zersetzende Wirkung auch der wahre und eigentliche Zweck des Aufsatzes ist. Es ist äußerlich eine Form gewählt, die den Aufsatz als Kritik des Strafvollzugs oder der lebenslänglichen Zuchthausstrafe erscheinen läßt, aber hinter diesem Gewande der Erzählung, des Witzes, der Satire verbirgt sich der geheime Zweck, unmerklich und dem Leser unbewußt Ehrfurchtslosigkeit vor der christlichen Religion und vor der hergebrachten, durch das Christentum begründeten sittlichen Weltanschauung unter dem Volke zu verbreiten. Dieser Zweck, der mit dem Abdruck des Artikels in kluger Berechnung verfolgt, aber in abgefeimter Weise verschleiert worden ist, muß als höchst verderblich und verwerflich bezeichnet werden. Deshalb ist eine empfindliche Strafe erforderlich.

Diese Begründung ist Wort für Wort und Satz für Satz eine grobe und ungehörige Beschimpfung aller jener, die nicht der Kirche angehören, und diese Urteilsbegründung ist nicht nur juristisch unhaltbar, sie ist auch in jeder Weise eindeutig tendenziös und politisch reaktionär. Es wird in ihr angenommen, daß außerhalb der christlichen Moral keine Sittlichkeit bestehe, und daß, wenn die Grundlagen der christlichen Ethik gefallen sind, wie es ja tatsächlich schon in weiten Bezirken der Fall ist, damit jede Ethik dahinschwände. Also müßten diese zwickauer Juristen Nietzsches gesammelte Werke beschlagnahmen, was im objektiven Verfahren möglich wäre. Das tun sie nicht, vermutlich, weil sie ihn nicht gelesen haben. Und sie tun es nicht, weil sich Nietzsche, der nach Joseph Wirth beinah ein so guter Schriftsteller ist wie Hitler, nur an die Gebildeten wendet – nicht aber, wie das zwickauer Volksblatt, an die breite Masse. Und nur dieser muß offenbar die Religion erhalten bleiben.
Wir verbitten uns das.
Selbstverständlich hat jede Religionsgemeinschaft Anrecht darauf, vor Schmähungen geschützt zu werden. Der Staat schützt nicht jede; Beschmutzungen von jüdischen Friedhöfen werden hierzulande erstaunlich milde geahndet. Ich habe auch unsern Gesinnungsfreunden gegenüber immer wieder betont, daß mir die grobe Art, die katholische Kirche zu bekämpfen, nicht gefällt und daß ich sie nicht für richtig halte. Nun wird aber auf beiden Seiten gesündigt: in der Hitze des Gefechts sind den Kirchengegnern Geschmacklosigkeiten unterlaufen, die nicht zu entschuldigen sind, was wiederum kein Wunder nimmt, wenn man die Polterreden kennt, die manchen Geistlichen auf den Kanzeln unterlaufen, wo man muntere politische Hetzreden hören kann. Sie bleiben Hetzreden, auch wenn sie in getragenem und feierlichem Tonfall vorgebracht werden.
Was aber hier in Zwickau gepredigt wird, geht denn doch über die Hutschnur. Und demgegenüber ist zu sagen:
Die christliche Religionsgemeinschaft ist nicht der Hort aller Sittlichkeit. Es gibt kein religiöses Monopol der Ethik, Millionen von anständigen und sittlich gefestigten Menschen schmähen die Kirche nicht, leben aber bewußt und ganz und gar an ihren Lehren vorbei, und sie tun recht daran. Es ist unrichtig, daß der, der die Lehren der Kirche überwunden hat, ein sittlich minderwertiges Individuum ist. Wer so versagt hat, wie das Christentum im Kriege, sollte uns nichts von Sittlichkeit erzählen. Und keine Strafe wird uns hindern, entgegen den beschimpfenden und höchst unjuristischen Darlegungen der zwickauer Juristen von einem gesetzlichen Rechte Gebrauch zu machen. Nämlich allen unsern Freunden und vor allem den Frauen einen Rat zu erteilen:
Tretet aus der Kirche aus. Tretet aus der Kirche aus. Tretet aus der Kirche aus.

Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 12. Mai 1931, Nr. 19, S. 680

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1931, S. 436 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 9, S. 204 ff.

Angebliche Tucholsky-Zitate

Im Internet kursieren Dutzende Zitate, die angeblich von Kurt Tucholsky stammen, jedoch nicht in dessen Werk belegt sind. Hier eine sicherlich unvollständige, aber vermutlich ständig zu erweiternde Zusammenstellung mit den häufigsten Falschzitaten (aktualisiert am 8. März 2023):

Als deutscher Tourist im Ausland steht man vor der Frage, ob man sich anständig benehmen muss oder ob schon deutsche Touristen dagewesen sind. (Aus dem Film: „Schloß Gripsholm“ von Kurt Hoffmann. Drehbuch: Herbert Reinecker, 1:00:58. „Muss ich mich anständig benehmen oder waren hier schon deutsche Touristen?“)

Auch wenn ein Deutscher nichts hat, Bedenken hat er. (Das Zitat lautet korrekt: „Denn wenn einer nichts hat: Bedenken hat er.“ Aus: Kulissen, in: Die Weltbühne, 14.6.1932)

Chanson ist Welttheater in drei Minuten.

Das Ärgerliche am Ärger ist, dass man sich schadet, ohne anderen zu nützen.

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

Der Horizont des Berliners ist längst nicht so groß wie seine Stadt.

Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik! (findet sich zwar in einem Tucholsky-Text (»Französischer Witz«), aber als angebliches Zitat eines französischen Diplomaten. Die Originalquelle lautet: J.-W. Bienstock et Curnonsky: T.S.V.P. Petites histoires de tous et de personne. Paris: Crès 1924, S. 6f)

Der Vorteil der Klugheit liegt darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger.
(Oder auf Spanisch: La ventaja de ser inteligente es que así resulta más fácil pasar por tonto. Lo contrario es mucho más difícil.) Die englischsprachige Version „The advantage of being smart is that you can always make the fool, while the opposite is impossible“ wird häufig Woody Allen zugeschrieben.

Der Wert einer Kultur lässt sich danach bemessen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht.

Deutsche – kauft deutsche Bananen! – Das Original lautet: Deutsche, kauft deutsche Zitronen! Erschienen in dem Text »Europa«, in: Die Weltbühne, 12. Januar 1932, S. 73

Die SPD ist und bleibt die Vorhaut der Arbeiterklasse. Immer wenn es ernst wird, zieht sie sich zurück. (Wohl ein Spontispruch aus den 1970er Jahren.)

Ein voller Terminkalender ist noch lange kein erfülltes Leben.

Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen. (Das Zitat lautet korrekt: Laß dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: «Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!» – Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen.)

Freiheit stirbt mit Sicherheit.

Gesetze sind Jungfrauen im Parlament, aber Huren vor Gericht.

Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte. (von Max Liebermann)

Ich glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Ich glaube keinem, der sie gefunden hat.

Jeder Krieg ist eine Niederlage. Denn Krieg vernichtet Leben.

Lasst uns das Leben genießen, solange wir es nicht begreifen.

Reisen ist die Sehnsucht nach dem Leben.

Sie dachten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung.

Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

Unterschätze nie die Macht dummer Leute, die einer Meinung sind.

Was nützen die besten Worte, wenn sie über die Wirklichkeit hinwegtäuschen. (von Tucholsky zitiert im Artikel „Leichenreden“ aus dem Buch: Das Marne-Drama des 15. Juli 1918, von Kurt Hesse, Berlin 1919).

Was unterscheidet Geschwister von wilden Indianerstämmen? Wilde Indianer sind entweder auf Kriegspfad oder rauchen Friedenspfeife – Geschwister jedoch können gleichzeitig beides. (Die korrekte Version lautet: Die Familie weiß alles, mißbilligt es aber grundsätzlich. Andere wilde Indianerstämme leben entweder auf den Kriegsfüßen oder rauchen eine Friedenszigarre: die Familie kann gleichzeitig beides.)

Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten.
(Wird auch Emmy Goldman zugeschrieben: „If voting changed anything they would make it illegal.“)

Wenn die Börsenkurse fallen (Dieses angebliche Tucholsky-Gedicht stammt von Richard Kerschhofer)

Wer die Sprache beherrscht, beherrscht auch das Denken der Menschen.

Wer nach allen Seiten offen ist, der kann nicht ganz dicht sein.

Zur Versachlichung der Impfdebatte (Dieses angebliche Tucholsky-Gedicht stammt vom Titanic-Autor Cornelius Oettle).

Sollte jemand eines dieser Zitate in Tucholskys Werk entdecken, bekommt er zur Belohnung ein Weltbühne-Lesebuch zugeschickt!

Kriegstagebuch

Von Siegfried Jacobsohn

Freitag, am einunddreißigsten Juli. Die Post ist ausgeblieben. Nach den bedrohlichen Nachrichten der letzten Tage kein gutes Zeichen. Wir nehmen, um Zehn, ein Segelboot. Im Nordhafen steht noch das Kriegsschiff, das all die Jahre ein Friedensschiff war. Vielleicht sieht und hört man dort allerlei. Matrosen im höchsten Ausguck. Eine ungewohnte Geschäftigkeit. Wenn Vaterlandsgesänge sie begleiten … Hurras herüber und hinüber. Zur freundlichen Antwort auf die einzige Frage der Stunde: Scherze und Kußhände für unsre Damen. Aber der Eindruck, als ginge es wirklich los. Stählern blitzender Kahn mit mörderischen Geschützen – wirst du im nächsten Sommer nicht wieder harmlose Wachtdienste tun? Kleine Halle für Wasserflugzeuge, an der man seit Juni unschuldig gebaut hat – wird von heut auf morgen deine Bestimmung rauher, schmerzhafter werden? Weißes Leuchttürmchen mit roter Mütze – was alles wirst du bestrahlen oder gnädig im Dunkel lassen? Ich klettere hinauf. (Ulkiger Selbstbetrug:) Kein Feind in Sicht. […] Die Kinder rufen uns zum Feuerwerk auf ihre Wiese. Krieg? Dummes Zeug.

Sonnabend, am ersten August. Oder doch nicht? Der Bäcker hat nicht mehr gebacken, weil er gestern Abend geheimnisvoll irgendwohin geholt worden ist. Freunde haben bei Nacht gepackt und wollen auf und davon. Ich bringe sie eine Stunde weit, in die abscheuliche Badestadt, wo die Schieber vormittags zu pokern beginnen. Heute nicht. Sie wissen nichts, aber fürchten alles und raufen sich Glatzen und Perücken ob ihren gestürzten Kursen. Einer spricht Tausender Stimmung aus: „In einer großen Zeit leben wir – ausgerechnet wir.“ Der Kaiser arbeitet offenbar immer noch für den Frieden, was ihm rechts – bis zur Majestätsbeleidigung in der Täglichen Rundschau – gehörig verübelt wird. Wer in Rußland regiert, und nach welchen Prinzipien, ist, wie das Meiste in diesem seltsamen Vorland Asiens, nicht zehn Europäern verständlich. Der letzte Hoffnungsschimmer sollen die innern Schwierigkeiten Frankreichs sein. Aber es scheint ja wirklich, als obs diesmal nicht anders ginge.

Fünfundzwanzig Zeilen „zur Veröffentlichung nicht zugelassen“.

Ich komme aus einer andern Gegend. Ich bin nicht blind für den Streifen Löwenzahn, der dort das Roggenfeld von der Heide trennt.

Zwei Zeilen gestrichen.

Ich habe ein Ohr für den Schrei der wilden und zahmen Vögel, die um mich und über mir menschlich, unmenschlich einander verfolgen und fliehen, während ich durch den festen Sand der Ebbezeit heimwärts stapfe. Noch immer, noch immer nicht hoffnungslos.

Zwei Zeilen gestrichen.

Da sind die Gazetten der letzten Tage. Entschieden ist also vorläufig nichts. Aber schon

Zehn Zeilen gestrichen.

Auf einmal fühlt sich der faulste Kopp: Kaiser und Reich, Blut und Tod, Fels und Meer, Etsch und Belt, Gott und Vaterland, bum, bum! Darin ist uns kein Volk über. Anderswo kauft man sich Söldner für das grauenhafteste aller Geschäfte: für die Tötung von Menschen. Wir mobilisieren, wenn es so weit ist, nicht nur die Männer, sondern auch die höhern Gefühle und schlagen jedem den Hut ein, der sie nicht in vorschriftsmäßiger Fülle aufweist. Das ärgste Mittelgut – in geistiger Beziehung – kommt hoch; und was das betrifft, daß es hoch kommt, so wird man sich anschließen. Luft, Luft, Clavigo! Ich renne hinaus. Es dämmert. Mir fällt auf, daß an einer harmlosen Scheunenwand ein Zettel klebt. Der Badewärter lädt doch niemals sonst hier oben in sein Segelboot. Nun, für dies Jahr hat sichs ausgesegelt. „Mobilmachung ist befohlen. Erster Mobilmachungstag: der zweite August. Der Gemeindevorsteher.“ Man kann nicht knapper, nicht eindeutiger, nicht preußischer sein. Es dunkelt. Der Leuchtturm, der vorgestern irreführende Farben entsandt und gestern das Meer mit Scheinwerfern abgesucht hatte: heut ist er außer Betrieb gesetzt. Das Licht erlosch.

[…] Dienstag, am vierten August.

Ein Tag, von Gott, dem hohen Herrn der Welt, gemacht zu süßerm Ding, als sich zu schlagen! Berlin soll andrer Meinung sein. Man schreibt mir, daß dort eine Begeisterung für den Krieg herrsche, die nicht erlebt und nicht geteilt zu haben ein Verlust für meine Seele bleiben werde. Nun, meine Seele ist im Zweifel, ob sie grade jetzt einen Aufschwung nehmen würde. Sie hat für ihre leuchtenden Stunden bisher wesentlich zartern Anlaß und Inhalt gehabt als einen Krieg aller gegen alle. Sie neigt dazu, eine Veredlung der Menschen erstrebenswerter zu finden als ihre schreckensvolle Verminderung. Sie hat beklemmende, atemraubende, blickverschleiernde Vorstellungen von dampfenden Gebeinen auf blutgenäßten Schlachtfeldern, von losgefetzten Körperteilen zwischen umgestülpten Kanonen, von brüllendem Neid der Verwundeten auf die Toten, von jammernden Frauen und hungernden Kindern. Außerdem wärs mir zu bequem, für einen Krieg begeistert zu sein, in den ich, bei noch so langer Dauer, niemals zu ziehen brauche. Aber sind denn Die in der Hauptstadt wirklich begeistert? Ich denke an Fontane. Der war ein so gutes märkisches Herz wie irgendeins, konnte Pulver riechen, hatte Kriegsgefangenschaft kennen gelernt, Preußenballaden gedichtet und – und dadurch nicht die Gabe verloren, hinter den Schein jeder Sache zu blicken und zu horchen. Also zögerte er nicht, das Hurra, womit Batterien gestürmt werden, sich höchst unheroisch zu deuten: „Jubel aus Angst“. Sollte das nicht auch die Formel für den Rausch der Berliner sein? Ich glaube an eine Massenhypnose, der selbst ausgepichte Skeptiker nicht widerstehen können, an alle Erscheinungen einer Kriegspsychose, an Scham vor dem Nebenmann, an schäumende Wut und zähneknirschenden Trotz eines überfallenen Volkes, an Selbstbetäubung, an die Flucht vor den nächstliegenden Befürchtungen in ein Allgemeingefühl, an was sonst ihr wollt – an Begeisterung im unverfälschten Sinn des Wortes glaub’ ich nicht. […]

Massenhypnose. Massenstimmung. Massenmeinung. Ich habe in einem Brief geschwärmt, daß ich noch nie so dankbar empfunden hätte, ein eigenes Blatt zu haben, wie grade jetzt, wo dies und das nicht länger verschwiegen werden dürfe. Und erhalte zur Antwort die Frage, ob ich endlich ganz verrückt geworden sei. Nichts davon kann heute gedruckt werden. Möglich ist: Gemeinplätze im Plakatstil zu deklamieren; der plattesten Zufriedenheit voll zu sein; dem Mob des Geistes die Worte von den Lippen zu nehmen – unmöglich: eine besondere Auffassung der Sachlage zu äußern. Erlaubt ist: Breitmäuligkeit; verboten: Unterscheidungsfähigkeit. Gekrönt wird: eine hemmungslose Kriegsdemagogie; gepönt: das Fragezeichen. Man wünscht eine feldgraue Uniform auch der öffentlichen Meinungsmacher. Deutsche Tageszeitung und Berliner Tageblatt sind tatsächlich nicht mehr auseinanderzuhalten. Aber müssen selbst die Wochenschriften …? Es wäre hart. Holde, freundliche Gewohnheit, das Dasein von mehreren Seiten zu betrachten, eine zerlegende Hirnkraft zu betätigen, für die Nuance das malende Wort an die rechte Stelle zu setzen – von dir soll ich lassen? Freiwillig: gern; wenn’s mir aus politischen oder kunstpolitischen Gründen nützlich erscheint. Gezwungen: in tormentis. Weswegen solch ein Zwang? Es ist ja nicht zu erwarten, daß ich die kindische Absicht haben werde, zum Widerstand gegen die Staatsgewalt aufzureizen oder durch kalten Spott einer unbedingt grandiosen Sache Abbruch zu tun – denn wem tät’ ich damit mehr Abbruch als mir! Ein Staat jedenfalls, der diese Mobilmachung leistet, der sich furchtlos nach zwei Fronten wehrt, der es mit der Hölle selbst aufnähme: der hat wahrhaft nicht nötig, die unschuldige Preßfreiheit eines kleinen Literaten einzuschränken, welcher nichts besitzt als sie. Ich werde mir in den nächsten Tagen vom Herzen herunterreden, was es bedrückt, und bin überzeugt, daß nichts gestrichen wird. […]

Sonntag, am neunten August. Der Zug wird dreizehn Stunden fahren. Nachdem der Bahnhofsschutzmann einen letzten Versuch gemacht hat, mich, dieses Mal als „Südfranzosen“, zu verhaften, aber vor der Durchschlagskraft meines Passierscheins kapituliert hat, steh ich endlich auf dem Bahnsteig. […] Ich stehe von früh um Elf bis nachts um Zwölf auf einem Fleck des Ganges, kann mich selten rühren und finde märchenhaft, was ich hier sehe. Keiner drängt, Keiner schimpft, Keiner klagt, Keiner wird müde. Jeder ist höflich, jeder ist lustig, jeder teilt mit jedem, was er zu essen bei sich hat oder auf den Stationen geschenkt bekommt – vom Oberlandesgerichtsrat bis zum Laufburschen. In Ludwigslust wird ein mächtiger Korb voll frisch gepflückter Kirschen, etwa fünfundzwanzig Pfund, weniger hereingereicht, als hineingeworfen. Ich fange ihn. Meine schöne, weizenblonde, knusprig braun gebrannte Nachbarin dreht aus meinen Zeitungen Tüten, ich fülle sie, ein Dritter verteilt sie, und als nach dieser erquickenden Mahlzeit eine Lehrerin ein humoristisches Danklied anstimmt, singen alle mit. Der Krieg wird nicht vergessen. Jeden Bahnhof schützen würdige Privatpersonen mit einer Flinte über der Schulter des schwarzen Sonntagsrocks. Andre tragen Kopfbedeckungen und Wehrgehänge, die den Dreißigjährigen Krieg erlebt zu haben scheinen. Familien nehmen Abschied von den Ihren. „Adjüs, min Korl“, ruft Vetter Michel irgendwo vor Wittenberge, „auf Wiedersehn im Massengrab!“ Der Rufer ist so drollig, daß nicht einmal dieser hanebüchene Satz verletzt. Auch die berlinischen Humore blühen. Zwei siebzehnjährige Bengels schildern, wie sie, durch ein Papier als Kriegsfreiwillige beglaubigt, seit einer Woche kreuz und quer herumkarjolen, von Regiment zu Regiment, nichts tun, das Deutsche Reich besehen, unterwegs mit Liebesgaben überschüttet werden und manchmal gar noch bares Geld erbeuten – schildern das mit einer Drastik, die der Peinlichkeit des Unternehmens einen Teil von ihrer Schärfe nimmt. Dem Volk wird jeder Tag zum Fest und selbst ein Riesenkrieg zur Industrie. Daneben lehnt ein Fähnrich der Marine. Wie aus den Büchern von … Verdammtes Kritikermetier! Umschattet. Spricht in den dreizehn Stunden keine Silbe. Lächelt nur manchmal, wenn den Witzen wirklich nicht zu widerstehen ist, ernst, beinah bitter. Man hat genügend Zeit, sich eine Kindheit, einen Landsitz, eine Mutter, Schwestern, andre Frauen auszumalen. Adlig, als wäre dieses Wort auf ihn geprägt. Voll Zucht in jeder Handbewegung. Bescheiden und doch selbstbewußt. Antinoos aus Holstein. (Verdammtes …!) Seine Gegenwart ist wie ein Hauch von wundervoller Schwermut über aller Ausgelassenheit. Man wird in solchen dreizehn Stunden doch wohl mürbe. Denn ich denke mir, als wäre ich die Gartenlaube: Wenn dieser eine Mensch von zweiundzwanzig Jahren, dies Abbild der Gesundheit, Schönheit, Kraft, nicht aus dem Krieg zurückkehrt, ist der Gewinn des Kriegs zu hoch bezahlt. Zwölf Uhr. Der Lehrter Bahnhof. Extrablätter: Viertausend Belgier gefangen. Der ganze Höllenlärm und Hexensabbat meiner teuern Vaterstadt. Ich bin da, wo ich doch nun einmal für die schwärzere Hälfte jedes Jahres hingehöre, und gehe morgen früh an meine Arbeit. Gute Nacht!


In: Die Schaubühne, 27. August / 17. September / 8. Oktober 1914. Wieder in: Friedhelm Greis, Stefanie Oswalt (Hg.): Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur „Weltbühne“. Lukas Verlag, Berlin 2008, S. 68-72

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