Der Verkehr

Der Verkehr ist in Deutschland zu einer nationalen Zwangsvorstellung geworden.
Zunächst sind die deutschen Städter auf ihren Verkehr stolz. Ich habe nie ergründen können, aus welchem Grunde. Krach auf den Straßen, Staub und viele Autos sind die Begleiterscheinung eines Städtebaues, der mit den neuen Formen nicht fertig wird – wie kann man darauf stolz sein?
Es ist wohl so, daß sich der einzelne als irgend etwas fühlen muß – der soziale Geltungsdrang, an so vielen Stellen abgestoppt, gebremst, zunichte gemacht, findet hier sein Ventil und dringt zischend ins Freie. „Was sagen Sie zu dem Verkehr bei uns –?“ Da sagen wir denn also, daß er überall in Deutschland, ohne jede Ausnahme, viel kleiner ist als etwa der in Paris – die Pariser aber sind über ihre verunstalteten Boulevards todunglücklich und trauern der alten, schönen Zeit nach, da man dort noch spazieren gehen konnte … heute bläst es aus tausend Hupen.
Es wäre viel schöner, wenn jede große deutsche Stadt ein Innenviertel hätte, in dem gearbeitet wird, und grüne Außenviertel, wo die Leute gesund wohnen. Aber da haben wir vorläufig noch alles durcheinander; in den engen Darmstraßen Kölns wohnen Leute, und die Berliner verderben sich jedes gute Wohnviertel durch ihre Faulheit, nicht „in die Stadt“ gehen zu wollen – so gibt es überall eine trübe Mischung von Geschäfts- und Wohnvierteln, die weder das eine noch das andere sind. Viel grauslicher aber ist die Regelung dieses nicht vorhandenen Verkehrs.
Nachdem die allgemeine Wehrpflicht weggefallen war, sah sich der Deutsche nach einem Ersatz um. Die Wohnungsämter … das war schon ganz schön, aber noch nicht das richtige. Die Sportverbände – hm. Die Reichswehr: zu klein. Da fuhren ein paar tüchtige Beamte nach Amerika und London, kamen, sahen, machten Notizen … und der Ersatz war gefunden. Der Ersatz der allgemeinen Wehrpflicht ist die deutsche Verkehrsregelung.
Was da zusammengeregelt wird, geht auf keine Kuhhaut.
Die organisationswütigen Verwaltungsbeamten haben jeden gesunden Sinn für Maß und Ziel verloren; sieht man sich dieses Gefuchtel, Geblink, Geklingel und Gewink an, so wird einem angst und bange – vor lauter Leitern, Regelern, Organisatoren ist nur eines nicht zu sehen: der Verkehr.
Es wird zunächst viel zuviel geregelt. Wo im Ausland ein einziger Polizist still an der Ecke steht und ab und zu einen helfenden Wink gibt, steht hier der Büttel. Dem kommt es oft gar nicht darauf an, den Fahrenden oder den Gehenden wirklich zu helfen. Wie immer in Deutschland, ist hier kodifiziertes Recht; diese Regelung hat weiter keinen Wunsch und Willen, als den von ihr aufgestellten Regeln um ihrer selbst willen Geltung zu verschaffen. Es ist die Staatsautorität, die hier herumwirtschaftet.
Das zeigt sich in erster Linie an der sinnlosen Mechanisierung der Regelung. Gehst du zum Beispiel durch Berlin, so siehst du an Hunderten von Stellen Wagen halten, ohne daß ein anderer Grund dafür vorläge, als daß vor ihnen eine rote Lampe brennt, die übrigens so aufgehängt ist, daß sie der vorderste Fahrer im geschlossenen Wagen kaum sehen kann. Ganz mechanisch wird das gemacht; auf einer „Zentrale“, diesem Ideal aller Organisatoren, läuft ein Apparat, und vierzehn Straßenzüge sind gesperrt, große, kleine, belebte, leere – darauf kommt es gar nicht an. Es kommt auf die rote Lampe an. Da stehen nun die Wagen. Und warten. Und verlieren Zeit. Es ist eine Qual, durch Berlin zu fahren.
Die Folgen dieser Reglerei sind denn auch katastrophal. Kommt ein Wagen an eine Straßenecke, so ist das ein „Problem“; die Radfahrer sitzen ab, alle Leute haben eine überspitzte Aufmerksamkeit, in ihre Augen tritt ein seltsamer Ausdruck –: sie machen Fahrdienst. Nichts ist locker, alles ist gespannt, viel zu sehr gespannt, um nicht bei jeder kleinen Schwierigkeit zu reißen – alle machen Dienst.
Es ist so viel Freude am Befehlen in diesem Kram; die Mienen, das Betragen der meisten Polizisten, besonders in den größeren Städten, haben durchaus etwas Vorgesetztenhaftes an sich; sie kämen gar nicht auf den Gedanken, daß sie dazu da sind, den Verkehr zu glätten – sie achten auf die Durchführung von Vorschriften, die keinen andern Sinn haben, als durchgeführt zu werden. Das kommt den Leuten kaum zum Bewußtsein – so eingedrillt ist ihnen das alles. Man spürt in jeder Fiber, wie im regelnden Polizeimann eine Stimme singt: „Vor allem halte hier mal an. Und dann werden wir weiter sehen. Und so einfach weitergefahren wird auch nicht – das ist hier eine ernste Sache, und die hast du zu respektieren.“ Und ob sie sie respektieren! Sie sind wirklich stolz darauf, gewissermaßen kantig zu gehorchen, es ist das alte Kommiß, das unausrottbar in ihrem Blut sitzt – ruck, zuck – und so fahren sie. Und so fahren sie, und niemand fährt so unkameradschaftlich wie sie. Von dem Martyrium alleinfahrender Damen, die nicht hübsch sind, will ich gar nicht einmal reden; das Auto ist ja in Deutschland durch die irrsinnige Steuerpolitik, durch die systematische Vernichtung der Konsumskraft noch lange nicht Sache des kleinen Mannes, wieviel Neid schwirrt um die Wagen! Wenn sie auch nicht überall, wie manchmal in Bayern, den Autofahrern Messer in die Wagen werfen: sehr freundlich werden die nicht angesehen. Aber noch unfreundlicher behandeln sie sich untereinander.
Der Deutsche fährt nicht wie andere Menschen. Er fährt, um recht zu haben. Dem Polizisten gegenüber; dem Fußgänger gegenüber, der es übrigens ebenso treibt – und vor allem dem fahrenden Nachbar gegenüber. Rücksicht nehmen? um die entscheidende Spur nachgeben? auflockern? nett sein, weil das praktischer ist? Na, das wär ja … Es gibt bereits Frageecken in den großen Zeitungen, wo im vollen Ernst Situationen aus dem Straßenleben beschrieben werden, damit nun nachher wenigstens theoretisch die einzig „richtige Lösung gestellt“ werden kann – man kann das in keine andere Sprache übersetzen. Als ob es eine solche Lösung gäbe! Als ob es nicht immer, von den paar groben Fällen abgesehen, auf die weiche Nachgiebigkeit, auf die Geschicklichkeit, auf die Geistesgegenwart ankäme, eben auf das Runde, und nicht auf das Viereckige! Aber nichts davon. Mit einer Sturheit, die geradezu von einem Kasernenhof importiert erscheint, fährt Wagen gegen Wagen, weil er das „Vorfahrrecht“ hat; brüllen sich die Leute an, statt sich entgegenzukommen – sie haben ja alle so recht! Als Oberster kommt dann der Polizeimann dazu, und vor dem haben sie alle unrecht.
Die feinen Leute in Berlin sind sehr stolz darauf, daß die „beliebtesten“ Polizisten zu Weihnachten von den Autofahrern so viel Geschenke bekommen, wie die für arme Kinder niemals übrig hätten – wieviel Anmeierei ist darin, Untertanenhaftigkeit, Feigheit, Angst und Anerkennung der Obrigkeit; denn Ordnung muß sein, und anders können sie sich Ordnung nicht vorstellen.
Es ist keine Ordnung. Es ist organisierte Rüpelei.
Daher ihre völlige Ohnmacht, wenn sie in Paris fahren sollen, wo die Fahrer einen einzigen Strom bilden, in dem jeder falsche Individualismus völlig verschwindet, in dem es wenig Regeln, aber sehr viel Entgegenkommen gibt, sehr viel Rücksicht auf den Fußgänger, sehr viel Fluidum zwischen den Fahrenden – kurz, trotz aller Polizeivorschriften des eifrigen Herrn Chiappe, lauter Dinge, die nicht in den Lehrbüchern stehen. Wie kommt das –?
Das kommt daher, daß die Deutschen sich einbilden, man könne eine Sache zu Ende organisieren. Das kann man eben nicht. Man kann eben nicht alles kodifizieren, vorher bestimmen, ein für allemal voraussehen, alle jemals vorkommenden Lagen bedenken, sie „regeln“ und dann keinen Einspruch mehr gelten lassen … so sieht die Justiz dieses Landes aus, und sie ist auch danach. Auf den Straßen aber ergibt sich das groteske Zerrbild, daß der Fußgänger der Feind des Autos ist, das er neidisch und verächtlich ignoriert – er wird es den Brüdern schon zeigen –; der Fahrer Feind des Fußgängers – wo ick fahre, da fahre ick – ums Verrecken bremst er nicht vorsichtig ab, fährt nicht um den Fußgänger herum, weil „der ja ausweichen kann“ … und aller Feind ist der regelnde Mann: der Polizist.
Das Ideal dieses Verkehrs sieht so aus, daß vom Brandenburger Tor herunter alle Städte des Reichs durch einen Reichsverkehrswart geregelt werden, überall hat zu gleicher Zeit ein grünes Licht aufzuleuchten, und gehorsam und scharf anfahrend, setzen sich 63.657 Wagen in Fahrt. Das wäre ein Fest…
Schade, daß es nicht geht. Aber er ist auch so schon ganz hübsch, der deutsche Verkehr. Man fährt am besten um ihn herum.

Ersterscheinung: Deutschland, Deutschland über alles, Berlin 1929, S. 199-201

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1929, S. 199-201

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 7, S. 305 ff.

Erklärung

Am neunundzwanzigsten Juni dieses Jahres erschien in der Nummer 26 der „Weltbühne“ ein Artikel von Ignaz Wrobel: „Die Schupo“. Er befaßte sich mit der allzu militärischen Dienstauffassung ihres Offiziercorps.

Am achtundzwanzigsten Juli druckte die pariser Zeitung „L’Eclair“ diesen Artikel ab – der in der Hauptsache den Polizeimajor Fendel-Sartorius als Verfasser des Heftchens: „Die Schutzpolizei und ihre Gefechtsgrundsätze“ zu Worte kommen ließ. Übersetzung und Nachdruck des „Eclair“ waren nicht autorisiert, aber unter den heutigen Umständen natürlich nicht zu verhindern gewesen. Dem Artikel war eine redaktionelle Notiz – M.H. gezeichnet – vorangeschickt, die mit den Worten begann: „Wir erhalten von einem berliner Publizisten folgende überzeugenden Enthüllungen über die Schupo …“

Der „Eclair“ hat niemals etwas von mir bekommen – weder direkt noch indirekt. Auch dieser Artikel war ihm niemals übersandt worden.

Am Erscheinungstag dieser französischen Übersetzung meines Artikels aus der „Weltbühne“ veröffentlichte das berliner Acht-Uhr-Abendblatt ein Telegramm seines pariser Korrespondenten unter der Überschrift: „Ein ‚Deutscher'“. Darin wurde ich beschuldigt, dem Ausland deutschfeindliches Material übergeben zu haben. Ich berichtigte diese Verleumdung – die Berichtigung erschien am neunundzwanzigsten Juli.

Seit diesem Tage tobt die reaktionäre Provinzpresse aller Kaliber um jene Lüge, deren Berichtigung für sie nicht existiert. Gesinnungsgenossen des Zuhälters Ankermann beschimpfen mich telephonisch, die Drohbriefe sind entsprechend – und das Ganze ist unendlich feige.

Ich stelle hier fest:

Ich habe niemals von einer Entente-Zeitung Geld oder sonst eine Vergünstigung bekommen – weder direkt noch indirekt. Ich habe niemals an das Ausland irgend welches Material gegeben. Was ich gegen eine militärisch eingestellte Nebenregierung habe sagen wollen, habe ich in der Heimat gesagt. Und nirgends anderswo.

Eine Presse, die Herrn Erich Ludendorff niemals verübelt hat, daß er in den Northcliffe-Zeitungen für ein Valuta-Honorar gegen die deutsche Republik hetzt, während die noch um ihr Leben kämpft, wird nicht so viel journalistischen oder politischen Anstand aufbringen, von dieser Erklärung Notiz zu nehmen.

Ich habe sie für meine Freunde aufgeschrieben, an deren guter Meinung mir liegt.


Autorenangabe: Kurt Tucholsky

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 17.08.1922, S. 176

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1922

Gesang der englischen Chorknaben

Ehre sei Gott in der Hö-hö-he!

Wer hat die Wanzen und Flö-hö-he?
      Die Armen,
      die Armen - Oh, habet Erbarmen!
      Die Reichen
      die Reichen
    die brauchen das nicht;
    sie liegen auf weichen,
    weichen Kissen im Licht
    oder bei ihren Damen –
      Amen.

Ehre sei Gott in der ersten Etage!
      Courage! Courage!
    Macht eure Fabrik auch mal Plei-hei-te,
    die Kirche, die steht euch zur Sei-hei-te
    und gibt euch stets das Geleite:
      sie beugt dem Proleten den Rücken krumm
      und hält ihn sein ganzes Leben lang dumm,
      und segnet den Staat und seine Soldaten,
      die Unternehmer und Potentaten
      und segnet überhaupt jede Schweinerei
      und ist allemal dabei.
    Jeder lebe in seinem Rahmen:
    unten die Arbeitsamen
    und oben die mit den Börseneinnahmen –
      Amen.

Ehre den Gott der herrschenden Klassen!
    Wir zähmen die Massen!
    Wir lassen sie beten,
    wenn sie getreten;
    wir lassen sie singen,
    wenn sie vor Hunger zerspringen;
    wir lassen sie knien:
    Wir wollen den Proletarier erziehn
      zu einem geduldigen
      unschuldigen
      Arbeitstier -          I-A! I-A!
      Hallelujah! Oh, tut doch nimmer im Beten erlahmen! und höret auf der Kirche Reklamen - jedes Ding, das ihr schiebt, schiebt ihr in IHREM
                            Namen
                    Amen!


Autorenangabe: Theobald Tiger
Ersterscheinung: Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1928, Nr. 35, S. 11.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928, S. 476 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 214 ff.

Der Mann mit den zwei Einjährigen

Jetzt, wo alle Leute den Krieg liquidieren; wo die letzten Erinnerungen zu Büchern gerinnen; wo leise, ganz leise die Zeit herankommt, da aus den Helden von gestern die Invaliden von morgen werden … da möchte denn einer sein Gewissen erleichtern, die Höhensonne bringt es an den Tag, es muß heraus, er hat es getragen siebzehn Jahr, nicht länger trägt er es mehr – aber hören wir ihn selbst:
»Vierzehn Tage vor der Versetzung nach Obersekunda wankte ich herum und gab Mamachen zu, daß es schief gegangen sei. Sitzengeblieben … Schülerselbstmorde kamen damals gerade auf, aber ich trug sie noch nicht – und um diese Versetzung war es besonders schade: sollte sie doch das Einjährige bringen, die Berechtigung zum Königlich Einjährig-Freiwilligen-Dienst – und weil es mit den Verben auf mi endgültig nicht klappte und bei den Gleichungen mit drei Unbekannten ein kleiner Ausrutscher zu verzeichnen stand, winkten zwei Jahre Dienstzeit. (Ich wußte damals noch nicht, daß es vier werden sollten.) Mamachen war nicht beglückt, und ich bekam ein paar hinter die Ohren. (›In Ihrem Alter – Wie alt waren Sie damals? – Ich als Vater … Sie als Sohn … Erlauben Sie mal, gerade vom Standpunkt der pädagogischen Propädeutik … ich gehe von dem Standpunkt aus … meine Einstellung ist irgendwie … ‹ – also wer nu hier? Ihr oder ich? Ich:) bekam also ein paar hinter die Ohren. Das war am 14. März. Am 28. war Zensurenverteilung, aber der 28. sah mich nicht in der Aula, wo die Klassen rauschend aufstanden, um zu hören, wer versetzt worden sei … begossenen Gemütes zogen die Sitzengebliebenen, Verachteten, Ausgestoßenen, Nichtmehrdazugehörigen in ihre Klassenzimmer … Ich war nicht dabei. Ich lag zu Hause im Bett und spielte den eingebildeten Kranken, was ich so besorgte, daß ich wirklich krank wurde. Zwei Tage später kroch ich in die Bellevuestraße und holte mir vom Schulpedell mein Zeugnis.
Die Klippschule lag da, wo heute der Reichswirtschaftsrat seine Existenzberechtigung dadurch nachweist, daß er da ist – ich zottelte den langen Gang hinunter und traute mich gar nicht zu dem Kastellan hinein, der so eine Art Mittelding zwischen Feldwebel und Direktor war … Aber wider Erwarten freundlich gab er mir mein Zeugnis. Ich sah es an – und wollte es ihm zurückgeben. Das war nicht mein Zeugnis. Das war das Zeugnis eines, der versetzt worden war. Ich, ich war sitzen geblieben.
Da stand jedoch: Kaspar Hauser, und das war ich, und ich sah das Zeugnis an, und dann den Schuldiener (der wahrscheinlich heute Studienwachtmeister heißt), und dann ging ich ganz schnell wieder hinaus, aus Angst, sie könnten die Sache wieder rückgängig machen – und dann stelzte ich den langen Gang wieder herunter, froh, vergnügt, großer Mann … als ich auf der Bellevuestraße ankam, machte ich ein Gesicht wie: ›Natürlich – was ist denn dabei? Ich habe mir nur mein Einjähriges abgeholt … !‹ Da hatte ich es – das Einjährige.
Dann nahmen die Verben auf mi an Schwierigkeiten zu, die Trigonometrie auch, meine deutschen Aufsätze ließen mich erkennen, daß es nicht genügt, seine Muttersprache zu lieben – nein, man muß sie auch so schreiben, wie sich greise Schulamtskandidaten den deutschen Stil vorstellen. Ach! von Groll gegen meine Lehrer ist nichts zurückgeblieben, ich habe ihn zerlacht und sie vergessen, alle miteinander. Und als es gar zu schlimm mit den deutschen Aufsätzen wurde, da setzte eine dicke IV meinem Streben einen Riegel vor; ich blieb nun wirklich sitzen, und mit den Augen die hoffnungslos in die Ferne gerückte Unterprima musternd, ging ich von der Schule ab. Und arbeitete weiter, um das Abitur als Externer zu bestehen.
Heute, wo trotz der übertriebenen Angst der Schüler und des lächerlichen Respekts der Eltern vor der ›Bildung‹ so viel kleine Revolverschüsse langsam eine Reform des Unterrichts erzwingen, heute ist das ja alles anders. Aber damals wurde derjenige, der ein Abitur als Externer bauen wollte, wie ein Verbrecher behandelt; man kam sich vor, als stehe man als Entlastungszeuge vor einem Staatsanwalt … so etwa war die Atmosphäre. Ich arbeitete wie ein Neger.
›Kaspar‹, sagte mein Pauker eines Tages zu mir … also ›Pauker‹ ist ein Kosewort; ich verdanke dem Mann sehr, sehr viel; er war ein wunderherrlicher Einpauker, weil er den Betrieb nicht ernster nahm als unbedingt nötig, und wenn er dieses liest, dann wollen wir in Gedanken miteinander anstoßen, womit er will: mit einem sanften Burgunder oder einem scharfen schwedischen Schnap – auf alle Fälle: Prost! – ›Kaspar‹, sagte er zu mir, ›in einem halben Jahr steigt das Examen. Das ist eine Nervenfrage. Wer garantiert uns, daß Sie wirklich alles aufsagen, was ich Ihnen eingetrichtert habe? Das mit der Hyperbel und Joachim Friedrich und mit den Nebenflüssen der Tunguska, kurz das, was einen gebildeten Menschen ausmacht, lachen Sie nicht! Wer garantiert uns, daß Sie nicht schlapp machen und da auf einmal alles vergessen, was Sie hier so schön gewußt haben? Niemand garantiert uns das. Infolgedessen wollen wir eine Generalprobe machen!‹ – ›Wollen wir uns einen Schulrat engagieren, der mich zu Hause prüft?‹ schlug ich vor. ›Affe‹, sagte der Pauker. ›Sie gehen hin und machen als Probe das Einjährige.‹ – ›Ich habe das Einjährige‹, sagte ich. ›Da machen Sie es eben noch einmal!‹ sagte der Pauker. ›Wo?‹ sagte ich. ›Vor der Kommission in der Heidestraße‹, sagte der Pauker. Bei Gott, dies geschah.
Lieber Panter, Sie werden meinen wirklichen Namen nicht in die Tante Voß setzen, denn vielleicht findet sich ein schneidiger junger Herr bei der Staatsanwaltschaft, der, während gerade kein Gotteslästerungsprozeß steigt, sich mit dieser Sache eine gute Nummer verdienen will … ich legte also der Militärkommission am Lehrter Bahnhof meine Papiere vor, alle – mit Ausnahme des Einjährigen aus der Bellevuestraße. Das behielt ich zu Hause. Und ich wurde zum Examen zugelassen. Und ich ging in dieses Examen.
Neben mir saßen durchgefallene Fähnriche aus den Pressen, gebildete Arbeiter, die sich ihre geistige Arbeit von den Nachtstunden abgetrotzt hatten – vor uns saßen schneidige Offiziere und einige traurige Zivilisten, und so wurden wir geprüft. Es ging sehr scharf her, von den zwölf jungen Herren kamen nur zwei durch – der andere war ein gewisser Salter, der Mann ist später trotz des Einjährigen vor die Hunde gegangen. Der eine war ich. Dies war meine Generalprobe für das Abitur.
Und da sitze ich nun und habe also zwei Einjährige, und vielleicht hat deswegen der Krieg so lange gedauert, und ich mußte es einmal erzählen, denn außer dem braven Lehrer weiß den Schmuh keiner, und es hat mich bedrückt, und nie getraue ich mich zu einem Psychoanalytiker – denn dann käme es heraus, dies und noch vieles andere – und ich sitze da mit meinen beiden Einjährigen und möchte mal fragen, ob vielleicht keiner das andere haben will … ?«
Dies ist der Bericht des Mannes, der zwei Einjährige hat. Ergreift sein Sohn einmal die Laufbahn des mittleren Handwerkers, dann kann er dem ja das zweite mitgeben. Weil man doch ohne Examen nicht arbeiten darf, hierzulande.

Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Vossische Zeitung, 18.08.1929, Nr. 388.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1929, S. 370 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 7, S. 164 ff.

Die Sicherungsverwahrung

„Für die Ablehnung der Todesstrafe stimmten die Sozialdemokraten, die Kommunisten, Frau Lüders (Demokrat) und Doktor Kahl (Deutsche Volkspartei). Vor der Abstimmung hatte der Vorsitzende des Ausschusses, Doktor Kahl, erklärt, daß er nur unter der Voraussetzung für die Abschaffung der Todesstrafe stimme, daß die Annahme seines Antrages zur Sicherungsverwahrung erfolgen werde.“

   Im Strafrechtsausschuß geht ein Kuhhandel vor sich, so gemein, so niedrig und so empörend, daß wir dagegen aufstehen. Die Fürstenabfindung ist ein Verbrechen am deutschen Volk gewesen; der Panzerkreuzer eine konsequente Inkonsequenz der Sozialdemokratie, deren Führer nun offenbar den letzten Rest von Vernunft und Scham eingebüßt haben – aber was hier vorbereitet wird, darf nicht Gesetz werden. Die Dinge liegen so:

   Die Diskussion über die Beibehaltung der Todesstrafe wogt hin und her. Wir sind Gegner dieses staatlich konzessionierten Mordes – ich halte nicht jeden Anhänger dieser Strafart für einen Sadisten; die meisten Menschen, die dafür stimmen, machen sich die Folgen ihrer Stimmabgabe nicht klar, und die Berechtigung eines Gemeinwesens, über das Leben seiner erzwungen eingeschriebenen Mitglieder zu verfügen, ist höchst diskutabel: zum mindesten ist die religiöse und philosophische Seite der Sache einer Untersuchung wert, die höher zu sein hätte als die kümmerlichen Unterhaltungen im Ausschuß. Hier steht Meinung gegen Meinung: man soll in solch subtilen Fragen seine Gegner nicht beschimpfen, sondern man soll seinen eigenen Standpunkt klar und sauber darstellen. Soweit gut.

   Der alte Kahl war vor dem Krieg das Urbild juristischer Reaktion, wird aber heute von den Sozialdemokraten recht geachtet und geehrt, denn alte Leute verstehen sich untereinander gut, und weil jene nach rechts gerückt sind, glauben sie, er sei nach links gegangen, ein beachtliches Beispiel Einsteinscher Relativitätstheorie.

   Der alte Kahl, der gesehen hat, daß er die Todesstrafe kaum durchbekommen würde, schon gar nicht, nachdem im Falle Jakubowski und in andern Prozessen die verantwortungslose und schludrige Arbeit der Kriminalpolizei und der Gerichte nachgewiesen worden ist, zog sich langsam zurück. Nicht, ohne das Feld der Diskussion sachte zu verschieben. Die Diskussion über die ›Sicherungsverwahrung‹ ist ausgesetzt worden.

   Vorläufig halten sie noch bei der Todesstrafe und ihrem mordenden Ersatz. Die Frage der ›Sicherungsverwahrung‹ ist noch gar nicht angeschnitten – noch ist gar nicht entschieden, ob es sie überhaupt geben soll: da finden sich bereits 9 (in Worten: neun) Sozialdemokraten, die dem alten Kahl um den mit Paragraphen besetzten Bart gehen und ihm alle Mühe abnehmen. Hier ist die Stelle, wo jener seine Sicherungsverwahrung einschmuggelt – die Sozis immer mit. Kommen nun die grundsätzlichen Paragraphen später zur Beratung, so ist sie schon da! man kann schon darauf hinweisen, man kann sagen: „Meine Herren, Sie haben diese Strafart für den Mord als Ersatz der Todesstrafe angenommen – nun brauchen wir sie noch in andern Fällen … „, und wieder werden sich die neun und, wie wir die Partei kennen, wird sich die ganze Partei bereit finden, für diesen Wahnsinn zu stimmen. Was sie davon hat? Der SPD ist es vorbehalten geblieben, einen neuen Verrätertypus in die politische Geschichte eingeführt zu haben: den Judas ohne Silberlinge.

   Die Sicherungsverwahrung ist viel, viel gefährlicher als sie zu sein scheint. Warum -? Was ist die Sicherungsverwahrung -?

   § 59: „Wird jemand, der schon einmal zum Tode oder zu Zuchthaus verurteilt worden war, nach § 78 als ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher zu einer Strafe verurteilt, so kann das Gericht daneben auf Sicherungsverwahrung erkennen.“

   § 60: „Die Unterbringung dauert so lange, als es ihr Zweck erfordert.“

   Das heißt: lebenslänglich. Und die weiteren Absätze des § 60 geben das auch, sanft verklausuliert, zu. Lebenslänglich.

   Wer ist nun ein Gewohnheitsverbrecher? „Das“, sagt eine berliner Redensart, „bestimmst du mit deinem schmutzigen Hals.“ Der § 78 sagts uns nicht. „Hat jemand, der schon zwei Mal wegen eines Verbrechens oder eines vorsätzlichen Vergehens zum Tode oder zu Freiheitsstrafe von wenigstens sechs Monaten verurteilt worden ist, durch ein neues Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen eine Freiheitsstrafe verwirkt, und geht aus der neuen Tat in Verbindung mit den früheren Taten hervor, daß er ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist … “ Das ist keine Erklärung – das ist eine Handhabe.

   Danach können also Bettler und herumlungernde Arbeitslose zu lebenslänglicher ›Sicherungsverwahrung‹ verdonnert werden. Keine Gewähr gibt es, daß diese in einem ›Arbeitshaus‹ zu verbüßende Strafe nicht unter viel grausameren Bedingungen abgemacht wird als im Gefängnis – die öffentliche Kontrolle dieser ›Erziehungsanstalten‹ ist sehr gering, und was sich da an privatem Sadismus, an wahnsinnig gewordenem Geltungsbedürfnis breit macht, wissen nur die, die unter den Direktorial-Subalternen leiden.

   Viel schlimmer, viel gefährlicher aber ist der politische Mißbrauch, der mit dieser Strafe getrieben werden wird.

   Die Delikte ›Hochverrat‹, ›Landesverrat‹, ›Störungen der Beziehungen zum Ausland‹ und ›Angriffe gegen die Wehrmacht oder die Volkskraft‹ haben nicht nur den von den Franzosen erfundenen Begriff ›potentiel de guerre‹ in das neue Strafgesetz eingeschmuggelt, sondern sind derartig formuliert, daß ihre zu befürchtende Anwendung zu einer völligen Knebelung der freien politischen Meinung führen wird, soweit die noch frei ist. Es ist für jeden Reichsgerichtsrat eine Spielerei, aus einem konsequenten Politiker einen ›Gewohnheitsverbrecher‹ zu machen und damit einen, den man – hei! – lebenslänglich einsperren kann. Er kann froh sein, wenn man ihn nicht, wie Herr Böters das neulich im ›Berliner Tageblatt‹ vorgeschlagen hat, kastriert.

   Auf diese Richter ist nicht der leiseste Verlaß. Eine solche unerhörte Erweiterung ihrer Ermächtigung ist unangebracht, gefährlich und ein Verbrechen an der politischen Entwicklung Deutschlands, die, wenn es mit diesem Gesetz ernst wird, damit aufgehört haben wird, zu existieren. Dann ist es aus.

   Über die ›Begründung‹ dieses Anschlags ist, wie über die gesamte Begründung des Entwurfs, kein ernsthaftes Wort zu verlieren. Seine Begründung begründet gar nichts – in traurigem Deutsch wird dort der Gesetzestext wiederholt, breitgewalzt, kommentiert –: von einer echten Begründung ist auch nicht ein Hauch zu spüren. Die ›Sicherungsverwahrung‹ darf in keiner Form Gesetz werden – in keiner.

   Wenn die Sozialdemokratie wiederum – zum wievielten Male! – ihre Anhänger verraten will, so ist das deren Sache. Wenn diese Partei aber glaubt, höchst listig gehandelt zu haben, so muß ihr gesagt werden, daß sie, wie immer, höchst dämlich handelt – sie hat bisher bei allen Koalitionen kein Kompromiß, sondern immer nur Kompromittierungen erreicht – und was sie dieses Mal vor hat, ist schlimmer als das.

   Da haben sich im Dunkel der Ministerien ein paar Ärzte, wie der Doktor Heindl, dieser Schädling der Kriminalistik, ein paar Jugendpfleger, die weder wissen, was Jugend ist, noch imstande sind, jemand zu pflegen, ein paar Pastöre und ein paar Professoren etwas ausgeknobelt, über dessen Folgen sich nur die sehr gerissenen Juristen vom Bau klar sind. Das wird in fast unannehmbarer Form den Volksvertretern vorgeworfen. Nun wird geschachert.

   Und diese Hammel lassen sich wirklich auf den Handel ein, der um ihre eigenen Hälse geht – um die ihrer Auftraggeber, um das Leben ihrer Wähler. Sie glauben ganz im Ernst, sie hätten etwas erreicht, wenn sie ein paar Ornamente entfernen, und weil die Referenten am Reichswehr-Etat gelernt haben, wie man das macht, so bleibt das Fundament unverändert. Denn das kann kein Deutscher: zu einem Entwurf, der von der Regierung kommt, schlicht Nein sagen. Mit Feuerfaulheit stürzt er sich darauf, blättert, macht sich Notizen, schwätzt und tut der Regierung den Gefallen, zuzustimmen, nachdem er stolz seinen kleinen Antrag eingebracht hat: „Im zweiten Absatz wird das Wort ›und‹ durch ›oder‹ ersetzt.“ Sieg auf der ganzen Linie.

   Nämlich auf der andern. Die lachen sich ins Fäustchen. Die paar Tage, in denen dieses finstere Werk überhaupt dem ›Volk unterbreitet‹ ist, gehen rasch vorüber, und mit vollen Mappen und zufriedenen Mienen verlassen die Vertreter der Bürokratie das Schlachtfeld, auf dem kaum gekämpft worden ist. Ihre Scheuern sind voll. Ein paar Brocken hat auch die Opposition zugestanden bekommen, denn dem Ochsen, der da drischet, soll man das Maul nicht verbinden.

   Der Kuhhandel: hie Todesstrafe – hie Sicherungsverwahrung ist eine Schande. Die arbeitenden Massen, die Angestellten, die oppositionellen Politiker, die Pazifisten – sie alle sollen wissen, was ihnen blüht. Die lebenslängliche Deportation ins eigne Land.

   Mit diesem Gesetz kann jeder Esel regieren; wie sollte Leipzig damit nicht fertig werden! Gibt sich die Sozialdemokratie zu diesem Schimpf her, so hat sie damit das letzte, mögliche Maß überschritten, das ihr auch der Nachsichtigste einräumen kann.

   Wir andern aber stehen gegen einen Versuch auf, dessen Autoren selber mit Sicherungsverwahrung zu strafen sind, und zwar mit der umgekehrten: das Betreten öffentlicher Gebäude hat diesen Männern untersagt zu sein.

   Die herrschende Klasse schmiedet sich eine Kette, die ein neues Patent darstellt: man kann sie beliebig verlängern, verkürzen, verstärken – wie man sie braucht. Schlagt diese Kette in Stücke! Nieder mit Kahl! Nieder mit der Sicherungsverwahrung –!


Autorenangabe: Kurt Tucholsky

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4.12.1928, Nr. 49, S. 838.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 326 ff.

Eine Frage

Da stehn die Werkmeister – Mann für Mann.
Der Direktor spricht und sieht sie an:
„Was heißt hier Gewerkschaft! Was heißt hier Beschwerden!
Es muß viel mehr gearbeitet werden!
Produktionssteigerung! Daß die Räder sich drehn!“
Eine einzige kleine Frage:
Für wen?

Ihr sagt: die Maschinen müssen laufen.
Wer soll sich eure Waren denn kaufen?
Eure Angestellten? Denen habt ihr bis jetzt
das Gehalt, wo ihr konntet, heruntergesetzt.
Und die Waren sind im Süden und Norden
deshalb auch nicht billiger geworden.
Und immer noch sollen die Räder sich drehn …
Für wen?

Für wen die Plakate und die Reklamen?
Für wen die Autos und Bilderrahmen?
Für wen die Krawatten? die gläsernen Schalen?
Eure Arbeiter können das nicht bezahlen.
Etwa die der andern? Für solche Fälle
habt ihr doch eure Trusts und Kartelle!
Ihr sagt: die Wirtschaft müsse bestehn.
Eine schöne Wirtschaft!
Für wen? Für wen?

Das laufende Band, das sich weiterschiebt,
liefert Waren für Kunden, die es nicht gibt.
Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug
sacht eure eigne Kundschaft kaputt gemacht.
Denn Deutschland besteht – Millionäre sind selten –
aus Arbeitern und aus Angestellten!
Und eure Bilanz zeigt mit einem Male
einen Saldo mortale.

Während Millionen stempeln gehn.
Die wissen, für wen.


Autorenangabe: Theobald Tiger

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 27. Januar 1931, Nr. 4, S. 123

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1931, S. 250.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 9, S. 121-122

Brief an eine Katholikin

Es kommt in der Politik nicht dar-
auf an, wie eine Sache ist; es
kommt darauf an, wie sie wirkt.

Sehr geehrte gnädige Frau.
Sie hatten die Freundlichkeit, einmal das zu tun, was in Deutschland so selten ist: über den trennenden Graben hinüber nicht mit faulen Äpfeln zu werfen, sondern Briefe von Verstand zu Verstand zu schreiben. Händedruck und Dank.
Die Unterhaltung zwischen Freidenkern und Katholiken geht gewöhnlich nach folgendem Schema vor sich. Die einen sagen: »Heuchler! Reaktionäre! Volksverdummung! Dämlicher Aberglaube! Es lohnt nicht, mit diesen Leuten auch nur ein Wort zu wechseln«, und die andern sagen: »Heiden! Gottlose! Volkszersetzung, Verkommenheit der neuen Zeit! Es lohnt nicht, mit diesen Leuten auch nur ein Wort zu wechseln.« Auf so tiefer Ebene wollen wir unsere Unterhaltung nicht führen – Ihr letzter Brief zeigt mir das. Ich will ihn öffentlich beantworten.

Der Ausgangspunkt unsres Briefwechsels war der Artikel Carl von Ossietzkys »Das lädierte Sakrament« (erschienen in der Nummer 49 des vorigen Jahrgangs dieser Zeitschrift). Sie und die Zentrumspresse sind recht böse gewesen: böse über den Titel und böse über den Inhalt, darin gesagt wird, daß die katholische Reichstags-Fronde gegen die Neuregelung der Ehescheidungsvorschriften nicht zu entschuldigen ist. Es wird von der Ehenot gesprochen. »Wenn das katholische Muckertum«, ist da gesagt, »noch immer tut, als handele es sich hier um Einzelfälle, die durch ein Abschreckungsgesetz sogar noch vermindert werden können, so muß der gesunde Menschenverstand endlich die Gegenfrage aufwerfen nach den wenigen kostbaren Exemplaren beiderlei Geschlechts, die noch niemals neben die Ehe gegangen sind.« Und: »Die heilige Kirche hat im Laufe ihrer langen wechselvollen Geschichte die Gebresten der Zeit auch nicht immer mit der gleichen Härte verfolgt, sie hat, wenn es sich um vornehme Beichtkinder handelte, das Laster oft mehr mit der Puderquaste gegeißelt als mit der Stachelpeitsche und im ganzen die schweren Pönitenzen dem niedern Volk vorbehalten.« Und: »Der Begriff der Adultera, ob in eifernder Verhetzung oder romantischer Verherrlichung gebraucht, ist dahin und tot wie die Beichtmoral vom Escorial oder von Schönbrunn.«

Und darum Schwefel und Höllendrohung und die ganze Verachtung, die – mit welchem Recht? – eine sehr mäßige kirchliche Dialektik für jene aufbringt, die nicht ihrer Meinung sind? Welche Rolle spielt Ihre Kirche? Was will sie?
Sie will in erster Linie sich. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn nicht stets der fatale Kunstgriff angewandt würde, mit Berufung auf irrationale Größen Rationales zu verlangen. Sie wissen, daß in der jungkatholischen Bewegung, die die Kirche nicht sprengen und nicht wandeln wird, bei aller verehrungsvollster Anerkennung des kirchlichen Dogmas die Tagespolitik des Zentrums auf das schärfste abgelehnt wird: diese Bewegung, die den Weg aller katholischen Reformbewegungen gehen wird, nämlich den nach Rom, will die Wechsler aus den Tempeln verjagen. Es wird ihr nicht gelingen.
Was die Ehe angeht, so machen es sich Ihre Leute etwas leicht.
Die Jesuiten statuieren in der Germania ein »Naturrecht«, auf dem die Ehe basiere – das wird behauptet, aber nicht bewiesen, und an keiner Stelle wird deutlich, wie sehr diese Anschauungen von der Familie der einer Klasse entspringen; diese Anschauungen sind gültig und nützlich für die bürgerliche Klasse, und sie sollen gültig sein für die von den Bürgern beherrschte Schicht, die sich heute freimachen will. Darüber wäre zu reden.
Worüber gar nicht zu reden ist, ist dieses:
Die Kirche rollt durch die neue Zeit dahin wie ein rohes Ei. So etwas von Empfindlichkeit war überhaupt noch nicht da. Ein scharfes Wort, und ein ganzes Geheul bricht über unsereinen herein: Wir sind verletzt! Wehe! Sakrileg! Unsre religiösen Empfindungen …
Und die unsern –?
Halten Sie es für richtig, wenn fortgesetzt eine breite Schicht des deutschen Volkes als ›sittenlos‹, ›angefressen‹, ›lasterhaft‹, ›heidnisch‹ hingestellt und mit Vokabeln gebrandmarkt wird, die nur deshalb nicht treffen, weil sie einer vergangenen Zeit entlehnt sind? Nehmt ihr auf unsre Empfindungen Rücksicht? Ich zum Beispiel fühle mich verletzt, wenn ich einen katholischen Geistlichen vor Soldaten sehe, munter und frisch zum Mord hetzend, das Wort der Liebe in das Wort des Staates umfälschend – ich mag es nicht hören. Wer nimmt darauf Rücksicht? Ihre Leute nicht, gnädige Frau.
Die gehen neuerdings mit der Zeit mit, wie ein Kriegsgefangener, den ein übermütiger Husar ans Pferd gebunden hat. Zur Zeit haben sie es mit dem Sozialismus. Man wird dabei ein peinliches Gefühl nicht los: es ist ein Interesse, das die Kirche an den Arbeitern nimmt, dem gleich, mit dem sich eine Hausfrau für die Wanzen interessiert. Ihr fühlt die Not – aber ihr könnt sie nicht beheben, weil ihr ihre Quelle nicht sehen wollt. Sie wissen, wer auf dem rechten Flügel des Zentrums sitzt: Großindustrielle. Mit denen macht man keine soziale Politik.
Das will der neue berliner Bischof nicht wahr haben. Mit großem demagogischem Geschick hat sich der Mann in seiner Rede im Sportpalast zu Berlin eingeführt; das Ganze ging unter der Spitzmarke ›Der Volksbischof für Berlin‹ vor sich, und es war viel von den arbeitenden Massen, der Wohnungsnot und der Arbeitslosigkeit die Rede. Das ist zunächst ganz echt, und dafür habt ihr einen strahlenden Beweis in eurer norddeutschen Geschichte. Und zwar sind das nicht nur, wie Sie mit Recht schreiben, die zahllosen katholischen caritativen Verbände, die Anstalten, Klöster, Schulen, Priester, Krankenhäuser, die Tausende von selbstlos arbeitenden katholischen Krankenschwestern, die tätig sind bis zum letzten Hauch der Kraft – es ist das ein für den Berliner sichtbar gewesener Mann, der leider zu früh dahingegangen ist: es ist Carl Sonnenschein. Was dieser Mann Gutes getan hat, darf ihm nicht vergessen werden.
Von der andern Seite wird dann sogleich eingewendet: »Aber nicht umsonst. Was wird hier gemacht? Proselyten werden hier gemacht.« Nun, das halte ich nicht für richtig.
So gewiß sich die offizielle katholische Caritas ihre Zuwendungen oft politisch bezahlen läßt (daher auch die ständige katholische Aspiration nach dem Volkswohlfahrtsministerium, das die Verteilung der großen Fonds bestimmt): so gewiß haben Sonnenschein und die ihm geistig verwandten Katholiken keine Proselyten gemacht und machen wollen. Wie ja denn überhaupt der allgemein verbreitete Glaube, die katholischen Priester lauerten nur darauf, Andersgläubige einzufangen, eine Bilderbuchvorstellung ist. Die katholische Kirche versucht zwar stets mit den schärfsten Mitteln, bei gemischten Ehen den protestantischen Teil und vor allem die Kinder zu sich hinüberzuziehen – aber die Bekehrungssucht im ganzen ist doch in Europa bei ihr recht schwach ausgebildet. Man wird eher im Gegenteil finden, daß katholische Priester dem Renegaten gegenüber sehr zurückhaltend, sehr skeptisch und sehr abwartend sind – mit Recht übrigens. Ihr habt viel Gutes getan; man soll es euch danken und nicht hinter jeder wohltätigen Handlung die kalte Berechnung des Kundenfangs sehen. Sonnenschein hat sie nicht gehabt; der berliner Bischof hat sie vielleicht, wenn man an weite politische Betrachtungsweise denkt – im ganzen habt ihr sie nicht. Ihr wollt wiedereinfangen; einfangen wollt ihr nicht.
Der Bischof und Sonnenschein nun machen einen gewaltigen Fehler: sie denken nicht zu Ende. Man sehe sich daraufhin die große Rede des Bischofs an (publiziert in der Germania vom 2. November), und man wird finden: Diagnose richtig, Therapie unzureichend. Da sieht der Kommunismus viel weiter, der richtig lehrt, daß noch niemals eine herrschende Klasse ihre Privilegien freiwillig abgegeben habe – nicht einmal die Kirche hat das getan. Sehr gut steht in jenem Aufsatz Ossietzkys: »Man sieht: wo die Kirche einer unaufhaltsamen Entwicklung gegenüberstand, da zog sie der folgenschweren Auseinandersetzung stets das Arrangement im stillen vor.« Das heißt: sie verhandelte, und sie verhandelte, wie auf der Welt immer verhandelt wird: von Macht zu Macht, niemals von Macht zur Machtlosigkeit. So ist es auch im großen Wirtschaftskampf: Werkgemeinschaft und sozialer Ausgleich im guten und alles das sind Fliegenfänger; die Dummen bleiben daran hängen und summsen nachher mächtig, weil sie kleben geblieben sind. Das Christentum braucht nur ein Jahrtausend in seiner Geschichte zurückzublättern: im Anfang war es wohl die Güte, die diese Religion hat gebären helfen – zur Macht gebracht hat sie die Gewalt.
Von der wollte Carl Sonnenschein nichts wissen. Mit einer Opferbereitschaft, die nicht alltäglich ist, wirkte er Gutes, wie er es verstand; an seiner Reinheit, an seiner Uneigennützigkeit ist kein Zweifel erlaubt. Aber …
Wenn ein Ehepaar, das sich in einer Zweizimmerwohnung auseinandergelebt hat, so ein Kapitelchen wie »Ehescheidung« liest, das in Sonnenscheins Notizen zu finden ist (erschienen im Verlag der Germania, Berlin) – so ist dem Ehepaar damit nicht geholfen. Auch uns andern ist mit Carl Sonnenschein nicht geholfen.
Die Kirche hat zu allem Nicht-Katholischen ein sonderbares Verhältnis, an dem das Peinlichste ein durchaus falsch angebrachtes Mitleid ist. So hat Sonnenschein das Imperium Romanum vor Christi Wirken beurteilt: »Nirgendwo mehr ein aufrechter Mann. Nirgendwo mehr eine keusche Familie« … man kann das damalige bäuerliche Leben nicht gut falscher sehen, und genau so mitleidig-verachtungsvoll sieht er auf die Großstadt, auf ›Berlin‹, in welchem Wort bei ihm viel provinzielle Nebenbegriffe mitschwingen. Wie da geraubte Jungfräulichkeit, Syphilis, Unkeuschheit und mangelnder Kirchenbesuch in dieselbe Reihe gesetzt werden; wie die wirtschaftliche Basis des Großstadtelends fast überall nur gestreift, nie aber ernstlich bekämpft wird –: das läßt einen denn doch eiligen Schritts in die Front des Klassenkampfes gehen. Manchmal lüftet sich der Vorhang … »Hausfrauen aus jüdischen, rationalistischen Familien haben mir gesagt, daß sie Dienstboten mit Jenseitsdressur denen mit Diesseitskultur vorziehen. Daß sie im Eventualfall katholische Hausangestellte, die jeden Sonntag in die Messe und Ostern zu den Sakramenten gehen, in Kauf nahmen. Statt monistischer, die sich ganz auf das Diesseits einrichten.« Das hätte einmal unsereiner schreiben sollen! Nicht schlafen können hätte man nachts vor dem Geheul und Gebelfer eifriger Katholiken. Aber Sonnenschein hat zutiefst recht: dieser Glaube ist gut. Nämlich gut für die dienenden Klassen. So verharren sie im Gehorsam.
Der neue katholische Bischof Berlins wird mitsamt der von Herrn Klausener emsig betriebenen Katholischen Aktion, die an Geistigkeit von der auf den Index gesetzten ›Action Française‹ meilenweit entfernt ist, viel Gutes tun, und es wird nicht ausreichen. Mir will dieser Pseudosozialismus nicht eingehen, diese Zwangsbewegung einer Gruppe, die mit dem Herzen bei den kleinen Leuten und mit dem Portemonnaie bei den Großen ist. Sie, verehrte gnädige Frau, leben in Berlin und werden vielleicht die katholische Provinz nicht so kennen, die deutsche Provinz mit ihren unsäglichen frommen Käsblättchen. Die kompromittieren Ihre Religion, die sie ununterbrochen im Munde führen, und das mit einer Unduldsamkeit, die so gar nicht christlich anmutet … Neulich habe ich in Wiesbaden einen Vortrag gehalten; tags darauf tobte sich in der Rheinischen Volkszeitung und im Neuen Mainzer Journal ein Mann aus (wie man mir erzählt hat, ein getaufter Jude), namens Karl Goldbach. »Er hat den Katholizismus mit einem Klosett mit Wasserspülung verglichen«, schrieb er. Kein Wort davon ist wahr – aber so sieht in Mainz die geistige Polemik der Katholiken aus. So wie Sonnenschein bei den patriotischen Kriegskatholiken steht, nicht bedenkend, daß Opfer an sich noch gar nichts sind, wenn die Sache, für die sie gebracht werden, nicht gut ist – so steht ein Teil der Zentrumspresse in verdächtiger Nähe der Nationalsozialisten, die diese Kameradschaft gar nicht wünschen. Aber die Fronten des Zentrums wechseln … Im ganzen ist es wohl so, daß diese Partei immer wartet, wer beim Kampf die Oberhand behält; bei dem ist sie dann. Sonnenschein drückt das anläßlich der Ereignisse von 1918 so aus: »Jede Obrigkeit kommt von Gott.« Und der Bischof Schreiber so: »Dann kam die Revolution. Als Auflehnung, als gewaltsame Auflehnung gegen die damalige rechtmäßige Autorität war sie ein Unrecht. Dann aber haben die regierenden Fürsten ihre rechtmäßige Gewalt in die Hände des Volkes gelegt und haben dem Volk auf Grund ihrer früheren rechtmäßigen Gewalt die Entscheidung übergeben über die Festsetzung der Staatsform, ob die Monarchie bleiben solle oder ob eine andere Staatsform an ihre Stelle treten solle.« Die Nachfolge Christi … die Nachfolge der Hohenzollern … Und wenn die Fürsten diese Formalität nun nicht erfüllt hätten, dann könnte der Bischof Schreiber sich nach einer neuen Ausrede umsehen, weshalb er heute »bejahend zum Staat« steht. Der übrigens der Kirche gibt, was der Kirche ist, und noch ein bißchen mehr. Nein, so geht es nicht.
Gewiß, gnädige Frau, Sie und Ihre Leute stehen mitunter groß da, weil Sie so kleine Gegner haben. Von Ludendorff soll unter vernünftigen Menschen nicht die Rede sein, nicht von seiner Stammtischphantasie, die den Jesuitismus, das Freimaurertum und die Päpste wild durcheinander würfelt, wie es nur ein bierbeglänzter Generalsschädel auszudenken vermag … das gehört nach Bayern und soll nur dort bleiben. Auch die etwas klobigen Gottesund Kirchenlästerungen, denen Sie manchmal ausgesetzt sind, haben nicht meinen Beifall. Damit, daß man die Kapläne als Mädchenverführer und heuchelnde Köchinnenbeischläfer hinstellt, ist keiner Sache gedient – nicht der unsern, nicht der der Arbeiter. Aber wie kommt es, daß Sie so wenig Ihnen ebenbürtige Gegner in der großen Tagespresse haben? Sie erlauben mir hier ein notwendiges Wort über die deutschen Juden.
Deren Toleranz der Kirche gegenüber setzt sich zusammen aus Pogromangst und einer innern Unsicherheit, die bis zum bösen Gewissen geht. Hätten die deutschen Nationalisten nicht diese fast tierische Stalldumpfheit von pommerschen Bereitern aus dem vorigen Jahrhundert: sie hätten längst auf die allerdings zugkräftige Volksparole »Haut die Juden!« verzichtet – und drei Viertel der deutschen Juden säßen heute da, wo sie klassenmäßig hingehören: bei der Deutschen Volkspartei. Sie tun es nicht, weil sie der Antisemitismus abstößt; sie tun es zum Teil doch, weil ihnen ihr Bankkonto lieber ist als eine Religion, von der sie nur noch das Weihnachtsfest und die Frankfurter Zeitung halten. Von der winzig kleinen Minorität der National-Juden unter Führung eines schon von Siegfried Jacobsohn rechtens vermöbelten Herrn Naumann will ich gar nicht sprechen: gefüllte Milz mit einem Stahlhelm ist wohl nicht das Richtige. Aber jene friedlich dahin verdienenden Hausjuden, die aufatmen, daß wenigstens Lenin nicht einer der ihren gewesen ist, jene israelitischen Familienblättchen, beschnittene Gartenlauben, errichtet im Stil von Sarah Courths-Mahlersohn … diese Leute sollen dem deutschen Volk das rituelle Schächtmesser in den Rücken gestoßen haben? Dazu sind sie viel zu feige. Nie täten sie das.
Und diese Sorte, die da glaubt, Unauffälligkeit sei ein Kampfmittel, hat vor nichts so viel Furcht wie vor öffentlichen Diskussionen mit andern Religionen. Kurt Hiller hat den endgültigen Trennungsstrich gezogen: den zwischen Aron-Juden und Moses-Juden. Von den Aron-Juden hat der Katholizismus nichts zu befürchten. Die große Presse ist sehr ängstlich, wenn es um die Konkordate geht, um die Sabotage der Reichstagsarbeiten durch das Zentrum bezüglich der Ehescheidung – es ist sehr still in diesen Blättern, wo es sonst so sehr laut ist. Angst, Angst …
Und so berührt es denn doppelt komisch, wenn der Bischof Schreiber und seine Blätter sich nicht lassen können: Ungeschmälerte Parität! auch wir verlangen unsern Platz an der Sonne … als ob es nicht dunkel wäre in Deutschland, weil eine Soutane das Sonnenlicht schwärzt. Ihr habt, was ihr braucht, aber es genügt euch nicht.
Und eben dagegen wehrt sich die Arbeiterschaft. Vielleicht manchmal ein bißchen plump, vielleicht zu grob, weil sie den feinen Mitteln, mit denen ihr die Frauen des kleinen Mittelstandes bearbeitet, nicht gewachsen ist. Diese eure Arbeit ist systematisch: auch drüben in Frankreich sind besonders die Jesuiten in der Arbeiterschaft am Werk (»Christe dans la banlieue« – Christus in der Vorstadt), überall in der Welt geschieht es. Ihr macht Politik. Ihr greift in die Politik ein? Die Politik antwortet euch. Stellt die Orgeln ab und schreit nicht, man habe euch verletzt. Auch ihr verletzt die andern, auch ihr verletzt uns.
Sie sehen, sehr verehrte gnädige Frau, daß hier kein patentierter Freidenker spricht. Keiner, der da glaubt, mit einer Feuerverbrennungskasse sei die Glaubensfrage gelöst. Solange aber die katholische Kirche in allen entscheidenden Fragen bei den Unterdrückern ist, solange sei es jedem verständigen und klassenbewußten Arbeiter, jedem Angestellten empfohlen, aus der Kirche auszutreten. Auch gegen die Gefühle ihrer Frauen, die zu erziehen sind – so, wie ihr sie verzogen habt. Ich schmähe die Kirche nicht, ich schmähe ihre Diener nicht. Beschränkt ihr euch auf das geistige Gebiet, so sei Diskussion zwischen uns, Debatte und Gedankenaustausch.
Macht ihr reaktionäre Politik –: auch dann ist die Sauberkeit eurer Überzeugung und die Heiligkeit einer Sache zu ehren, die andern nicht heilig ist. Dann aber sei zwischen uns Kampf. Der Sieg wird nicht bei euch sein – sondern bei den Werktätigen der ganzen Welt.

Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4. Februar 1930, Nr. 6, S. 198.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 75 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 38 ff.

Brief an Annette Kolb

Hindås, 29.2.1932
Liebe Kolbanette,

Du hast mir mal im Sommer geschrieben, was es denn nur mit dem ‹Simplicissimus› wäre, und es wäre doch ganz erschröcklich. Ich habe mir also das Blatt genau angesehen und schließlich an den Herrn Redakteur geschrieben. Von dieser Korrespondenz gebe ich Dir Kenntnis – bitte schicke sie mir nach Lesung zurück.

Damit wir uns recht verstehn:
Ich bin kein Aufsichtswart deutscher Zeitschriften. Der Simpel kann schreiben, was er lustig ist. Aber ich halte im übrigen diesen Briefwechsel für sehr bezeichnend. Wie reden wir doch lieblich aneinander vorbei –!
Daß kluge und anständige Menschen nicht fühlen, wie zeitabhängig sie sind! Wie wir es alle sind. Ich halte mich nicht [für] den lieben Gott – der Schönberger glaubt aber, seine Haltung und die Th. T. Heines, Schillings pp. sei «der gesunde Menschenverstand». Dabei sind diese Leute nicht einmal gut informiert, was ja die erste Bedingung für eine gute Satire ist. Das ist im großen ganzen ‹Münchner Neuste Nachrichten› – vor allem in außenpolitischer Hinsicht. Das arme gute Deutschland, das unschuldige Kind! Keiner Maus tut es etwas zu leide! Und das böse Frankreich! Und der blöde Völkerbund – natürlich ist er blöde und machtlos – aber:
Wer hat ihm denn Macht übertragen –?
Kurz: es ist ein Jammer. Die Sache liegt hier so verzweifelt, weil hier bestimmt nicht irgend eine Aktiengesellschaft dahinterliegt. Die großen Verleger, die heute umfallen –: das ist einfach. Es ist ein Geschäft. Sie werden entweder von der Regierung direkt bezahlt oder von ihrer Angst mittelbar getrieben, das ist in Frankfurt und in Berlin so. («So übel ist doch der Hitler eigentlich gar nicht …») Aber hier hast Du das deutsche Bürgertum: ahnungslos, genau wieder so ins Unglück taumelnd … der Mann da in München wäre höchsterstaunt, wenn man ihm sagte, daß er mithilft, den nächsten Krieg vorzubereiten.
Meine Liebe, es ist ziemlich aussichtslos.
Wenn ich an Deutschland denke, bin ich zwar nicht um den Schlaf gebracht, aber es freut einen nicht mehr. Wenn es nicht in die Hölle kommt, so nur, weil es ein paar bezaubernde Schriftsteller gehabt hat. Darunter meine allerbeste und geliebte und gute und ewigjunge
Anette Kolb

Zehn Gebote für den Geschäftsmann, der einen Künstler engagiert

  1. Laß ihn in Ruhe.
  2. Überlege dir vorher, ob der Mann für deinen Betrieb paßt; das machst du am besten so, daß du dir seine Werke ansiehst und dich bei jedem fragst: Kann ich das gebrauchen? Wenn du die Mehrzahl nicht gebrauchen kannst, dann engagiere den Mann nicht. Denn:
  3. Wenn ein Künstler anständig ist und etwas taugt, ändert er sich dir zuliebe nicht, nur weil du mit ihm einen Vertrag gemacht hast – ändert er sich aber, hast du nur einen Namen bezahlt, also einen Mann überzahlt.
  4. Laß ihn in Ruhe.
  5. Disponiere sorgfältig, damit sich dein Mann nicht zu überstürzen braucht – Kunst will Zeit wie eine saubere Bilanz. Man kann, wenn man Pech hat, Flöhe aus dem Ärmel schütteln; Kunstwerke nicht.
  6. Du sollst den Feiertag deiner Leute heiligen: du irrst, wenn du glaubst, daß es für Fremde ein Genuß ist, den Sonntag in deiner Familie zu verbringen. Es ist mitnichten einer.
  7. Wenn der Künstler, den du engagiert hast, am Werk ist, halte ihm täglich fremde Arbeiten vor die Nase und fordere ihn, in anerkennenden Worten für den andern, auf, dergleichen ›auch mal‹ zu machen. Das ermuntert ungemein.
  8. Wenn du mit deinem Künstler verhandelst, besinne dich nur nicht, daß auch du eigentlich ein Künstler seist: du hast beinah studieren wollen, doch dein Vater hat dich ins Getreidegeschäft getan … Zugegeben. Aber nimm deinen falschen Ehrgeiz nicht mit ins Büro: der Künstler redet dir ja auch nicht in die Abschlüsse hinein – o beschneide auch du die holden Maientriebe deiner vertrockneten Kunstanschauung, dieser Rose von Jericho!
  9. Höre auf die Stimme des Publikums, aber überschätze sie nicht – in dir selbst muß eine Kompaßnadel die Richtung anzeigen. Zwanzig Briefe aus dem Publikum sind noch nicht die Volksstimmung – vergiß dies nicht, und laß die Dummheit der Leute den Künstler nicht entgelten.
  10. Laß ihn in Ruhe.

Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Vossische Zeitung, 21. Januar 1928

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928, S. 58 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 31 ff.

Die freie Wirtschaft

Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort die Gruppen – sei unser Panier!
Na, ihr nicht.
Aber wir.
Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn –
wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht.
Aber wir.
Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge –
kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier …
Ihr nicht.
Aber wir.
Was ihr macht, ist Marxismus.
Nieder damit!
Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
Niemand stört uns. In guter Ruh
sehn Regierungssozialisten zu.
Wir wollen euch einzeln. An die Gewehre!
Das ist die neuste Wirtschaftslehre.
Die Forderung ist noch nicht verkündet,
die ein deutscher Professor uns nicht begründet.
In Betrieben wirken für unsere Idee
die Offiziere der alten Armee,
die Stahlhelmleute, Hitlergarden …

Ihr, in Kellern und in Mansarden,
merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?
mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird?
Komme, was da kommen mag.
Es kommt der Tag,
da ruft der Arbeitspionier:
„Ihr nicht.
Aber Wir. Wir. Wir.“

Autorenangabe: Theobald Tiger

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4. März 1930, Nr. 10, S. 351.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 125 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 60 ff.

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