Ein Kind aus meiner Klasse

Für Hans M.
Neulich habe ich ein Kind aus meiner Klasse wiedergetroffen, nach so langen Jahren. Es war annähernd wie im Bilderbuch: Der arme Mann stand draußen am Zaun und bettelte, und der wohlhabende Mann stand drinnen und klopfte sich die Kuchenkrümel von der Weste. »Kennst du mich nicht mehr?« sagte der arme Mann leise. Da erkannte der Reiche den ehemaligen Mitschüler und … ich weiß nicht mehr, wie die Geschichte weitergeht. Jedenfalls ist das Kind aus meiner Klasse, mit dem ich damals auf dem alten Schulhof umherspazierte und die bessern Sachen absprach, inzwischen Regierungsrat geworden, und aus mir wird zu meinen Lebzeiten nun wohl nichts Rechtes mehr werden. Auch für nachher habe ich leichte Bedenken.
Mit diesem also habe ich mich über früher unterhalten. Das ist eine wunderschöne Unterhaltung, und es gibt nur ein Buch, worin sie richtig aufgezeichnet steht: das ist mein Lieblingsbuch ›Blaise, der Gymnasiast‹ von Philippe Monnier, das bei Albert Langen erschienen ist. Darin steht, was geschieht, wenn man sich später einmal wiedersieht: wie man niemals den Mann, sondern immer nur den Jungen erkennt, wie der kleine Schulkram fürs Leben haftet, wie man im Grunde ja doch immer derselbe geblieben, und wie alles vorgezeichnet ist. Was bleibt dann haften? Monnier: »Lévêque ist katholisch.« Aus – das ist alles, was er über den da weiß. Und er wird nie mehr über ihn wissen.
Ich habe ihn gleich wiedererkannt: er war noch derselbe feine, leise, sehr überlegene und sehr angenehme Mensch. Wir saßen nebeneinander bei Tisch, es waren schrecklich berühmte Leute um uns herum, aber ich sah und hörte nichts. Ich ließ sogar das Eis zweimal vorübergehn. Ich war wieder klein und ging auf dem Schulhof spazieren, ganz wie damals.
»Erinnern Sie sich noch … ?« – »Können Sie sich noch auf den … besinnen? Der Kerl hatte immer so schmutzige Hände und sagte wunderschön vor.« Alle Mitschüler kamen wieder, alle Lehrer, natürlich, und beinahe hätte ich gefragt, mitten unter den feinen Leuten: »Haben Sie Geographie gearbeitet? Ich habe keine Ahnung!«
Und als wir alle durchgehechelt hatten: die Professoren, den Direktor, den Kastellan und die ganzen Klassen über und unter uns – da hatte ich einen bittern Geschmack im Munde. Denn das Kind hatte mit seiner leisen Stimme gesagt: »Denken Sie doch nur … schade um all die verlorenen Jahre!« Es war das Todesurteil über die deutsche Schule, viel, viel härter und radikaler, als es die lauteste politische Versammlung aussprechen kann.
Die verlorenen Jahre … Ich erinnerte mich an Dinge, an die ich jahrzehntelang nicht mehr gedacht hatte – und jetzt waren sie auf einmal wieder da. Nein, gehauen hat man uns nicht. Es war auch nicht romantisch gewesen, niemand schoß sich tot, wenn er sitzen blieb, und von Frühlings Erwachen war gar keine Rede. Das erwachte eben bei jedem sachte vor sich hin und wurde so oder so wieder zur Ruhe gebettet. Einen Zögling Törleß hatten wir auch nicht unter uns. Aber um unsre Zeit haben sie uns bestohlen, das Schulgeld war verloren, die Jahre auch.
Langweilige Pedanten gab es überall. Unzulänglichkeiten der Lehrer, viele Fehler, wir waren auch nicht die Besten. Aber was hat man uns denn gelehrt –? Was hat man uns beigebracht –?
Nichts. Nicht einmal richtig denken, nicht einmal richtig sehen, richtig gehen, richtig arbeiten – nichts, nichts, nichts. Wir sind keine guten Humanisten geworden und keine guten Praktiker – nichts.
Er sagte: »Wenn man nicht zu Hause für sich gearbeitet hätte! Wenn man nicht eine anständige Erziehung gehabt hätte … !« Nun, ich, zum Beispiel, habe keine gehabt, und ich beneidete ihn sehr. Er sagte: »Was ich in der Kunstgeschichte, in der Völkergeschichte, in der Geographie Europas gelernt habe, das habe ich mir alles selbst beigebracht.« Wer hätte es ihm auch sonst beibringen sollen. Unsre Schule vielleicht?
Unsre Schule war noch nicht so nationalistisch verhetzt wie die heutige. Unsre Lehrer waren nicht unintelligenter, fauler, fleißiger, klüger als andre Lehrer auch. Es war eine Schule, die etwas unter dem Durchschnitt lag, aber doch nahe am Durchschnitt. Und was lernten wir?
Deutsch: Lächerliches Zerpflücken der Klassiker; törichte Aufsätze, schludrig und unverständig korrigiert; mittelhochdeutsche Gedichte wurden auswendig gelernt, niemand hatte einen Schimmer von ihrer Schönheit.
Geschichte: Eine sinn- und zusammenhanglose Zusammenstellung von dynastischen Zahlen. Wir haben niemals Geschichtsunterricht gehabt.
Geographie: Die Nebenflüsse. Die Regierungsbezirke. Die Städtenamen.
Latein: Es wurde gepaukt. Ich habe nie einen lateinischen Schriftsteller lesen können.
Griechisch: siehe Latein.
Französisch: Undiskutierbar.
Naturwissenschaften: Gott weiß, welcher Unfug da getrieben wurde, hier und in der Physik-Stunde! Kein Experiment klappte – es sei denn jenes, wie man mit völlig unzulänglichen Mitteln einen noch schlechtem Physik-Unterricht erteilen kann.
Mathematik: Mäßig.
Und so fort. Und so fort.
Ich denke nicht mit Haß an meine Schulzeit zurück – sie ist mir völlig gleichgültig geworden. Schultragödien haben wir nie gehabt, furchtbare Mißstände auch nicht. Aber schlechten Unterricht.
Es war ja nachher auf der Universität ähnlich – nur stand da der Unfähigkeit der Professoren, zu lehren, wenigstens oft ihr wissenschaftlicher Wert gegenüber. Aber ich denke ein bißchen traurig an die Schule zurück, heute, da ich den Wert der Zeit schätzen gelernt habe. Sie haben uns um die Zeit betrogen, um unsre Zeit und um unsre Jugend. Wir hatten keine Lehrer, wir hatten keine Führer, wir hatten Lehrbeamte, und nicht einmal gute. Ich besinne mich, nach dem Abiturium eines Freundes gefragt zu haben: »Na, und die Pauker?« – »Dumm, wie immer!« sagte er – es war so viel selbstverständliche Verachtung in seiner Stimme. Nicht einmal Haß.
Ich weiß lange nicht so viel, wie ich wissen müßte – vieles fehlt mir; für kaum ein Gebiet, das ein bißchen abseits liegt, bringe ich auch nur das scholastisch geschulte Denken mit, und das wäre ja eine Menge. Nichts habe ich mitgebracht. Was wir wissen und können, das haben wir uns mit unsäglicher Mühe nachher allein beibringen müssen, nachher, als es zu spät war, wo das Gehirn nicht mehr so aufnahmefähig war wie damals. Vielleicht wäre doch manches besser gegangen mit einem guten Unterricht!
Und sie sind so stolz auf ihre Schule! Wie sie blöken, wenn sie ihre Philologenkongresse abhalten, welche großen Worte, welche Töne! Hat sich etwas geändert? Ich weiß nicht, was Entschiedene Schulreform ist – aber ich weiß, daß es entschieden keine Schulreform ist, was man heute treibt. Vielleicht werden es ganz gute Unteroffiziere werden oder Verzweifelte, die da herauskommen – gebildete Menschen, belehrte Menschen instruierte Menschen sind es sicherlich nicht.
Vor dem Kriege ist einmal ein Erinnerungsbuch über die Schule erschienen – von Graf -, darin haben viele bekannte Männer der damaligen Zeit ihre Schulerinnerungen erzählt. Es war erschreckend, zu sehen, welcher Haß, welche Abneigung, welche Verachtung aus den Zeilen heraussprangen!
Wir zucken nur die Achseln. Aber wenn das Kind aus meiner Klasse nun wieder ein Kind hat – was dann? Es wird in dieselben Schulen gesteckt werden müssen, in dieselben Schulen, für die kein Geld da ist – weil wir ja fünfhundert Millionen für unsern Reichswehretat brauchen – in dieselben Schulen, in denen der Arme an seiner Zeit bestohlen wird, und über die der Reiche lacht. Nicht wahr, wir haben auch die alten Lehrer-Anekdoten aufgefrischt: von dem Mann, der keine Fremdwörter gebrauchte und also keinen Zylinderhut, sondern eine ›Walze‹ hatte; von dem »Süßen«; und von dem ›Jewaltijen Leuhren und von allen den armen Narren.‹ Das ist nun vorbei. Geblieben sind wir und mit uns die übeln Wirkungen dieser lächerlichen Schulbildung, die keine war. Wenn das Kind aus meiner Klasse etwas geworden ist, so ist es das trotz der Schule, nicht wegen der Schule geworden.
Denn die deutsche Schule hat heute ein Ideal, das wohl das niedrigste von allen genannt werden muß; ihre Leitgedanken, ihre Idee, ihre Lehrgänge liegen zuunterst auf aller menschlichen Entwicklungsstufe: sie ist militarisiert.

Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 3. März 1925, Nr. 9, S. 315.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1925, S. 126 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 4, S. 51 ff.

Die moderne politische Satire in der Literatur

Roda Roda sagt: „Humor ist die Verdauung der Satten, Satire der Schrei der Hungrigen.“ Das ist das Wesen der Satire, aber wie erreicht sie ihre großen Wirkungen, mit welchen Mitteln arbeitet sie? Ich möchte hier einige Ausführungen des Genossen Eduard Fuchs zitieren: Jede Kunst, sagt Eduard Fuchs, ist Karikatur, wenn man nämlich unter Karikatur Hinweglassung des Unwesentlichen und die dadurch notwendige Betonung des Wesentlichen versteht. In ganz besonderem Maße wendet die Satire die Karikatur als Mittel an.
Aus diesen klaren und richtigen Worten folgt zweierlei: erstens, daß man verstanden haben muß, bevor man karikiert, daß man überhaupt nur das satirisch behandeln kann, was man in seinem tiefsten Kern begriffen hat, und zweitens, daß notwendigerweise die rechtsstehenden Parteien keine gute Satire haben können, weil das restlose Kapieren der Dinge Objektivität und oft genug Respektlosigkeit erfordert. Der Satiriker darf keine, aber auch gar keine Autorität anerkennen. Das widerstrebt den Priestern der Autorität und den Halben, Lauen, und niemals werden sie eine künstlerisch gute Satire hervorbringen können (Ludwig Thoma hat das einmal im März sehr lustig gegen das Zentrum bewiesen).
Die Satire der rechtsstehenden Parteien ist denn auch danach. Die Witzblätter sind fade, lasch, feige und behandeln alles mehr von der komischen Seite aus, anstatt anzugreifen und niederzureißen. Niemals stehen diese gewerbsmäßigen Witzemacher über der Sache: ihre Pfeile gehen stets von unten nach oben. Da sind die Lustigen Blätter in Berlin, die ohne Gesinnung, aber mit viel Ungeschick alles bewitzeln, da ist der Kladderadatsch, der sich zu einem langweiligen Witzprofessorenkollegium entwickelt hat, da sind die Bücher bürgerlicher Autoren, die in Vers und Prosa nach links um sich hauen. Wilhelm Hegeler: „Des Königs Erziehung“, eine dumme utopistische Geschichte, in der die „Handleute“, wie er die sozialdemokratischen Arbeiter nennt, sich als versoffene und verlauste Trottel repräsentieren. Das Gesudel von Max Brinkmann: „Genosse Tuteweit“ ist geistloser und sehr schlecht kopierter Busch.
Das wäre die rechte Gegend. Ganz links, auf anarchistischer Seite, steht Erich Mühsam, der eine Zeitlang die Canaille, ein wöchentlich erscheinendes Beiblatt zum Freien Arbeiter, redigierte. Eines seiner Gedichte, „Der Revoluzzer“, ist ausdrücklich der deutschen Sozialdemokratie gewidmet. Die Tendenz ist die bekannte: Ihr seid im Grunde auch zu schlapp! Aber Mühsam ist ein ausgezeichneter Formenkünstler, und der Angriff kann sich sehen lassen.
Die gute politische Satire ist, wie wir gesehen haben, ein Vorrecht der Opposition. Und hier finden sich auch ihre besten Vertreter. In der Partei selbst Rudolf Franz, der hie und da im Vorwärts seine Beiträge veröffentlicht, gut pointierte und scharfe Gedichte, und der auch durch sein witziges Buch „Die politischen Märchen“ bekannt geworden ist. Der süddeutsche Postillion, den Eduard Fuchs zirka sieben Jahre redigiert hat, ist leider eingegangen. Heinrich v. Reder, Otto Erich Hartleben, Henckell, Holz, Ernst Klaar zählten zu seinen Mitarbeitern, und eine Sammlung Aphorismen aus diesem Blatt, die anonym unter dem Titel „Gedanken eines arbeitslosen Philosophen“ erschienen ist, enthält das Beste, was in Deutschland in epigrammatischer Form über Politik gesagt worden ist. Politische Satiren gibt es auch von dem großen Stilisten Gustav Meyrink. Eine ist im März erschienen, eine ist in seinem Buch „Gustav Meyrinks Wachsfigurenkabinett“ nachzulesen. Meisterhaft, wie hier das Grausige und das Scharfe, das fast an Majestätsbeleidigung grenzt, ineinandergearbeitet sind. Bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung: gerade in der politischen Satire ist die Form gar nicht hoch genug zu schätzen. Es kommt bei vielen Ideen nur auf die Formulierung an. Es müssen sich die geprägten Schlagworte und Pointen dem Leser sofort einprägen, und man kann sogar sagen, daß das sicherste Kennzeichen für die Güte eines politischen Gedichts ist, daß man Stellen daraus sofort auswendig weiß. Ein Meister in solcher Formulierung ist Roda Roda, der wundervoll Geschichten erzählen kann, wie zum Beispiel die von dem alten Grenadier Pospischill, der vierzehn Jahre lang in derselben Stube in der Kaserne in demselben Bett geschlafen hat und nun in ein anderes Stockwerk übersiedeln soll: „Verfluchtes Zigeunerleben“, sagte er. Diese Geschichte ist „Konservativ“ überschrieben. Oder die Geschichte von dem Sozialdemokraten: Der Leutnant Franzl kommt bei der Musterung der neuen Rekruten purpurn erregt angelaufen und sagt: „Denkt’s euch, – ich hab‘ an Sozialisten.“ – „Was du nicht sagst“, antwortet alles wie aus einem Mund. – „Ja. Aber es scheint ein ganz gutartiger zu sein – ich hab‘ ihn probiert mit ’n Säbel in Hintern zu pieken – er hat nichts dergleichen getan.“ (Zu finden in „Der Schnaps, der Rauchtabak und die verfluchte Liebe“, Schuster u. Löffler, Berlin.)
Neben Ludwig Thoma ist der bedeutendste politische Satiriker Alfred Kerr, dessen Gedichte einhauen wie ein gutsitzender Säbelhieb. Da ist im Pan, einer berliner Zeitschrift, seinerzeit ein Gedicht von ihm erschienen: „Der deutsche Schwund“, und es hatte Strophen über Moabit, immer mit dem Kehrreim „wenn ihr man Geschäfte macht“:

Wenn sie sanken, wenn sie lagen,
wurden sie halbtot geschlagen;
mancher, wenn sein Krafthieb saß,
scherzte: „Hure, Saustück, Aas!“
Greise haut man über ’n Kopp;
rote Suppe … na und ob.
Leidet’s Kinder, gebt nicht acht –
wenn ihr man Geschäfte macht!

Eine Sammlung dieser famosen politischen Gedichte existiert leider nicht. Es wäre zu wünschen, daß sich dieser bedeutendste Kritiker Deutschlands einmal dazu entschließt, diese unglaublich schlagsicheren Verse gesammelt herauszugeben.
Das A und O der politischen deutschen Satire ist der Simplicissimus. Dieses herrliche Blatt ist 1896 gegründet worden und hat am Anfang ungeheures Aufsehen und bis heute eine tiefe Wirkung auf das Bürgertum ausgeübt. Die ersten fünf Jahrgänge des Blattes sind vergriffen und werden hoch bezahlt. An ihm arbeitet seit 1899 ein satirisches Genie: Ludwig Thoma. Was dieser grobe und kräftige Mensch in diesen dreizehn Jahren geleistet hat, ist ungeheuer. Er hat überhaupt erst wieder eine gute politische Satire geschaffen, vorbildlich in der Form, rücksichtslos im Inhalt. Wir haben allen Grund, diesem einzigen Künstler dankbar zu sein; er hat unendlich viel Gutes getan. Er schlägt, und die Getroffenen stehen nicht wieder auf. Er lacht, und der Blamierte kann sich in den Erdboden verkriechen. Hier eine Probe:

Die Agrarier


Das rafft sich aus des Lebens Schüssel
Und nimmt sich, ohne lang zu schauen
Und will nicht erst ästhetisch kauen
Und trägt die Seligkeit im Rüssel.
Und was euch andre sagen mögen –
So einfach ist ihr ganzes Wesen!
Sie wünschen ohne Federlesen
Allein zu sein an vollen Trögen.
Nichts von Ideen, Interessen!
Nichts in das Allgemeine schweifen,
Nichts Unbegreifliches begreifen
Nein, weiter nichts als einfach fressen.
Und steht das Futter bis zum Rande,
Beginnt’s wohl einem aufzustoßen,
So nebenbei ein Wort vom großen,
Von unserm teuren Vaterlande.

Evoë, Peter Schlemihl, Evoë!
Peter Schlemihl – das ist das Pseudonym Ludwig Thomas, und wenn man sieht, daß ein Gedicht so unterzeichnet ist, dann weiß man: hier bekommt es einer ab, aber ordentlich. Vorzüglich ist auch Dr. Owlglaß oder – wie er sich manchmal nennt: Ratatöskr -: niederträchtig und bitter, überlegt und weise. Seine beiden Gedichtsammlungen, die leider nicht alles enthalten, was er geschrieben hat, sondern nur eine Auswahl, heißen: „Der saure Apfel“ und „Gottes Blasbalg“.
Es ist eine Freude, in den alten Jahrgängen des Simplicissimus zu blättern. Immer wieder springt ein gut formulierter Witz heraus; Dinge, die längst die Aktualität verloren haben, sind wieder so lebendig wie am ersten Tag, und man freut sich immer wieder dieser kleinen tapferen Schar, die über aller Tendenz das Künstlerische nie vergessen hat (aber auch über dem Künstlerischen die Tendenz nicht).
Für die Wirkung dieser Satiren gibt es keinen besseren Beweis als die Unterdrückungsversuche der Behörde. Die Satire, die sich ganz systematisch und beinahe abgegrenzt gegen die einzelnen Ressorts der Verwaltung richtet: Justiz, Polizei, Äußeres, Inneres, Militär, Steuern, Beamte – ist der Zielpunkt vieler (danebengegangener) behördlicher Angriffe gewesen. Auf Grund der §§ 20, 21 und 23 des Preßgesetzes vom 7. Mai 1874 können periodisch erscheinende Druckschriften unter gewissen Voraussetzungen beschlagnahmt werden. Es gibt zwar keine Präventivzensur bei uns; aber die Zeitschriften müssen mit einigen Ausnahmen sofort nach Erscheinen unentgeltlich der Behörde zugestellt werden. Diese hat dann das Beschlagnahmungsrecht und, falls durch richterliche Entscheidung ein bezügliches Urteil erfolgt, auch die Befugnis (§§ 41, 42 Strafgesetzbuch), die Exemplare, die im Besitz des Druckers, Verlegers und Redakteurs sind, oder zum öffentlichen Verkauf ausliegen, zu vernichten, und die zur Herstellung benutzten Formen und Platten unbrauchbar zu machen. Das ist seinerzeit mit Nr. 31 des dritten Jahrgangs des Simplicissimus geschehen, die heute eine großen Wert repräsentiert. Der Erfolg dieser Maßnahmen ist gleich Null. Weder die widerliche Schikane, den Simplicissimus nicht auf den Bahnhöfen zu verkaufen, noch die Vorstrafen, die fast alle großen Satiriker auf sich sitzen haben, erreichten einen anderen Zweck als das fabelhaft witzige Reagieren der Betroffenen, die die armen Opfer, die als Gegenhilfe nur den Schutzmann und den Richter kannten, völlig in Grund und Boden verhöhnten.
Es ist zu wünschen, daß sich auch in unseren Blättern das Verständnis für gute Satire immer mehr entwickelt, damit man auch von ihr sagen kann, was Ludwig Thoma zum zehnten Geburtstag des toten Simplicissimushundes, des Sinnbilds dieses Blattes, gesagt hat:

Doch wie ich dieses Hundsvieh kenne,
hilft alles nichts:
das Luder beißt!


Autorenangabe: Kurt Tucholsky

Ersterscheinung: Dresdner Volkszeitung, 14. Mai 1912, Nr. 110.

Ich bin ein Mörder

„Ich, Ignaz Wrobel, liebe es, den Schaffner auf dem Omnibus zu betrügen, dann fahre ich umsonst. Ich bin jähzornig: ich habe schon zweimal meinen Bademantel zerrissen, um ihn zu strafen; Krawatten zerschnitten; ein Glas auf den Boden hingefeuert. Ich kann kein Blut sehen. Doch: ich kann Blut sehen, von Tieren. Ein merkwürdiges Gefühl – nicht angenehm; eigentlich doch angenehm, ich traue mich nicht, das zu sagen: doch angenehm. Ich habe häufig zwei Frauen geliebt, sie wußten nichts voneinander, aber ich wußte. Einmal habe ich nachts um ein Uhr eine merkwürdige Anwandlung gehabt: ich lag neben Conrad auf dem Sofa, wir sprachen von Frauen, da begann ich zu zittern, ich wollte ihn anrühren. Ich habe es nicht getan – ich hatte Angst vor der Lächerlichkeit, vor nichts anderm. Ich träume mitunter blutige Begebenheiten. Ich esse unregelmäßig – manchmal tagelang nichts – dann unmäßig. Ich bin unsolide – ich habe nur Angst vor Krankheiten, sonst spräche ich mindestens alle paar Tage ein Mädchen auf der Straße an. Ich bin feige und tückisch: ich habe meinem Vetter Tinte in seinen neuen Hut gegossen, der Mutter ein Spitzentaschentuch zerrissen – nachher, mit dem harmlosesten Gesicht: ‚Keine Ahnung. Donnerwetter … ganz zerrissen! Das ist hin!’ – Ich höre gern zu, wenn sich Menschen lieben. Auch, wenn sie sich schlagen. Ich lüge um der Lüge willen, mit Herzklopfen, ob es herauskommt. Meist kommt es nicht heraus. Ich kann ganz gut lügen. Ich hasse meinen Vater. Ich habe als Junge mit meinem Bruder zu tun gehabt und ihn hinterher furchtbar prügeln wollen, aber er war stärker. Ich lebe unregel … das sagte ich schon. Was ist das alles?“
„Nichts Besonderes. Sehen Sie sich um –: solchen kleinen oder großen Packen trägt jeder, jede, jeder mit sich herum … alle tragen ihn. Sie haben einen seelischen Buckel, dessen sie sich schämen. So nackt sich auch einer auszieht –: den zeigt er Ihnen nicht. Meist nicht einmal sich. Es ist nichts Besonderes.“
„Es ist nichts Besonderes –? Ich habe nichts zu fürchten –?“
„Es ist nichts Besonderes. Sie haben nichts zu fürchten. Wenn Sie nicht –“
„ –?“
„Wenn Sie nicht vor Gericht stehen. Wenn nicht irgendein schwerer Verdacht auf Sie fällt wegen einer Tat, die Sie bestreiten. Dann …“
„ –?“
„Nun … dann wandeln sich diese Tatsachen, die Sie mir eben erzählt haben, in etwas andres. Dann sind es nicht mehr die Anomalien, die jeder Richter, jeder Staatsanwalt, jeder Geschworene, jeder Schöffe im Keim bei sich fühlen könnte, wenn er nur ehrlich sein wollte. Dann, Bauer, ist auf einmal alles ganz anders.“
„Was … was ist dann -? Wenn es aber alle haben?“
„Im Salon des Gerichts gibt es dergleichen nicht. Da spielen sich alle ein Leben vor, das sie nicht haben; eine Moral, die sie nicht besitzen; eine Reinheit, deren kein Mensch fähig ist. Kinder in Sonntagsanzügen begreifen auf einmal nicht, wie es Schmutzflecke auf der Welt geben kann. Da sind diese kleinen Züge plötzlich etwas Neues –“
„Und was –?“
„Indizien, Herr Wrobel.“


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 6. November 1928, Nr. 45, S. 703

Wieder in: Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen. Montiert von John Heartfield. Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1929

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928, S. 664 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 297 ff.

Brief an Carl von Ossietzky (12.3.1932)

12.3.1932
Ganz besonders schönen Dank für Ihren Schrieb vom 10. hujus, der mein Herz erfreut hat. Dazu:
In der Wahlkampf-Sache bin ich mit Ihnen bis ins letzte Komma einverstanden. Sie sind, soweit ich das übersehen kann, der einzige deutsche Publicist, der überhaupt die Frage aufgeworfen hat: «Ja, was wird denn, wenn Hindenburg gewählt wird?» Und Sie haben sie richtig beantwortet: dann wird es noch schlimmer. Es ist einfach nicht wahr, daß der Mann das kleinere Übel ist – das Übel ist beinah genau so groß. Außerdem ist es wohl dieser Nation vorbehalten, Wahlen zu veranstalten, um ein Übel zu wählen. Anderswo wählt man das, was einem – relativ – gut erscheint. Bravo und bravo und nochmals bravo zu Ihrer Haltung.
Wie sie beim 2. Wahlgang entscheiden, ist eine andere Sache. Der Unterschied zwischen den beiden H’s ist für einen Arbeitslosen gleich null. Für uns ist er auch nicht gar so groß; denn ich halte mit Ihnen die neue Herrschaft Hindenburgs (vor allem nach den preußischen Landtagswahlen) für dreiviertel faschistisch, und einen gewählten Hitler niemals für voll faschistisch. Der Unterschied wird also nur in den ersten etwas wilden Hitlerwochen bestehn.
Mein Aufsatz über Hitler. Ich habe mich nicht klar ausgedrückt. «Stichwahl» gibts ja gar nicht. Ich schlage also vor, daß ich nach der zweiten Wahl schreibe – wenn er geschlagen wird. Man kann, wenn der morgige Tag besondere Überraschungen bringt, vielleicht zwischen den beiden Wahlen schreiben – aber das ist so unsicher … ich mag nicht gegen Hitler das gröbste Geschütz auffahren, dann wird er gewählt, ich bin nicht da … aber Sie sind da.
Groener-Prozeß. Material anbei. Das A und O scheint mir nicht nur das literarische, sondern vor allem das juristische zu sein. Die Kollektivität ist nicht begrenzt; das ist aus hundert Reichsgerichtsentscheidungen (wenn es nämlich gegen Breslauer Juden, preußische Parteibuchbeamte und ähnliches ging) genau zu belegen. Das muß auf das allerschärfste ausgenutzt werden. Mit allgemeinem Herumgerede ist da niemandem gedient. Fakten. Reichsgerichtsentscheidungen und nochmals Judikatur. Nur das kann helfen. Bringt vor allem den betreffenden Richter in viel größere Verlegenheit.
Meine Haltung. Nach der Äußerung Apfels, ich könnte Ihnen schaden, schreibe ich zunächst nicht – darüber ist überhaupt nicht zu reden. Sie können Groenern jetzt angreifen – ich darf es nicht.
Was meine Haltung sonst angeht:
Ich habe in dieser Sache keine Briefe bekommen. Tollern räume ich jedes Recht ein, mich zu kritisieren – den andern weniger.
Was im Falle eines Falles allerdings zu plakatieren wäre, ist dieses:
In Leipzig und jetzt hier ist beide Male die Anklage gegen den Verfasser und den Verantwortlichen zum mindesten in Betracht gezogen worden – in Leipzig ist gegen beide Anklage erhoben worden. Es ist also nicht so, daß Sie als Ersatzmann für mich angeklagt werden. (Das wissen Sie natürlich, Oss – ich schreibe jetzt den Tenor eines zu schreibenden Artikels für und gegen aufgeregte Anhänger.) Wären Sie für mich angeklagt, so käme ich sofort. Da Sie neben mir angeklagt sind und sicherlich nicht schärfer angefaßt werden, weil ich nicht da bin –: so halte ich das alles für überflüssig: die Reise – das dammlige Gequatsche – dieses dumme Gezeter mit Typen, denen ich ganz entfremdet bin … ich kann nicht mehr in die Schule gehen. Worauf die andern sagen dürfen: «Dann müssen Sie sowas nicht schreiben.» Worauf ich erwidern kann: Keiner von uns, die wir unsern Laden gut kennen, wären jemals auf den Gedanken gekommen, daß das strafbar ist. Und das war auch niemals strafbar. Und nun leckt mich am.
Ich halte es für richtig, daß man sich niemals vor den Lesern «verteidigen» soll. Nürnberg, Kraus und das zählt ja nicht. Hat eigentlich Herr Nürnberg seiner Überzeugung, wenn er eine hat, jemals ein Opfer gebracht. Ich habe mich vier Mal vor diesen Affen präsentiert – ich kenne die Talare. Und Kraus? In diesem Operettenstaat geschieht ihm doch nie was – man kann doch dem Kraus nix tun …! Ottakring. Ich möchte ihn mal kreischen hören, wenn sie ihn, ohne auf seine 75 Berichtigungen zu hören, einfach einsperren. Also das ist ja alles Zimt.
Was ich ganz und gar ablehne, ist: mir die Richtlinien für meine ethischen Verhalten von preußischen Richtern vorschreiben zu lassen. Eben das ist ja der Fehler aller unsrer Leute: daß sie dem Faschismus entgegenhalten: «Aber wir sind ja national!» und so fort. Keiner hat den Mut, zu erklären, daß die Kategorien für uns einfach keine Gültigkeit haben. Und grade das will ich.
Vielen schönen Dank für alles! Nochmals: wenn Sie keine Zeit haben oder wenig, genügt für kleine Anfragen eine Zeile. Nämlich das Resultat Ihrer Entscheidung – ich verstehe das schon richtig. Es liegen ja auch keine Sachen vor, bei denen ein wildes Hin und Her sein müßte – mir wenigstens ist alles ganz klar. Kleinigkeiten schreibe ich nach wie vor auf, damit nichts anwächst.
In Züchten. Ich gehe mit wilden Nasenplänen um.
Meine schönen Augen sind verschwollen. Beten Sie für mich. Ich will es auch für Sie tun – und dann wird etwas Rechtes herauskommen.
Mit skandinavischem Gruß
Hochdero
Oss II
Es wäre vielleicht gut, wenn Sie für manche Punkte Ihren letzten bezw. vorletzten Willen aufschreiben täten, damit etwas da ist, woran wir uns festhalten können.
//
Karl Kraus. Nach dem letzten, etwa 150. Angriff dies:
Der Mann kann gegen mich schreiben, was er lustig ist. Was ich ihm übel nehme ist, daß er genau das macht, was er den großen Zeitungen vorwirft, mit denen er ja – sonst greift man auch nicht dreißig Jahre lang an – solche Ähnlichkeit hat: er lügt durch Verschweigen. Liest man das da in der Fackel, dann glaubt man, ich heiße Auernheimer. Also gut – glauben Sie ja nicht, daß ich etwas unternehmen will. Jedennoch:
Wir wollen – außer Hiller – keinem mehr erlauben, ihn bei uns zu loben. Soweit kanns nun nicht gehn. Ich bitte also formell und feierlich, jedes Lob auf Kraus rücksichtslos zu streichen, und zwar durchaus mit Berufung auf seine Haltung gegen uns, S.J. und die WB. Zitate würde ich nicht streichen – dagegen aufpassen, daß sie wörtlich sind. Damit wir nicht eine dieser albernen Berichtigungen auf den Hals bekommen.
Hiller deshalb ausgenommen, weil es sonst einen riesigen Krieg gäbe – mit Berichten nach Wien, und das ist mir das alles nicht wert. Wenn ich mich nicht irre, hat der Einfluß Krausens eher ab- als zugenommen, ich wehre mich also nicht.
//
Bereiten Sie einen Abschiedsartikel für sich vor? Das wäre sehr gut – sozusagen Villons ‹Kleines Testament›. Soll ich dazu eine Coda schreiben? Wenn ja, was soll da inne stehn?
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Frau J. fragt wegen Ihering an. Ich meine, daß uns nicht damit geholfen ist, wenn wir zu allem Nein sagen. Ich sage, nicht ganz leichten Herzens, Ja. Vor allem, wenn er sich zur «gesamt theaterpolitischen Situation» äußern will. Wenn er aber als wöchentlicher Kritiker seinen Brecht ausposaunt, dann allerdings wird mir etwas blümerant.
//
Ja, noch was. Darf ich in einem etwa notwendig werdenden Artikel sagen, daß ich Ihre Loyalität Groenern gegenüber übermenschlich finde? Also nicht kritisch gegen Sie – sondern frech gegen jenen. Und daß diese Waffen eben von einem völlig sturen Militarismus der Bureaus überholt sind – es hat keinen Sinn. Wenn Sie das nicht wünschen, sage ich es nicht.
//
Heil! In alter Bundestreue –
apropos: Apfel macht aber Liquidationen … also ich spiele das nicht mit.
Ihr ajehmster

Brief an Marierose Fuchs (27.12.1930)

An Marierose Fuchs

Post: Weltbühne

27.12.1930
– – – in Etappen geschrieben.

Verehrte,
ich wünsche Ihnen ein frohes Fest und danke Ihnen ganz besonders herzlich für das Buch! Ich bin ein etwas überarbeiteter Mann und schicke meine Büchergabe verspätet – aber nicht minder herzlich! So ist das.

In Ihren Briefen standen einige sehr hübsche Dinge – die will ich denn auch beantworten:
Das Buch also werde ich fleißig lesen … und dann darüber Ihnen schreiben. / Sonnenschein-Artikel kommt nächstens, dann noch einer über dogmatisches Denken, gezeigt an einem Beispiel … und dann ists glaub ich für eine Weile genug. Daß ich diese Artikel schrieb, daran sind zum Teil Sie die Veranlasserin; daß ich nicht mehr schreibe: das liegt an meiner Lektüre der katholischen Zeitschriften, von denen ich so allerhand bekomme. Donnerschlag. Nein, das geht übers Bohnenlied.
Ich spreche nicht vom rein Katholischen; Sie sehen ja immer wieder, wie sehr ich mich hüte, mich über das Glaubenserlebnis lustig zu machen oder es rational zu kritisieren. Ich habe da nichts zu suchen. Aber was diese braven Katholiken da so alles von sich geben …! Das lohnt wohl doch nicht, sich damit zu befassen. Ein Beispiel: in fast allen katholischen Zeitschriften wird die Psychoanalyse bedeutend dümmer beurteilt, als es der ödeste Freidenker mit dem Dogma tun kann. Es ist beispiellos. Daß die Leute nichts davon verstehen; daß sie nichts gelesen haben; daß sie keinen Schimmer, auch nicht den blassenesten Schimmer von Freud haben … das geht doch nicht. Und dann geht das los: sittenlos pp. Als ob Freud nicht ein Exponent dieser Zeit wäre – er hat sie doch nicht gemacht! Außerdem habe ich ihn jetzt wieder gelesen, mir hat einer seine Werke geschenkt. Da ist zum Beispiel eine Stelle, wo er beschreibt, wie sich die Patientin regelmäßig in den behandelnden Arzt zu verlieben pflegt – das ist gradezu eine Station auf dem Wege der Heilung. Bon. Wie er das nun behandelt: mit einer Sauberkeit, einer Größe, einer Reinheit – das ist musterhaft. Diesen Mann unrein zu schelten –: das können nur Banausen. Seine Schüler freilich haben viel Unheil angerichtet. Jedenfalls steigt aus diesen Blättern und Blättchen ein solches Unmaß von Unbildung auf … nein, das möchte ich nicht.
Sie schreiben an einer Stelle Ihrer Briefe etwas Entscheidendes: «Das geht doch aber alle an.» Nein, Verehrte, das geht nun eben nicht alle an. Ihr müßt euch schon daran gewöhnen, daß es sehr vergnügte Heiden gibt – die geht das gar nichts an. Feuerländer sind keine Widerlegung gegen die französische Grammatik – sie beweisen aber, daß es auch ohne diese Grammatik geht. Ich lehne ja eben diese Zwangskategorien ab, die der Katholicismus da errichtet, und Hiller hatte völlig recht, als ers auch tat. Für uns eben nicht. Ich brauche es nicht; Millionen brauchen es nicht. Es ist eine Dreistigkeit sondergleichen, es ihnen aufdrängen zu wollen. (Mit staatlicher Gewalt nämlich – durch die Kindererziehung.) In mir ist nichts, was erlöst werden muß; ich fühle diese culpa nicht, vielleicht eine andere – enfin, ich erhebe mich ja auch über keinen Katholiken, indem ich ihn bedaure oder beschimpfe – ich sage nur: ich nicht. Es geht mich gar nichts an. Nichts.
Ich mußte das mal ganz klipp und klar heraussagen, damit es keine Mißverständnisse gibt. Und mit Ihnen hat das mittelbar nichts zu tun; was Sie mir schreiben, lese ich immer gern, auch da und grade da, wo ich anderer Meinung bin.
Was hingegen die Literatur angeht: Übern Glaesern sind wir sehr einig. Schamlos … das habe ich eigentlich nicht empfunden. Aber überflüssig. Sie haben völlig recht: damit ist ja nichts ausgesagt, wenn man einen Menschen bei Verrichtungen schildert, die er mit den Tieren teilt. Das kann etwas Großes sein – aber das kann der Herr Glaeser nicht. Dann sollte mans lassen. Ich hatte damals schon in der Maschine, zu sagen: «Wir lesen in allen modernen Büchern: wo, mit wem, wann und in welcher Weise – wenn ichs noch ein paar Mal lese, dann kann ichs auch.» Was nicht hindert, daß ich dergleichen wohl auch mal schreibe – aber mich reizt bei diesen sehr seltnen Malen immer die artistische Schwierigkeit, es dennoch zu sagen, obgleich es so schwer ist. Das empfinden diese Kerle alle nicht. Sie schmieren das so hin. Dann lieber Pornographie.
Was Ihre Arbeiten angeht, so wissen Sie wirklich nicht, wo Ihre Kraft sitzt. Das ist ein Malheur … diese Germania. Zum Beispiel ist die kleine Kritik des Vortragsabends der Wellshereim, wenn sie richtig ist, bezaubernd – haben Sie Fontanes ‹Plauderein über Theater› gelesen? Das tun Sie nur. Es ist ein richtiges kleines Pastell, das Sie da gemacht haben, und Sie sind überhaupt am besten, wenn Sie leicht ironisch ablehnen; dann haben Sie, was bei Frauen sehr, sehr selten ist, Humor. Das sollten Sie ausbilden. Diese wäiche Lyrik hingegen … werfen Sie nur ja die Schaumann ins Feuer. Es ist ja schrecklich. Nicht etwa, weil sie fromm ist – sondern wie sies ist, und vor allem, wie sie dem Ausdruck gibt. Das ist, um …! Ja.
Meine Tante scheint ja da ganz freundliche Bilder über mich zu verbreiten. Wahr ist vielmehr …
Thrasolt – hm. Der ist in der Sonnenschein-Besprechung, die Sie lesen werden, nicht gut weggekommen. Er ist doch sehr ein kleiner Mann. Ehrlich, sauber, tapfer – aber ein kleiner Mann. Und nochmals und nochmals: die fast schmerzliche Enttäuschung, die ich auch immer bei den Kommunisten finde, wenn sich mal einer mit was anderm beschäftigt, die ist ganz und gar katholisch: Es geht aber wirklich auch ohne euch – es geht sogar sehr gut. Und man muß eben nicht bei jeder Sache fragen: wie stellt sich der Katholicismus dazu? Es ist für uns gleichgültig, wie er sich dazu stellt – es gibt andere Werturteile, andere Himmel, andre Kategorien.
Selbstverständlich werde ich keine einzige Angabe über Thrasolt verwerten. Apropos verwerten: ich hatte aus Ihrem Brief in der Tat nur dem Sinne nach zitiert. Aber Sie schreiben doch nicht druckfertig, Gottseidank – und so, wie es da stand, hätte es wie Ironie ausgesehen, als wollte ich mich über Sie lustig machen. Sie hatten das aber in klarster Ehrlichkeit so hingeschrieben – deshalb habe ich geändert. Nichts für ungut. Wird nicht mehr vorkommen.
Haecker habe ich grade vor. Ich kenne ihn seit langem und schätze ihn sehr hoch ein. Ja, das ist einer. Verve, Stil, Können, Wissen … ich verstehe ihn nicht ganz, dazu langt meine philosophische Bildung nicht. Aber ich merke: holla he – da ist was. Ich belerne mich da sehr an. Ein großer Schriftsteller.
Ich seh eben in Ihrem Brief … Ja, die Tante Berta ist manchmal so streng. Mit mir auch – aber ich lache dann heiter, und dann geht es vorbei.
Fahsels Biographie habe ich hier. Also, das ist beispiellos. Auch hier werde ich nichts von dem verwerten, was Sie mir geschrieben haben. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt schreiben werde. Man soll diesem Clown nicht noch mehr Reklame machen. Die Biographie ist scheußlich; ich zöge mich da vielleicht auch nicht ohne bürgerliche Beleidigungen aus der Affaire. Hat dieses hysterische Weib mit dem Mann ein Verhältnis? Das besagte ja nichts; aber es ist alles so schwül, so widerlich – sehn Sie: das ist unsittlich, in der Atmosphäre, auch, wenn da gar nichts vorgeht. Ein dummes Buch.
Anbei eine Bilderanlage. Die Bücher kenne ich nicht. Ich kenne nur ein paar italienische Publikationen, wo sich die Kirche den geschmackvollen Scherz leistet, mit dem Imprimatur, zwei kleine Mädchen, die Opfer eines Sittlichkeitsattentats geworden waren, als «Heilige» aufzublasen. Es war grauenhaft. Dies macht ja nun auch keinen sehr schönen Eindruck. Was um alles in der Welt können denn diese Göhren schon «Heiliges» an sich haben! (Ich weiß, daß in allen diesen Fällen nicht «heiliggesprochen» wird – aber es genügt auch so.)
Sie schreiben über die Katholiken und den Film. Glaubt ihr wirklich, man könne das «machen»? Das muß doch wachsen. Na, und daß es nicht gewachsen ist – das muß doch einen Grund haben. Es hat auch einen. Da muß sich also wohl nichts bewegen – wie wäre sonst eine solche Stumpfheit, ein solches Versagen in künstlerischen Dingen möglich? Nun, das ist nicht meine Sache.
Ja, das wäre so einiges. Ich komme vorläufig nicht nach Deutschland – mir tut das leid, denn ich hätte mich gern mal mit Ihnen in Ruhe unterhalten. Ohne Telephon und ohne «Herr Meier läßt fragen …» Ich sitze aber noch in der Stille und bebrüte ein kleines Ei. Das ist bald da, und wenn der Vogel heraus ist, dann, im Frühjahr, werde ich anfangen, zu reisen. Und dann komme ich vielleicht, wenn Ihr noch Republik seid, nach Berlin. Es sind eigentlich 2 Eier – denn ich mache noch einen Auswahlband für nächstes Jahr. Und das ist eine gar erschröckliche Arbeit.
So ist das. Im übrigen lese ich viel alte Klassiker, und vom Tageskram so wenig wie nur möglich. Man wird nur dumm davon. Ein lustiges Land – – Und die Haltung der Kirche wieder sehr, sehr zweideutig. Darüber steht auch bei Haecker einiges; mir nicht scharf genug. Wenn Rom mit den weltlichen Gewalten zusammenstößt, dann geht das zu wie in einer Judenschule. Wobei übrigens die Katholiken meist obsiegen – sie sind so weltabgewandt, daß sie vor lauter Frömmigkeit besser handeln als die andern. Mäinst näin?
Womit ich mich verabschiede und Ihnen ein gutes Fest im nachhinein wünsche und ein gutes neues Jahr!
Wie stets
Ihr alter
Tucholsky.
Dreh rum
Etwas habe ich doch noch vergessen.
Ist das vielleicht eine Lösung, unter diesen ökonomischen Umständen für junge Mädchen, die heiraten wollen, es aber nicht können, die Ehelosigkeit oder den Verzicht zu fordern? Das mag sehr heldenhaft sein – obs aber geistig und körperlich gesund ist, das steht auf einem andern Blatt. Was mögen sich da viele quälen! Und wozu eigentlich? Ja, ich bin so flach und rational und liberal und freidenkerisch und bolschewistisch, «wozu» zu fragen. Alle, aber auch alle Beobachter aus Rußland schreiben, es fiele ihnen auf, einen wie geringen Raum die Sexualität im öffentlichen Leben dort einnähme. Ganz klar, warum. Die Leute haben es nicht nötig. Und das ist schon viel. Leute, die den ganzen Tag vom Trinken reden, sind entweder durstig oder krank. Beides sollte man nicht als Ideal hinstellen.

Brief an Marierose Fuchs (28.7.1930)

An Marierose Fuchs

Post: Weltbühne

28.7.1930
Verehrteste,
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – … – – – – – – – – – – – – – – – – – … – – – – – und aus diesen Gründen konnte ich nicht eher schreiben.
Ernsthaft: Ich hoffe, daß es Ihnen wesentlich besser geht als mir. Damit mag ich Sie nicht langweilen; Männer, die sich um ihre Gesundheit haben, sind ein restlos komischer Anblick. Es ist auch schon besser. Ich bin – viel zu spät – in einen Salatkasten gegangen, und hier haben sie mich – bei Luzern – ein wenig aufgemöbelt. Nun aber zu Ihren Briefen:
Dank vor allem für alle Ihre guten Wünsche! Ich hoffe vor allem, daß es Ihrer Frau Mutter besser geht. Und wie ist es denn mit dem Garten geworden?
Ich picke, wie die Hühner im Salatgarten, in Ihren Briefen. «Marosie» dürfen leider nur Sie zu sich sagen – also, geehrtes Frollein: wenn ein Mann «immer» sagt, ist das «immer» faul. Ich sags nicht mehr. Bei Sachen manchmal und sehr vorsichtig; bei Menschen kaum noch. Und ohne alle Bitterkeit nicht. Wodurch einem mitunter sehr wohlschmeckende Dinge entgehen. Aber mitnichten: «Sie ist» steht irgendwo, «vielen Männern nacheinander treu.» Das gibts.
Um zu Ernsthafterem überzugehen: Was Sie da von dem Stadion schreiben, war sehr hübsch – noch hübscher und ganz reizend die kleine Scene auf dem Wohltätigkeitstee in der Wilhelmstraße. So sollten Sie schreiben! Schade, daß ich das nicht gesehen habe; ich hätte da gern ein klein Blümlein an den Rand gesetzt. Zu herzig, diese Wohltätigkeit!
Wobei ich denn gleich anmerke: Sie schießen manchmal, aber nur manchmal, in Ihren Briefen an mich zu tief. Ich freue mich natürlich sehr, wenn Sie so viel gute Laune aufbringen, wenn Sie von dem katholischen Kitsch sprechen – aber nie, nie fiele es mir ein, solche Bonbonbilder mit der Idee dieser Religion zu identificieren. Es ist ein bißchen reichlich davon da, was ich den «Vulgärkatholicismus» nennen möchte – aber das hat doch mit den Visionen des Loyola und den großen Päpsten kaum noch etwas gemein. So simpel wollen wir uns das nicht machen. Ob diese Bilder einmal besser werden oder nicht …
Das ist es nicht. Es ist etwas andres.
Es ist immer wieder das Politische. Wenn ernste und große katholische Männer über ihre Religion sprechen und nur über diese, so schweige ich. Ich bin nicht einverstanden – insbesondere finde ich, daß zum Beispiel Nietzsche bei Euch gradezu gotteslästerlich flach abgetan worden ist, nein, nicht abgetan – kaum begriffen … ich kann auch nicht mitspielen, wenn ich in einer Arbeit über den Hinduismus lesen muß, daß jede Religion auf der Welt naturaliter catholica sein soll – aber das ist ein geistiger Kampf.
Hingegen zu sehen, wie in den kleinen Ortsparlamenten das Mulmigste, Muffigste, Dämlichste und Dummdreisteste sehr oft aus dem Zentrum kommt, von einem stramm katholischen Bäckermeister und diesen fürchterlichen Bürgerweibern, die durch die Aufhebung der segensreichen Familienbäder die Sittlichkeit retten … also das spiele ich nicht mit. Sie vielleicht –?
Da sitzt es. Von der Haltung der Partei den Hitlerleuten gegenüber will ich gar nicht reden. Wären die nicht so gottverlassen dumm, ein «Rom» zu bekämpfen, das sie gar nicht kennen – es sähe anders aus. Denn liest man schon mal was in den Zentrumsblättern gegen den Kaiser und die Zeit vor dem Kriege, dann steht da bestimmt an irgend einer Stelle das kleine Wörtlein «protestantisch» – es ist böseste Vereinsmeierei. Und wenn ich das sage, dann kriege ich ein Kreuz um die Ohren – also: nein.
Ja, also so sollten Sie schreiben wie in diesen Briefen – das über den katholischen Kitsch ist beinah druckreif. (Keine Sorge. Ich werde niemals irgend etwas, was Sie mir schreiben, drucken lassen.) Was Sie in die Zeitung setzen lassen – ja – hm – schlecht ist es nicht. Aber es ist viel verschwommener, als die Briefe. Wäre ich Redakteur, so erlaubte ich nicht, daß eine bei mir «Menschlicher Ausklang» schreibt. «Menschlich» ist ein Modewort und heißt alles und nichts. Nun – ich bin nicht Ihr Schulmeister.
Über vieles andere kann ich nicht schreiben; darüber müßte man sprechen. Das ist nun nicht ganz leicht. Ich gehe von hier entweder in die hohen und allerhöchsten Berge, zwecks Nachkur – oder nach Frankreich oder direkt zurück nach Schweden. Sollte ich über Berlin kommen, was ich nur tue, wenn ich muß, und sollte ich mich da aufhalten, dann melde ich mich bei Ihnen. Händedruck für die «Angst» – nein, Angst sollen Sie gewiß nicht um mich haben; die Ärzte haben sich hier sehr verständig benommen und etwas von Drüsentätigkeit gemurmelt, aber jedenfalls etwas gebessert.
Ich habe dieser Tage das Buch von Hoeber über Sonnenschein gelesen. Ich werde es besprechen. Sie werden damit nicht zufrieden sein. Das Buch hat Pech gehabt: daneben lag eines von Barbusse über Georgien. Liebe Fuchs – «Wohltaten in einem wohlgeordneten Staate sind nicht angebracht» spricht Multatuli. Und es erscheint mir größer, die Ausbeutung zu verhindern als dann, wenn sie geschehen ist, betteln zu gehen und – in allerreinster, in allerbester, in alleredelster Absicht – zu helfen. Wenn es meist zu spät ist. Besser als nichts ists schon. Aber den Arbeitern wird nicht mit Wohltätigkeitstees geholfen. Das hat Sonnenschein gewußt. Wie ich überhaupt immer den Eindruck habe: wenn der kein Priester gewesen wäre, hätte er die socialen Zusammenhänge zu Ende gedacht. Dies bricht immer in der Mitte ab. Hunger – Not lindern – keine Seelen fangen – Güte – Milde – keine Weichlichkeit – … alles gut und schön. Aber nie, nie ein Wort gegen den Hüttenbesitzer und die tausend untätiger Erben, die den Grund und Boden besitzen, nur, weil sie ihn besitzen. Das war wohl nicht seine Aufgabe …
Ich wünsche Ihnen einen guten Sommer. Und gute Erholung. Und gutes Wetter. Und Stille innen und draußen.
Und denken Sie auch mal
an Ihren Sie herzlichst grüßenden
Tucholsky.

Brief an Marierose Fuchs (17.12.1929)

An Marierose Fuchs

Post: Weltbühne

17.12.29
Sehr verehrtes Fräulein Fuchs, da liegen nun alle Ihre freundlichen Briefe vor mir – aber ich möchte mich gar nicht so sehr entschuldigen: es ist sicherlich für diesen Briefwechsel besser, wenn ich erst heute antworte: still, gesammelt und ruhig – und nicht hopphopp aus dem Hotelzimmer. Item:
Zunächst danke ich Ihnen recht herzlich: einmal für das große und kameradschaftliche Interesse, daß Sie „über den Graben“ an unserer und meiner Arbeit nehmen – und dann für Ihre Freundlichkeit, mich in Berlin noch einmal empfangen zu wollen. Die Leute haben mir aber bis zur letzten Stunde die Haare vom Kopf gerissen, eine Armee von Beleidigten habe ich zurückgelassen („Für mich haben Sie keine Zeit … !“) – und so ist es denn leider nichts mehr geworden. Das will ich aber, wenn Sie es später noch erlauben, nachholen.
Bevor ich Ihre Briefe Punkt für Punkt beantworte:
Das, was Sie in diesem Brief nicht finden werden, beantworte ich Ihnen in der ›Weltbühne‹. Es wird ›Brief an eine Katholikin‹ heißen und wird zweierlei nicht enthalten: a) wird ihre eigene Schwester nicht merken, daß Sie die Adressatin sind und b) werde ich mir an keiner Stelle den unritterlichen Vorteil verschaffen, der darin liegt, daß Sie kein dialektisch geschulter Priester sind. (Einem solchen unterläge ich glatt.) Ich halte es für kindlich, so etwas auszunutzen; als ob damit etwas bewiesen ist, daß bei einer Disputation: Fahsel – Bauarbeiter Klamottke Fahsel siegt und bei einer Disputation:Kaplan Hintermoser aus Niedertupfingen – H. G. Wells der Engländer siegt – dergleichen besagt für und gegen den Katholizismus gar nichts. Also so wollen wir das nicht machen.
Ich werde Ihnen also einige grundsätzliche Dinge im Blättchen entwickeln; daher fehlen sie hier oder sind nur andeutungsweise skizziert.
1.) Das Blättchen bekommen Sie von jetzt ab, natürlich nicht gegen Vorzugspreis, sondern gratis – wenn Sie es nicht mehr mögen, sagen Sie es bitte. Ich mag mich keinem Menschen aufdrängen. (Ich nähme Ihnen das auch niemals übel, wenn Sie das Blatt nicht im Haus haben wollen – meine Empfindlichkeiten sitzen anderswo.)
2.) Den Artikel von Ossietzky habe ich noch einmal ganz genau durchgesehen – denn als ich Ihren Brief las, dachte ich, ich hätte irgend eine seiner Arbeiten übersprungen; die, an die ich dachte, konnte es doch nicht gewesen sein … Aber sie war es. Und nun verstehe ich Ihren Brief gar nicht.
Wir kennen uns nicht (wie wenig, werden Sie weiter unten sehen) – aber ich möchte doch, daß wir uns geistig etwas näher kommen. Also: es kann keine Rede davon sein, daß ich etwa „beleidigt“ wäre – Sie können, solange es nichts Ehrenrühriges ist, von Ossietzky, von mir, von unsern Mitarbeitern das Schärfste schreiben, was Sie wollen – ich nehme dergleichen immer als Echo – wir haben in den Wald hineingerufen, und nun ruft es eben wieder heraus. Also das ist in Ordnung.
Aber zur Sache:
Ist ›Lädiertes Sakrament‹ wirklich so unverschämt? Mir ist der Titel gar nicht aufgefallen – ich habe empfunden: Das, was jene als Sakrament betrachten, hat in Wahrheit längst ein Loch. Beleidigung? Schändung? Ich habe nicht einmal empfunden, daß es so gemeint war – ich glaube das keinesfalls. Auch würde Ossietzky nie, niemals so etwas von der „katholischen Jungfrau“ sagen – Sie glauben gar nicht, wie weit dieser Pfeil vom Ziel abgegangen ist. Ossietzky ist ein sehr zurückhaltender, sehr scheuer Mensch – ich habe ihn in all den Jahren unserer Zusammenarbeit nicht einmal gefragt, ob er katholisch ist, ich weiß es nicht, weil es mich nicht interessiert. Nie würde er solche spöttischen Bemerkungen machen – nie.
In der Sache aber sehe ich dies:
Die katholische Anschauung sieht in der Ehe ein unlösbares, heiliges Band, keinen Zweckvertrag. Das ist Sache der Kirche. Ich diskutiere das Dogma nicht. Es ist auch das Recht der Kirche, gegen Andersmeinende alle parlamentarischen Waffen in Anwendung zu bringen; mit allen Kräften dafür zu kämpfen, daß Ehen nicht oder nur sehr schwer gelöst werden sollen; daß Ehebruch strafbar bleiben soll – das ist ein politischer Kampf. Aber gegen eines wehre ich mich und werde mich wehren, solange ich noch eine Schreibmaschine habe:
Daß die Partei des Zentrums sich eine Ausnahmestellung anmaßt, die ihr nicht zukommt. Das gibt es nicht. Hier ist keine Satire zu scharf.
Wie! Die Partei steigt in die Arena des politischen Kampfes hinunter, ein Feld, auf dem – wie männiglich bekannt – auch mit Pferdeäpfeln geworfen wird. Die Kämpfer schreien sich heiser, sie brüllen, sie führen auch saubere und leise Kämpfe – und es geht im ganzen recht hitzig zu. Wir wehren uns. Gerät aber die Kirche in die Bredouille, dann höre ich da ein Gequietsch wie von einer Katze, der man auf den Schwanz getreten hat: „Das Heiligste ist in Gefahr!“ – Das Heiligste ist in Gefahr? Dann müßt ihr das nicht auf den Kampfplatz schleppen – es fällt ja auch keinem Priester ein, mit dem Allerheiligsten, unbedeckt, in eine Elektrische zu steigen – weil es nämlich nur ein transportabler Gegenstand wäre, auf den Rücksicht zu nehmen unmöglich wäre. Also?
Also darf man sich nicht auf das „Heilige“, auf das „religiöse Empfinden“ zurückziehen, wenns einem grade paßt. Das ist nicht ehrlich. Die politische Partei des Zentrums muß sich gefallen lassen – genau wie alle andern Parteien auch – politisch bekämpft zu werden. Und das hat Ossietzky getan.
Zieht die Partei die Kirche in den Streit, so geht der Kampf auch um das Dogma – wir haben nicht angefangen.
Solange sich die Kirche damit begnügt, zu sagen: „Wir beerdigen keinen geschiedenen Mann kirchlich. Wir erkennen eine zweite Ehe nicht an – wir exkommunizieren. Wir halten den Ehebruch für eine schwere Sünde.“ – solange haben wir andern zu schweigen. Weil man nämlich aus der Kirche austreten kann – und wer darin bleibt, der hat sich zu unterwerfen. Das ist eine innerkatholische Angelegenheit, die keinen andern berührt.
In dem Augenblick aber, wo die Kirche sich erdreistet, uns andern ihre Sittenanschauungen aufzwingen zu wollen –
unter gleichzeitiger Beschimpfung der Andersdenkenden
als „Sünder“ –
in dem Augenblick halte ich jede politische Waffe für erlaubt – auch den Hohn, grade den Hohn. Und zwar nicht den dummen, abgestandenen gegen die Pfarrersköchin – grade den lehne ich aus tiefstem Herzen ab. Bei euch wird gar nicht geheuchelt – nicht mehr jedenfalls als bei uns. Aber blind sind diese Leute, die das ungeheure Elend nicht sehen, das sie da heraufbeschwören. Kennen Sie das nicht? Gehen Sie einmal auf das Landgericht am Alexanderplatz und hören Sie sich da die fast stets öffentlichen Ehescheidungsverhandlungen an: wie da der Schmutz haushoch spritzt, wie da auf Lügen hin geschieden wird, alle wissen es: die Richter zuallererst, die Anwälte, die Parteien – aber unter dem geltenden Eheunrecht kann man sich nicht anders helfen. Das Soziale ist nämlich stärker. Das haben sogar die reichlich puritanischen Amerikaner begriffen. Was an und in der Kirche „ewig und unwandelbar“ ist steht dahin – die sozialen Anschauungen gehören nicht dazu. – Der Ehebruch wird in weiten Kreisen nicht als außergewöhnlich und nicht als „unmoralisch“ empfunden – womit eben nicht gesagt ist, daß wir ihn propagieren oder gar als schön empfinden. Aber zwischen nicht „schön“ und einem Vergehen ist ein weites Feld. Das mag man kirchlich beackern – das Strafrecht hat hier nichts zu suchen. Und das sollte man nicht sagen dürfen –?
Es ist auch nicht richtig, solchen politischen Kämpfern wie Ossietzky Ignoranz vorzuwerfen. Wir sind keine Theologen. Wir haben nicht die Pflicht, uns mit den Finessen des kirchlichen Rechts zu befassen – wir befassen uns nur mit dem, was parteipolitisch dabei herauskommt. Die zugrunde liegende Philosophie mag gut sein – ich diskutiere das nicht. Wie sie sich sozial und politisch auswirkt –: das dürfte keiner Kritik unterliegen? Nein –? Ja.
Und mit Dreck werfen? Haben wir uns schon einmal beklagt, wenn ein Geistlicher unsere Ideale mit Dreck bewirft? Das tut er nicht? Ich danke. Haben wir „Sakrileg!“ gerufen, wenn kostümierte Herren im Kriege zum Mord gehetzt haben? Meine Gefühle werden dadurch verletzt. Ich quietsche allerdings nicht. Ich schlage zurück. Trifft das einmal auf ein Kreuz –: das ist nicht meine Schuld. Ich habe es nicht in den Streit geholt.
3.) Immer, immer freut es mich, wenn Sie mir Ihre Einwände – auch die allerschärfsten – schreiben. Dazu habe ich immer Zeit. Eine kleine Anmerkung: wir sind ein bißchen weit voneinander. Wenn Sie manchmal schreiben „Bei euch da drüben muß man wahrscheinlich hinzufügen …“, dann muß ich in meinen stattlichen Bart lächeln. Sie haben mitunter von den Heiden eine Anschauung wie ein Monist von einem katholischen Pfarrer: der ist für ihn eine Schießbudenfigur, der immerzu mit seiner Köchin liebäugelt, säuft, in seinem tiefsten Herzen das Wort Gottes für Unfug hält und sich einen Bauch anmästet. Nun, und „die da drüben“ glauben gar nicht von jeder Frau, die sich in geistiger Absicht nähert, daß nunmehr ein gewaltiger Flirt beginnen müsse – ich möchte einmal getroffen werden, und nicht immerzu sehen, wie die Pfeile um mich herumsausen – und wenn sie dann so in der Wand neben mir zitternd stecken bleiben, dann muß ich mich furchtbar wundern.
4.) Also sollte bei Ihnen kein Mißtrauen da sein. Ich sagte Ihnen schon, daß ich niemals daran dächte. Ihre Formulierungen zu benutzen oder gar spöttisch zu veröffentlichen. Wenn ich mir einen hernehme, dann nehme ich mir einen Bischof oder einen Kardinal – also einen, der unwiderleglich die offizielle Meinung der Kirche wiedergibt. Nur das ist ehrlich.
5.) Wenn Sie mich einmal später mit einem Priester zusammenbrächten, so wäre mein letzter, aber mein allerletzter Gedanke: „Der will mich fangen.“ Gibt es denn wirklich so viel Kirchengegner, die das glauben? Dummes Zeug. Der Kampf, den zum Beispiel Schreiber in Berlin führt, geht doch um anderes – der der „Katholischen Aktion“ auch. Fangen? Ja, aber doch nicht so. Daran habe ich nie gedacht. Schon deshalb nicht, weil ich zu alt und noch nicht alt genug dazu bin.
6.) Wieso wissen Sie, daß „wir“ etwas gegen das Zölibat haben? Vielleicht gibt es Männer unter uns, die nur arbeiten können, wenn keine Frau dabei ist. Vielleicht gibt es welche, die wissen, was Keuschheit für ein Kräftereservoir ist – von den politischen Momenten ganz zu schweigen.
7.) In Düsseldorf bin ich nicht gewesen. Ich hätte mich sehr gefreut, mit Herrn Schöllgen einmal zusammenzutreffen – ich habe große Sympathien für solche Naturen, und ich glaube, ich hätte manches dabei gelernt.
8.) (Ich antworte immer nach je einem Blick in Ihre Briefe – daher dieses Nebeneinander.): Sie verletzen mich nicht, wegen dick – dicke Leute sind nicht so leicht verletzt. Und langweilen? Nie.
9.) Dank für die Hefte Sonnenscheins. Ich werde mir wohl alle nachkommen lassen. Darüber schreibe ich im Blättchen. Das ist blitzehrlich, sauber, richtig, in Ordnung bis in die letzte Falte. Aber: Wanzenpülverchen, statt Ausräuchern. Dazu eine Verachtung Berlins, die mir nicht gefällt. Eine Stadt „geht nicht unter“ – sie ist kein Kriegsschiff. Hier stimmt in der Rechnung etwas nicht. Sie geht vielleicht für die Kirche unter – aber das ist ein himmelweiter Unterschied. Darüber öffentlich.
10.) Der Gotteslästerungsprozeß des ›Eulenspiegels‹ war mir bekannt. Ich habe mich mäuschenstill dazu verhalten. Ich halte diese Art Kampf für nicht richtig und habe mich auch niemals an solchen Aktionen beteiligt. So geht das nicht.
11.) Den Chesterton werde ich mir besorgen. Ich kenne alles, was er geschrieben hat (deutsch) – ich finde es herrlich – als Feuerwerk. Was nicht ausschließt, daß er ehrlich ist, ein ehrlicher Feuerwerker. Aber er setzt den Glauben voraus, zu dem er – vielleicht – bekehren will.
12.) Ludendorff und die katholische Kirche – unmöglich, darüber ernst zu schreiben. Ein Geisteskranker. Verschaffen Sie sich vielleicht einmal die Aufsätze, die Willy Haas in der ›Literarischen Welt‹ darüber geschrieben hat – er zeigt das unterirdisch Theologische auf, das in diesem Wahnkranken zu finden ist. Das ist sehr interessant.
13.) Dank für Ihre Arbeiten, die Sie beigelegt haben. Es ist in der Gesinnung und im Grundgefühl sauber und rein – das Technische ist noch etwas wacklig – jetzt werden Sie mich furchtbar auslachen. Lesen Sie Wustmann ›Allerhand Sprachdummheiten‹ – womit aber nicht gesagt sein soll, daß Sie welche gemacht haben. (Doch, eine: „ich entschließe mich zu letzterem“ sollte mit einem Jahr Verbannung bestraft werden.) Wustmann ist eine sehr gute deutsche Grammatik.
14.) Nun habe ich alles gesagt – beinah alles.
Den Rest – beinah den ganzen Rest – werde ich also öffentlich sagen; das wird noch ein Weilchen dauern. Und dann bleibt ein winziger Rest ungesagt, was die Beziehungen zwischen den Menschen mehr als reizvoll, nämlich wertvoll macht.
Ihnen alles Gute wünschend,
bin ich Ihr ergebener Tucholsky

Traktat über den Hund, sowie über Lerm und Geräusch: 3. Ironie und tiefere Bedeutung

Der Schlaf kommt nicht, will nicht
kommen. Unweit im Hundezwinger
fangen die Jüngsten von ihnen ihr oh-
renbetäubendes Jaulen und Winseln
an. O Schrecken, das geht die ganze
Nacht hindurch. Aus den Zellen brüllt
es – brüllt Ruhe und flucht – und es
geschieht nichts – es bringt nur wie-
der die schlaflose Nacht, dieses Be-
wußtsein der Gefangenschaft.
Schilderung eines Gefangenen

Hätte Goethe die Hunde geliebt, so wäre der Spektakel, den ich da heraufbeschworen habe, noch größer geworden, wenn er hätte größer sein können.
Goethe aber liebte die Hunde nicht. Warten Sie …
Johannes Falk: Goethe aus näherem persönlichem Umgange dargestellt. Kapitel IV. Goethes wissenschaftliche Ansichten, Gespräch über Monaden.
„An eine Vernichtung ist gar nicht zu denken; aber von irgendeiner mächtigen und dabei gemeinen Monas unterwegs angehalten und ihr untergeordnet zu werden, diese Gefahr hat allerdings etwas Bedenkliches, und die Furcht davor wüßte ich auf dem Wege einer bloßen Naturbetrachtung meinesteils nicht ganz zu beseitigen.“
Indem ließ sich ein Hund auf der Straße mit seinem Gebell zu wiederholten Malen vernehmen. Goethe, der von Natur eine Antipathie wider alle Hunde besitzt, fuhr mit Heftigkeit ans Fenster und rief ihm entgegen:
„Stelle dich wie du willst, Larve, mich sollst du doch nicht unterkriegen!“ Höchst befremdend für den, der den Zusammenhang Goethescher Ideen nicht kennt; für den aber, der damit bekannt ist, ein humoristischer Einfall, der eben am rechten Orte war!
„Dies niedrige Weltgesindel“, nahm er nach einer Pause und etwas beruhigter wieder das Wort, „pflegt sich über die Maßen breitzumachen; es ist ein wahres Monadenpack, womit wir in diesem Planetenwinkel zusammengeraten sind, und möchte wenig Ehre von dieser Gesellschaft, wenn sie auf andern Planeten davon hörten, für uns zu erwarten sein.“
Und:
Riemer: Mitteilungen.
„Einem anderen Befremden ist auch noch zu begegnen: wie Goethe die Hunde nicht habe leiden können.
Da der Hund eine solche allgemeine Protektion des Menschen genießt, daß gegen die Verwendung und das Halten desselben von Zeit zu Zeit sogar polizeiliche Verordnungen erlassen werden müssen, so will es vielen nicht eingehen, daß ein Naturforscher wie Goethe, der über komparierte Anatomie gedacht und geschrieben, eine solche Aversion vor den Hunden könne gehabt haben, wie andere kaum vor Spinnen und Kröten, wogegen die Natur selbst dem Menschen einen Abscheu eingeflößt zu haben scheine; daß er also einen gleichsam aristokratischen Haß auf sie, als auf die mit Recht so genannte Kanaille, geworfen, und darüber fast mit einem mächtigeren zerfallen.
Zuvörderst ist der soupçonnierte und zur Tradition, besonders durch Falks fabelhafte Anekdote, gewordene Hundeabscheu nicht von der Ausdehnung, die man annimmt, noch irgendeiner anderen Bedeutung, als daß Goethe eben kein besonderes Vergnügen an dieser Tiergattung finden konnte.
Zwar spricht er seine Abneigung im allgemeinen gegen sie in seinem Gedichte aus; doch ist es besonders nur ihr Gebell, das kläffend sein Ohr zerreißt.“
Und:
„Wundern kann es mich nicht, daß Menschen Hunde so lieben. Denn ein erbärmlicher Schuft ist wie der Mensch so der Hund.“
Soweit Goethe.
Mit dem Lärm und Geräusch aber ist es so:
Geräusch anhören ist: an fremdem Leben teilnehmen. Ein guter Diagnostiker hat ‚empfindliche’ Hände – sie fühlten sonst nämlich nichts. Ein Gehirnmensch hat ein ‚empfindliches’ Gehirn – es könnte sonst nicht denken und nicht produzieren.
Nun stören Kollektivgeräusche kaum; mit Recht gewöhnt man sich daran, daß die Straße wie ein Meer erbraust, daß die Bahnen fahren, daß die Stadt jenes brodelnde Geräusch von sich gibt, das da ihr Leben anzeigt. Aber das freche Einzelgeräusch nadelt das Ohr, weil Teilnahme des fremden Lebensrhythmus erzwungen wird. Ein Übermütiger hupt fünfzehn Minuten vor einem Haus – ich warte mit ihm. Fräulein Lieschen Wendriner ‚übt’ etwas, was sie nie lernen wird: nämlich Klavier spielen – ich übe mit. Ein Hund bellt, er schlägt einmal an – das Ohr hört es nicht. Aber wenn der angebundene, eingesperrte, unzufriedene Hund stundenund stundenlang bellt …
Der Hund setzt an. Irgend etwas hat seine Aufmerksamkeit erregt. Er teilt das mit. Und schweigt nun nicht mehr; für ihn freilich hat das Gebell einen Sinn, für den zu bewachenden Herrn hat es kaum einen, für uns gar keinen. Er bellt und bellt. Alles, was nun geschieht, spielt sich vor dem Hintergrund dieses unablässig bohrenden Lautes ab, er bellt Primen, das Aas, von dem einmal angeschlagenen Ton geht er nicht mehr herunter; schließlich kann niemand verlangen, daß er wie eine Nachtigall singt. Er bellt und bellt. Nun hört er auf – wie dankbar bist du für diese Stille, sei gesegnet, Stille! Wie nach einem Schiffbruch sinkst du zerschlagen am Strand der Stille nieder, so klein, so glücklich, so unendlich dankbar … Und dann zerreißt er sie wieder und wieder, nun ist es doppelt schmerzlich, gedemütigt ist man durch so viel Krach, ein Spielball dieser albernen Laune, dieser falschen Wachsamkeit, dieser Angst, diesem Anzeiger des übersteigerten Eigentumbegriffes. Gute Nacht, stille Stunde –!
„Ausschlaggebend ist aber das Bellen des Hundes: die absolut verneinende Ausdrucksbewegung. Sie beweist, daß der Hund ein Symbol des Verbrechers ist. Goethe hat dies, wenn es ihm vielleicht auch nicht ganz klar geworden ist, doch sehr deutlich empfunden. Der Teufel wählt bei ihm den Leib eines Hundes. Während Faust im Evangelium laut liest, bellt der Hund immer heftiger: der Haß gegen Christus, gegen das Gute und Wahre.“ Und: „Interessant ist es, wen der Hund anbellt: es sind im allgemeinen gute Menschen, die er anbellt, gemeine, hündische Naturen nicht.“ Aber das hat einer gesagt, der schon mit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr wollte, so nicht mehr wollte: Otto Weininger.
Ein Kettenhund oder ein Hund im Zwinger ist etwas so Naturwidriges wie ein Ziehhund oder eine dressierte Varietékatze. Aber das stundenlange, nicht ablassende, immer auf einen Ton gestellte Gebell – das ist bitter. Es zerhackt die Zeit. Es ist wie eine unablässig schlagende Uhr: wieder ist eine Sekunde herum, du mußt sterben, erhebe dich ja nicht in irgendwelche Höhen, bleibe mit den Sohlen auf der Erde, sterben mußt du, du bist aus demselben Staub wie ich Hund, du gehörst zu uns, zu mir, zur Erde, bau-wau-hau!
Und dann sieh hinaus und betrachte dir den da. Wen er anbellt. Was ihm nicht paßt. Wie ers nicht will. Der Wagen soll nicht fahren. Das Pferd soll nicht laufen. Das Kind soll nicht rufen. Er hat Angst, und darum ist er frech. Er ist auch noch da, will er dir mitteilen. Du willst es gar nicht wissen? Dann teilt er dirs nochmal mit. Er schaltet sich in alle Vorgänge ein; er spektakelt, wenn er allein ist, weil er allein ist, und wenn Leute da sind, weil Leute da sind; er muß sich bellen hören, um an sich zu glauben. Er bewacht, was gestohlen ist, verteidigt den, der gemordet hat, er ist treu um der Treue willen und weil er Futter bekommt. Sie sind so simpel und machen so viel Lärm. Im Grunde um nichts.
Was wächst nicht alles in der Ruhe! Was kommt nicht alles zur Blüte in der Ruhe! Alexander von Villers sagts in den Briefen eines Unbekannten: „Ich liege im Bett und spüre die zitternde Sukzession der Sekunden …“ Stille. Ich sehne mich nach Stille. Schweigen heißt ja nicht: stumm sein.
Schriebe ich aber dasselbe von einem Motorzweirad, wenn es so pufft und knallt und rattert – da wären sie alle einer Meinung (die keins besitzen). Was dem einen sein Motor, ist dem andern sein Hund – aber mir will es widersinnig erscheinen, in der ohnehin lärmenden Stadt Wagen herumzufahren, von Hunden bewacht, die stundenund stundenlang die Leute, die andern Wagen und sich selbst ankläffen; es will mir hündisch erscheinen, die Vororte der großen Städte, die Stadtwohnungen selbst und das stille Land durch einen Lärm zu verpesten, der unnötig ist.
Denn in Wahrheit ist es der Hundebesitzer, der allen Tadel verdient, nicht das Tier, das ja nicht zu seinem Vergnügen bellt, sondern das so oft gequält wird. Niemand hat das Recht, aus Gedankenfaulheit Tier und Mensch so zu peinigen, wie der es tut, der nicht mit Hunden umzugehen versteht, also die Mehrzahl derer, die einen Hund besitzen.
Man muß das erstaunte Gesicht eines Hundebesitzers sehen, wenn ihm einer sagt, er könne des Gebells wegen nicht schlafen. Wie? Nicht schlafen? Ja, was geht denn das den Hund an? Meinen Hund? Mein Hund sollte nicht bellen dürfen … na, das wollen wir ja mal … so ein schönes, gutes, ordentliches Gebell, das die Einbrecher abschreckt … ! Schlafen will der –! Hö. Und das Erstaunen wird sehr bald zur Feindschaft; sie fassen es einfach nicht, daß ihnen der Luftraum eben nicht gehört, und daß wir zu eng aneinanderwohnen, als daß wir uns durch überflüssige Liebhabereien belästigen dürften. Niemand hat ein solches Recht, und gegen Rücksichtslosigkeit dieser Gattung ist jede Gegenwehr erlaubt. Denn sie sind auch moralisch im Unrecht.
Wer hat das Tier lieber: der es zu stark egoistischen Zwecken hält, nämlich um sich als Herr zu fühlen, ohne der Eigenart des Tieres entgegenzukommen, die darin besteht, daß es laufen, jagen, springen, sich schnell bewegen will; der Schuft, der es anbindet und der die erschütternden Sätze Schopenhauers über diese gemeine Tierquälerei lesen sollte, sie aber nicht begreifen wird; warum soll er auch ein lebendiges Wesen nicht zu lebenslänglicher Hundehütte verdonnern?
Oder hat der das Tier lieber, der ihm die größtmögliche Freiheit wünscht, ohne im übrigen von ihm belästigt werden zu wollen?
Was aber ein regelmäßiges, stumpfes, sinnloses und sich stundenlang wiederholendes Geräusch angeht, so müssen die Gehirne wohl verschieden gebaut sein. Ich denke mir die Hölle so, daß ich unter der Aufsicht eines preußischen Landgerichtsdirektors, der nachts von einem Reichswehrhauptmann abgelöst wird, in einem Kessel koche – vor dem sitzt einer und liest mir alte Leitartikel vor. Neben dieser Vorrichtung aber steht ein Hundezwinger, darin stehen, liegen, jaulen, brüllen, bellen und heulen zweiundvierzig Hunde. Ab und zu kommt Besuch aus dem Himmel und sieht mitleidig nach, ob ich noch da bin – das stärkt des frommen Besuchers Verdauung. Und die Hunde bellen … !
Lieber Gott, gib mir den Himmel der Geräuschlosigkeit. Unruhe produziere ich allein. Gib mir die Ruhe, die Lautlosigkeit und die Stille. Amen.


Autorenangabe: Kurt Tucholsky
Ersterscheinung: Das Lächeln der Mona Lisa. Berlin 1929

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1927, S. 731 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 5, S. 334 ff.

Brief an Marierose Fuchs

DIE WELTBÜHNE
Begründet von Siegfried Jacobsohn
Geleitet von Carl v. Ossietzky

Berlin-Charlottenburg
Kantstraße 152
Fernsprecher: Steinplatz 7757

14.8.29

Frau Marierose Fuchs
Redaktion der Germania
Berlin

Sehr verehrte gnädige Frau, Sie hatten die Freundlichkeit, in einer Buchbesprechung Journalistik im Buch in der Germania vom 14.7. d. J. auch etwas über meine Arbeiten zu schreiben. Erlauben Sie mir bitte dazu ein Wort.

Wer in der Öffentlichkeit Kegel schiebt, muß sich von jedem sagen lassen, wieviel Punkte er geworfen hat – darüber ist nicht zu reden. Wenn aber zwei Elemente zusammenstoßen, so ist der Klang, den das gibt, ein Produkt beider; man kann nicht sagen, daß nur eines daran schuld sei. Was mich bewegt, von einem Grundsatz: nämlich zu schweigen, eine Ausnahme zu machen, ist ein Satz, den Sie geschrieben haben: „Aber da ist, wesentlicher, ein anderes: Ein erschreckender Mangel an Ehrfurcht vor fremder Überzeugung.“
Wenn das in der Germania steht, so kann sich dieser Vorwurf in erster Linie nur auf die Religion beziehen. Und das halte ich nicht für gerechtfertigt.
Bin ich ein so schlechter Schriftsteller, daß […] Spürt man nicht hinter der Frechheit […] Mentalität? Ist nicht überall sauber unterschieden zwischen der Kirche als Hort des Glaubens, über den ich mich niemals lustig gemacht habe – und der Kirche als politische Institution im Staat?
Über die letztere allerdings … da gibt es wohl keinen guten Witz, den ich jemals ausließe. Wie! „Herumreiterei auf der Rolle der Kirchen im Weltkrieg, ohne tiefer zu schauen“ – gnädige Frau, haben Sie einmal tiefer geschaut, zum Beispiel in ein Massengrab? Ich aber. Was sollen mir spitzfindige Erklärungen; was die unbestreitbar saubere Haltung vieler Geistlicher, besonders der katholischen, die ihre protestantischen Kollegen – hier wie auch sonst – um ein vielfaches überragt haben – was soll mir alles das, wenn im entscheidenden Augenblick die Kirche in Paris und die Kirche in Berlin die Leute zum Mord antreibt? Gegen ihre eigene Lehre? (Was man da herumtiftelt, verfälscht Christus, die einzig wahre Gotteslästerung, die mir bekannt ist.) Nein, was mich betrübt und schmerzt, weil ich die Suchenden in allen Lagern spüre und selber zu ihnen gehöre -: was mich schmerzt, ist die Tatsache, daß die katholische Kirche fatal protestantisch geworden ist. Wäre sie nur so, wie Sie glauben, ich sähe sie – aber so ist sie nicht. Fragen Sie ein wenig in der Jugend Ihrer Partei und Ihrer Religion – die werden das verstehen.
Ich antworte Ihnen nicht öffentlich; denn Sie haben das Recht, alles, was Sie für richtig halten, über mich zu schreiben. Ich gebe Ihnen privat zu bedenken: nicht alle Wege führen über Rom. Wir andern – auch wir suchen. Und lachen nur über die, die versuchen, die Lehre eines [großen Revolutionärs] und reinen Menschen mit den Bedürfnissen spießiger [Kleinbürger] in Einklang zu bringen.
Mit den besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener
Dr. Tucholsky

Traktat über den Hund, sowie über Lerm und Geräusch: 2. Satire

Die Wahrheiten müssen Akrobaten
werden, damit wir sie erkennen.
O. W.

„Über Lerm und Geräusch.“ So schrieb Schopenhauer: ‚Lerm’ – mit einem E; plattköpfig und stumpf kroch das um ihn herum, was er, außer Hegeln, am meisten haßte. Den Lärmempfindlichen hat er Komplimente gemacht, die wir bescheiden ablehnen …
Da habe ich über die Hunde traktiert, eigentlich mehr über das nervenabtötende Gebell dieser Tiere, und man muß schon das Vaterland, das teure, und was an Generalen, Zeitungen und deutschen Männern drum und dran hängt, beleidigen, um einen solchen Lerm zu erleben. Die Aufregung, die aus Prag herüberkam, kann ich mir nur so erklären, daß Schwejk dort mit herrlich gefälschten Hunden gehandelt hat; was ich daselbst gedruckt zu hören bekommen habe, war allerdings freundlich und ging noch an. Aber die Briefe, die die Hundefreunde geschrieben haben, die kann man nicht erfinden. „Ich bin noch nie von einem Hund verbellt worden – der Hund bellt nur schlechtgekleidete Sujets an“ und: „Wollte mal fragen, ob Sie keine Würstchen unter sich lassen – erfinden Sie doch mal einen Nachttopf für Hunde!“, und ein ‚Reichsbund zur Wahrung der Hundebelange’ schloß seinen Brief: „Wir zeichnen, weil es so üblich ist, mit Hochachtung“ – da haben wir Glück gehabt, und so in infinitum zur Morgenund zur Abendsuppe. Wenn ich ein Hund wäre: solche Freunde möchte ich nicht haben.
Abgesehen von der triefäugigen Sentimentalität, die alle Vorwürfe akkordiert, wenn sie gegen menschliche Säuglinge gerichtet sind, die ohne Grund brüllten, sich einmachten und überhaupt, im Gegensatz zu den süßen Hündlein, abscheulich seien – abgesehen von der göttlichen Liebe, die sich da verklemmt hat: ich habe keine leichte Zeit hinter mir. Wilhelm Speyer, der etwas von Tieren versteht, hat mir in mein hochfein möbliertes Haus geschrieben, ich sei wohl vom wilden Strindberg gebissen – ein Mann in meinen Jahren! Kurz: keiner der obbezeichneten Hunde möchte hinfürder noch ein Stück Brot von mir nehmen, wenn er eins bekäme. Lasset uns beten. Und ernsthaft untersuchen, was es denn da gegeben hat.
Durch nichts, aber auch durch nichts kann man Menschen so aus dem Häuschen bringen als dadurch, daß man ihnen verbietet, gewohnten Lärm zu machen. Du kannst eine Monarchie durch eine gleich minderwertige Republik ablösen – darüber läßt sich reden. Aber der Lärm ist geheiligt.
Der Städter ist ein armes Luder.
Zu essen bekommt er, was ihm die Händler geben, es wird nicht sauberer durch die Hände, die es passiert; vom Grund und Boden weiß er nur, daß er den andern, immer den andern gehört, und widerstandslos erduldet er die satanische Komik von Grundstücksspekulanten, die mit der Haut der Erde handeln, unter die man sie – sechs Fuß tief – herunterläßt, wenn alles vorbei ist, und in deren wahre Tiefen niemand dringt; unfrei ist der Städter, gebunden an Händen, Füßen, Valuta, Schullesebuch und Vaterland. Aber eine Freiheit hat er, nimmt er sich, mißbraucht er – einmal besauft sich der Sklave und spielt torkelnd den Herrn. Er macht Radau.
Daß einer eng am andern wohnt, weiß der eine; daß man nicht Feuer im Hof anzünden, nicht nachts in einer Wohnung, dem überzahlten castle, Pferde zureiten darf; daß man nicht aus dem Fenster schießt: das hat sich allmählich herumgesprochen. Belästigungen durch Rauch, durch Geschosse, durch Rohrund Drahtleitungen, ja, durch Aufstellung von Reklametafeln sind Gegenstand braver bürgerlicher Prozesse.
Lärm aber darf gemacht werden.
Die Hundefreunde, denen man untersagt, ihren Köter zu quälen, ihn einzusperren, ihn stundenlang bellen zu lassen, fühlen sich im Heiligsten getroffen; in ihrer, verzeihen Sie das harte Wort, Freiheit.
Hat der Parzellenmensch eine Prärie um sich? Er ist in Schubladen wohnend untergebracht und richtet sich auch in allem danach – nur das Ohr des Schubladennachbarn ist Freigut; die Gehörsphäre braucht nicht geschont zu werden. Alles, was an Einfluß auf Krieg und Frieden, auf Verwendung der Steuern nicht vorhanden ist, tobt sich im Hause aus. Darin nähern sich besonders Frauen dem Urzustand der Primitiven.
Als ich das letzte Mal in Berlin wohnte, da rollte jeden Morgen eine Stunde lang eine reitende Artillerie-Brigade über die Decke dahin: eine deutsche Hausfrau (e. V.) ackerte dort ihr Schlafzimmer, anders war der Lärm nicht zu erklären.
Nun sind aber die Lebensgewohnheiten im bürgerlichen Haushalt keinem Wechsel der Geschichte unterworfen; „der bürgerliche Haushalt wird nur deshalb betrieben, damit der archäologische Forscher dort noch heute die Arbeitsmethoden der Steinzeit studieren kann“ (Sir Galahad). Hier eingreifen stößt auf Mord. Keine Zeitung, die es wagen könnte, in diesen Muff eine wettersichere Grubenlampe hinunterzulassen – das Geschrei von Hausfrauen, klavierübenden und gesangsheulenden Damen beiderlei Geschlechts, von organisierten Tierfreunden und reinmachewahnsinnigen Besessenen dampfte ihr entgegen. In meiner Wohnung kann ich machen, was ich will – das wäre ja gelacht.
Es ist zum Weinen.
Denn da und nur da sind die Wurzeln ihrer Kraft. Das ändere du mal. Da zeig mal, was du kannst. Sie machen sich das Leben schwer, den andern zur Hölle – und sie sind so stolz darauf! Die Reinmachenden machen nicht rein: sie unterliegen gewissen Zwangsvorstellungen einen Hausgott ehrend, der unerhörte Opfer verlangt – mit Sauberkeit hat das wenig zu tun. Es ist Recht, Pflicht und göttliches Gebot, dem Nachbarn den Teppichstaub in den Suppentopf zu schlagen; wie Kanonenschläge hallt das durch die steilen Steinhöfe. Ordnung muß sein. Der schwarze Hals des Lautsprechers gurgelt im schweren Übelsein heraus, was er zuviel an Lärm gefressen hat – dazu öffnet man füglich die Fenster, damit der Nachbar auch etwas davon habe, und wenn Ihnen det nich paßt, denn missen Se ehm inne Wieste ziehn.
Aber das wird nicht gut auslaufen. Denn in der Wüste steht das Zelt des Forschungsreisenden Karbumke, und der hat einen Hund. Und der Hund steht, am Zeltpflock angebunden, und bellt alles an, was sich ringsum bewegt. Es soll sich, außer seinen Flöhen, nichts bewegen.
Bleiben wir im Lande und nähren wir uns redlich, die Ohren mit Wachs verklebt wie die Gefährten des Odysseus, die die Musik-Etüden des Sirenen-Konservatoriums nicht hören sollten. Schrei: „Ruhe!“ Eine Flut von Schimpfworten, Geheul, Rufen, eine Wolke von geschwungenen Federbesen, eine Welle von Papierfetzen, alten Pappdeckeln, Holzstücken und Müllwasser rauscht auf. Ich weiß, wo sie verletztlich sind. Es juckt, sie da anzufassen. Da, in der Abwehr, auch da, wo sie recht haben, zum Beispiel in der Beurteilung ihrer Hunde, sind sie ganz sie selbst. Die Haut reißen sie sich herunter, so nackt sind sie da. Und keine Zeitung, keine Broschüre, kein Buch kann sie in diesem Punkt ändern. In der Stickluft dieser ungelüfteten Treibhäuser gedeihen die Mikroben der Religion, des Berufskostüms und des Vaterlandes.
Und zu wissen, daß man dazu gehört und einer von ihnen, und daß da kein Grund ist zu überheblichem Mitleid, daß das Spiel mitzuspielen ist, Gleicher unter Gleichen, und daß man helfen soll und lieben. Denn manchmal weinen sie und paaren sich seufzend und lallen mit ihren Kindern und sind selber welche und machen mancherlei Lerm und Geräusch.


Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4. Oktober 1927, Nr. 40, S. 522

Wieder in: Das Lächeln der Mona Lisa. Berlin 1929.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1927, S. 717 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 5, S. 328 ff.

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