1.1.2004

Auf Tucholskys Spuren in Schweden

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Die Sicherungsverwahrung

„Für die Ablehnung der Todesstrafe stimmten die Sozialdemokraten, die Kommunisten, Frau Lüders (Demokrat) und Doktor Kahl (Deutsche Volkspartei). Vor der Abstimmung hatte der Vorsitzende des Ausschusses, Doktor Kahl, erklärt, daß er nur unter der Voraussetzung für die Abschaffung der Todesstrafe stimme, daß die Annahme seines Antrages zur Sicherungsverwahrung erfolgen werde.“

   Im Strafrechtsausschuß geht ein Kuhhandel vor sich, so gemein, so niedrig und so empörend, daß wir dagegen aufstehen. Die Fürstenabfindung ist ein Verbrechen am deutschen Volk gewesen; der Panzerkreuzer eine konsequente Inkonsequenz der Sozialdemokratie, deren Führer nun offenbar den letzten Rest von Vernunft und Scham eingebüßt haben – aber was hier vorbereitet wird, darf nicht Gesetz werden. Die Dinge liegen so:

   Die Diskussion über die Beibehaltung der Todesstrafe wogt hin und her. Wir sind Gegner dieses staatlich konzessionierten Mordes – ich halte nicht jeden Anhänger dieser Strafart für einen Sadisten; die meisten Menschen, die dafür stimmen, machen sich die Folgen ihrer Stimmabgabe nicht klar, und die Berechtigung eines Gemeinwesens, über das Leben seiner erzwungen eingeschriebenen Mitglieder zu verfügen, ist höchst diskutabel: zum mindesten ist die religiöse und philosophische Seite der Sache einer Untersuchung wert, die höher zu sein hätte als die kümmerlichen Unterhaltungen im Ausschuß. Hier steht Meinung gegen Meinung: man soll in solch subtilen Fragen seine Gegner nicht beschimpfen, sondern man soll seinen eigenen Standpunkt klar und sauber darstellen. Soweit gut.

   Der alte Kahl war vor dem Krieg das Urbild juristischer Reaktion, wird aber heute von den Sozialdemokraten recht geachtet und geehrt, denn alte Leute verstehen sich untereinander gut, und weil jene nach rechts gerückt sind, glauben sie, er sei nach links gegangen, ein beachtliches Beispiel Einsteinscher Relativitätstheorie.

   Der alte Kahl, der gesehen hat, daß er die Todesstrafe kaum durchbekommen würde, schon gar nicht, nachdem im Falle Jakubowski und in andern Prozessen die verantwortungslose und schludrige Arbeit der Kriminalpolizei und der Gerichte nachgewiesen worden ist, zog sich langsam zurück. Nicht, ohne das Feld der Diskussion sachte zu verschieben. Die Diskussion über die ›Sicherungsverwahrung‹ ist ausgesetzt worden.

   Vorläufig halten sie noch bei der Todesstrafe und ihrem mordenden Ersatz. Die Frage der ›Sicherungsverwahrung‹ ist noch gar nicht angeschnitten – noch ist gar nicht entschieden, ob es sie überhaupt geben soll: da finden sich bereits 9 (in Worten: neun) Sozialdemokraten, die dem alten Kahl um den mit Paragraphen besetzten Bart gehen und ihm alle Mühe abnehmen. Hier ist die Stelle, wo jener seine Sicherungsverwahrung einschmuggelt – die Sozis immer mit. Kommen nun die grundsätzlichen Paragraphen später zur Beratung, so ist sie schon da! man kann schon darauf hinweisen, man kann sagen: „Meine Herren, Sie haben diese Strafart für den Mord als Ersatz der Todesstrafe angenommen – nun brauchen wir sie noch in andern Fällen … „, und wieder werden sich die neun und, wie wir die Partei kennen, wird sich die ganze Partei bereit finden, für diesen Wahnsinn zu stimmen. Was sie davon hat? Der SPD ist es vorbehalten geblieben, einen neuen Verrätertypus in die politische Geschichte eingeführt zu haben: den Judas ohne Silberlinge.

   Die Sicherungsverwahrung ist viel, viel gefährlicher als sie zu sein scheint. Warum -? Was ist die Sicherungsverwahrung -?

   § 59: „Wird jemand, der schon einmal zum Tode oder zu Zuchthaus verurteilt worden war, nach § 78 als ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher zu einer Strafe verurteilt, so kann das Gericht daneben auf Sicherungsverwahrung erkennen.“

   § 60: „Die Unterbringung dauert so lange, als es ihr Zweck erfordert.“

   Das heißt: lebenslänglich. Und die weiteren Absätze des § 60 geben das auch, sanft verklausuliert, zu. Lebenslänglich.

   Wer ist nun ein Gewohnheitsverbrecher? „Das“, sagt eine berliner Redensart, „bestimmst du mit deinem schmutzigen Hals.“ Der § 78 sagts uns nicht. „Hat jemand, der schon zwei Mal wegen eines Verbrechens oder eines vorsätzlichen Vergehens zum Tode oder zu Freiheitsstrafe von wenigstens sechs Monaten verurteilt worden ist, durch ein neues Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen eine Freiheitsstrafe verwirkt, und geht aus der neuen Tat in Verbindung mit den früheren Taten hervor, daß er ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist … “ Das ist keine Erklärung – das ist eine Handhabe.

   Danach können also Bettler und herumlungernde Arbeitslose zu lebenslänglicher ›Sicherungsverwahrung‹ verdonnert werden. Keine Gewähr gibt es, daß diese in einem ›Arbeitshaus‹ zu verbüßende Strafe nicht unter viel grausameren Bedingungen abgemacht wird als im Gefängnis – die öffentliche Kontrolle dieser ›Erziehungsanstalten‹ ist sehr gering, und was sich da an privatem Sadismus, an wahnsinnig gewordenem Geltungsbedürfnis breit macht, wissen nur die, die unter den Direktorial-Subalternen leiden.

   Viel schlimmer, viel gefährlicher aber ist der politische Mißbrauch, der mit dieser Strafe getrieben werden wird.

   Die Delikte ›Hochverrat‹, ›Landesverrat‹, ›Störungen der Beziehungen zum Ausland‹ und ›Angriffe gegen die Wehrmacht oder die Volkskraft‹ haben nicht nur den von den Franzosen erfundenen Begriff ›potentiel de guerre‹ in das neue Strafgesetz eingeschmuggelt, sondern sind derartig formuliert, daß ihre zu befürchtende Anwendung zu einer völligen Knebelung der freien politischen Meinung führen wird, soweit die noch frei ist. Es ist für jeden Reichsgerichtsrat eine Spielerei, aus einem konsequenten Politiker einen ›Gewohnheitsverbrecher‹ zu machen und damit einen, den man – hei! – lebenslänglich einsperren kann. Er kann froh sein, wenn man ihn nicht, wie Herr Böters das neulich im ›Berliner Tageblatt‹ vorgeschlagen hat, kastriert.

   Auf diese Richter ist nicht der leiseste Verlaß. Eine solche unerhörte Erweiterung ihrer Ermächtigung ist unangebracht, gefährlich und ein Verbrechen an der politischen Entwicklung Deutschlands, die, wenn es mit diesem Gesetz ernst wird, damit aufgehört haben wird, zu existieren. Dann ist es aus.

   Über die ›Begründung‹ dieses Anschlags ist, wie über die gesamte Begründung des Entwurfs, kein ernsthaftes Wort zu verlieren. Seine Begründung begründet gar nichts – in traurigem Deutsch wird dort der Gesetzestext wiederholt, breitgewalzt, kommentiert –: von einer echten Begründung ist auch nicht ein Hauch zu spüren. Die ›Sicherungsverwahrung‹ darf in keiner Form Gesetz werden – in keiner.

   Wenn die Sozialdemokratie wiederum – zum wievielten Male! – ihre Anhänger verraten will, so ist das deren Sache. Wenn diese Partei aber glaubt, höchst listig gehandelt zu haben, so muß ihr gesagt werden, daß sie, wie immer, höchst dämlich handelt – sie hat bisher bei allen Koalitionen kein Kompromiß, sondern immer nur Kompromittierungen erreicht – und was sie dieses Mal vor hat, ist schlimmer als das.

   Da haben sich im Dunkel der Ministerien ein paar Ärzte, wie der Doktor Heindl, dieser Schädling der Kriminalistik, ein paar Jugendpfleger, die weder wissen, was Jugend ist, noch imstande sind, jemand zu pflegen, ein paar Pastöre und ein paar Professoren etwas ausgeknobelt, über dessen Folgen sich nur die sehr gerissenen Juristen vom Bau klar sind. Das wird in fast unannehmbarer Form den Volksvertretern vorgeworfen. Nun wird geschachert.

   Und diese Hammel lassen sich wirklich auf den Handel ein, der um ihre eigenen Hälse geht – um die ihrer Auftraggeber, um das Leben ihrer Wähler. Sie glauben ganz im Ernst, sie hätten etwas erreicht, wenn sie ein paar Ornamente entfernen, und weil die Referenten am Reichswehr-Etat gelernt haben, wie man das macht, so bleibt das Fundament unverändert. Denn das kann kein Deutscher: zu einem Entwurf, der von der Regierung kommt, schlicht Nein sagen. Mit Feuerfaulheit stürzt er sich darauf, blättert, macht sich Notizen, schwätzt und tut der Regierung den Gefallen, zuzustimmen, nachdem er stolz seinen kleinen Antrag eingebracht hat: „Im zweiten Absatz wird das Wort ›und‹ durch ›oder‹ ersetzt.“ Sieg auf der ganzen Linie.

   Nämlich auf der andern. Die lachen sich ins Fäustchen. Die paar Tage, in denen dieses finstere Werk überhaupt dem ›Volk unterbreitet‹ ist, gehen rasch vorüber, und mit vollen Mappen und zufriedenen Mienen verlassen die Vertreter der Bürokratie das Schlachtfeld, auf dem kaum gekämpft worden ist. Ihre Scheuern sind voll. Ein paar Brocken hat auch die Opposition zugestanden bekommen, denn dem Ochsen, der da drischet, soll man das Maul nicht verbinden.

   Der Kuhhandel: hie Todesstrafe – hie Sicherungsverwahrung ist eine Schande. Die arbeitenden Massen, die Angestellten, die oppositionellen Politiker, die Pazifisten – sie alle sollen wissen, was ihnen blüht. Die lebenslängliche Deportation ins eigne Land.

   Mit diesem Gesetz kann jeder Esel regieren; wie sollte Leipzig damit nicht fertig werden! Gibt sich die Sozialdemokratie zu diesem Schimpf her, so hat sie damit das letzte, mögliche Maß überschritten, das ihr auch der Nachsichtigste einräumen kann.

   Wir andern aber stehen gegen einen Versuch auf, dessen Autoren selber mit Sicherungsverwahrung zu strafen sind, und zwar mit der umgekehrten: das Betreten öffentlicher Gebäude hat diesen Männern untersagt zu sein.

   Die herrschende Klasse schmiedet sich eine Kette, die ein neues Patent darstellt: man kann sie beliebig verlängern, verkürzen, verstärken – wie man sie braucht. Schlagt diese Kette in Stücke! Nieder mit Kahl! Nieder mit der Sicherungsverwahrung –!


Autorenangabe: Kurt Tucholsky

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4.12.1928, Nr. 49, S. 838.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 326 ff.

Eine Frage

Da stehn die Werkmeister – Mann für Mann.
Der Direktor spricht und sieht sie an:
„Was heißt hier Gewerkschaft! Was heißt hier Beschwerden!
Es muß viel mehr gearbeitet werden!
Produktionssteigerung! Daß die Räder sich drehn!“
Eine einzige kleine Frage:
Für wen?

Ihr sagt: die Maschinen müssen laufen.
Wer soll sich eure Waren denn kaufen?
Eure Angestellten? Denen habt ihr bis jetzt
das Gehalt, wo ihr konntet, heruntergesetzt.
Und die Waren sind im Süden und Norden
deshalb auch nicht billiger geworden.
Und immer noch sollen die Räder sich drehn …
Für wen?

Für wen die Plakate und die Reklamen?
Für wen die Autos und Bilderrahmen?
Für wen die Krawatten? die gläsernen Schalen?
Eure Arbeiter können das nicht bezahlen.
Etwa die der andern? Für solche Fälle
habt ihr doch eure Trusts und Kartelle!
Ihr sagt: die Wirtschaft müsse bestehn.
Eine schöne Wirtschaft!
Für wen? Für wen?

Das laufende Band, das sich weiterschiebt,
liefert Waren für Kunden, die es nicht gibt.
Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug
sacht eure eigne Kundschaft kaputt gemacht.
Denn Deutschland besteht – Millionäre sind selten –
aus Arbeitern und aus Angestellten!
Und eure Bilanz zeigt mit einem Male
einen Saldo mortale.

Während Millionen stempeln gehn.
Die wissen, für wen.


Autorenangabe: Theobald Tiger

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 27. Januar 1931, Nr. 4, S. 123

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1931, S. 250.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 9, S. 121-122

Brief an eine Katholikin

Es kommt in der Politik nicht dar-
auf an, wie eine Sache ist; es
kommt darauf an, wie sie wirkt.

Sehr geehrte gnädige Frau.
Sie hatten die Freundlichkeit, einmal das zu tun, was in Deutschland so selten ist: über den trennenden Graben hinüber nicht mit faulen Äpfeln zu werfen, sondern Briefe von Verstand zu Verstand zu schreiben. Händedruck und Dank.
Die Unterhaltung zwischen Freidenkern und Katholiken geht gewöhnlich nach folgendem Schema vor sich. Die einen sagen: »Heuchler! Reaktionäre! Volksverdummung! Dämlicher Aberglaube! Es lohnt nicht, mit diesen Leuten auch nur ein Wort zu wechseln«, und die andern sagen: »Heiden! Gottlose! Volkszersetzung, Verkommenheit der neuen Zeit! Es lohnt nicht, mit diesen Leuten auch nur ein Wort zu wechseln.« Auf so tiefer Ebene wollen wir unsere Unterhaltung nicht führen – Ihr letzter Brief zeigt mir das. Ich will ihn öffentlich beantworten.

Der Ausgangspunkt unsres Briefwechsels war der Artikel Carl von Ossietzkys »Das lädierte Sakrament« (erschienen in der Nummer 49 des vorigen Jahrgangs dieser Zeitschrift). Sie und die Zentrumspresse sind recht böse gewesen: böse über den Titel und böse über den Inhalt, darin gesagt wird, daß die katholische Reichstags-Fronde gegen die Neuregelung der Ehescheidungsvorschriften nicht zu entschuldigen ist. Es wird von der Ehenot gesprochen. »Wenn das katholische Muckertum«, ist da gesagt, »noch immer tut, als handele es sich hier um Einzelfälle, die durch ein Abschreckungsgesetz sogar noch vermindert werden können, so muß der gesunde Menschenverstand endlich die Gegenfrage aufwerfen nach den wenigen kostbaren Exemplaren beiderlei Geschlechts, die noch niemals neben die Ehe gegangen sind.« Und: »Die heilige Kirche hat im Laufe ihrer langen wechselvollen Geschichte die Gebresten der Zeit auch nicht immer mit der gleichen Härte verfolgt, sie hat, wenn es sich um vornehme Beichtkinder handelte, das Laster oft mehr mit der Puderquaste gegeißelt als mit der Stachelpeitsche und im ganzen die schweren Pönitenzen dem niedern Volk vorbehalten.« Und: »Der Begriff der Adultera, ob in eifernder Verhetzung oder romantischer Verherrlichung gebraucht, ist dahin und tot wie die Beichtmoral vom Escorial oder von Schönbrunn.«

Und darum Schwefel und Höllendrohung und die ganze Verachtung, die – mit welchem Recht? – eine sehr mäßige kirchliche Dialektik für jene aufbringt, die nicht ihrer Meinung sind? Welche Rolle spielt Ihre Kirche? Was will sie?
Sie will in erster Linie sich. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn nicht stets der fatale Kunstgriff angewandt würde, mit Berufung auf irrationale Größen Rationales zu verlangen. Sie wissen, daß in der jungkatholischen Bewegung, die die Kirche nicht sprengen und nicht wandeln wird, bei aller verehrungsvollster Anerkennung des kirchlichen Dogmas die Tagespolitik des Zentrums auf das schärfste abgelehnt wird: diese Bewegung, die den Weg aller katholischen Reformbewegungen gehen wird, nämlich den nach Rom, will die Wechsler aus den Tempeln verjagen. Es wird ihr nicht gelingen.
Was die Ehe angeht, so machen es sich Ihre Leute etwas leicht.
Die Jesuiten statuieren in der Germania ein »Naturrecht«, auf dem die Ehe basiere – das wird behauptet, aber nicht bewiesen, und an keiner Stelle wird deutlich, wie sehr diese Anschauungen von der Familie der einer Klasse entspringen; diese Anschauungen sind gültig und nützlich für die bürgerliche Klasse, und sie sollen gültig sein für die von den Bürgern beherrschte Schicht, die sich heute freimachen will. Darüber wäre zu reden.
Worüber gar nicht zu reden ist, ist dieses:
Die Kirche rollt durch die neue Zeit dahin wie ein rohes Ei. So etwas von Empfindlichkeit war überhaupt noch nicht da. Ein scharfes Wort, und ein ganzes Geheul bricht über unsereinen herein: Wir sind verletzt! Wehe! Sakrileg! Unsre religiösen Empfindungen …
Und die unsern –?
Halten Sie es für richtig, wenn fortgesetzt eine breite Schicht des deutschen Volkes als ›sittenlos‹, ›angefressen‹, ›lasterhaft‹, ›heidnisch‹ hingestellt und mit Vokabeln gebrandmarkt wird, die nur deshalb nicht treffen, weil sie einer vergangenen Zeit entlehnt sind? Nehmt ihr auf unsre Empfindungen Rücksicht? Ich zum Beispiel fühle mich verletzt, wenn ich einen katholischen Geistlichen vor Soldaten sehe, munter und frisch zum Mord hetzend, das Wort der Liebe in das Wort des Staates umfälschend – ich mag es nicht hören. Wer nimmt darauf Rücksicht? Ihre Leute nicht, gnädige Frau.
Die gehen neuerdings mit der Zeit mit, wie ein Kriegsgefangener, den ein übermütiger Husar ans Pferd gebunden hat. Zur Zeit haben sie es mit dem Sozialismus. Man wird dabei ein peinliches Gefühl nicht los: es ist ein Interesse, das die Kirche an den Arbeitern nimmt, dem gleich, mit dem sich eine Hausfrau für die Wanzen interessiert. Ihr fühlt die Not – aber ihr könnt sie nicht beheben, weil ihr ihre Quelle nicht sehen wollt. Sie wissen, wer auf dem rechten Flügel des Zentrums sitzt: Großindustrielle. Mit denen macht man keine soziale Politik.
Das will der neue berliner Bischof nicht wahr haben. Mit großem demagogischem Geschick hat sich der Mann in seiner Rede im Sportpalast zu Berlin eingeführt; das Ganze ging unter der Spitzmarke ›Der Volksbischof für Berlin‹ vor sich, und es war viel von den arbeitenden Massen, der Wohnungsnot und der Arbeitslosigkeit die Rede. Das ist zunächst ganz echt, und dafür habt ihr einen strahlenden Beweis in eurer norddeutschen Geschichte. Und zwar sind das nicht nur, wie Sie mit Recht schreiben, die zahllosen katholischen caritativen Verbände, die Anstalten, Klöster, Schulen, Priester, Krankenhäuser, die Tausende von selbstlos arbeitenden katholischen Krankenschwestern, die tätig sind bis zum letzten Hauch der Kraft – es ist das ein für den Berliner sichtbar gewesener Mann, der leider zu früh dahingegangen ist: es ist Carl Sonnenschein. Was dieser Mann Gutes getan hat, darf ihm nicht vergessen werden.
Von der andern Seite wird dann sogleich eingewendet: »Aber nicht umsonst. Was wird hier gemacht? Proselyten werden hier gemacht.« Nun, das halte ich nicht für richtig.
So gewiß sich die offizielle katholische Caritas ihre Zuwendungen oft politisch bezahlen läßt (daher auch die ständige katholische Aspiration nach dem Volkswohlfahrtsministerium, das die Verteilung der großen Fonds bestimmt): so gewiß haben Sonnenschein und die ihm geistig verwandten Katholiken keine Proselyten gemacht und machen wollen. Wie ja denn überhaupt der allgemein verbreitete Glaube, die katholischen Priester lauerten nur darauf, Andersgläubige einzufangen, eine Bilderbuchvorstellung ist. Die katholische Kirche versucht zwar stets mit den schärfsten Mitteln, bei gemischten Ehen den protestantischen Teil und vor allem die Kinder zu sich hinüberzuziehen – aber die Bekehrungssucht im ganzen ist doch in Europa bei ihr recht schwach ausgebildet. Man wird eher im Gegenteil finden, daß katholische Priester dem Renegaten gegenüber sehr zurückhaltend, sehr skeptisch und sehr abwartend sind – mit Recht übrigens. Ihr habt viel Gutes getan; man soll es euch danken und nicht hinter jeder wohltätigen Handlung die kalte Berechnung des Kundenfangs sehen. Sonnenschein hat sie nicht gehabt; der berliner Bischof hat sie vielleicht, wenn man an weite politische Betrachtungsweise denkt – im ganzen habt ihr sie nicht. Ihr wollt wiedereinfangen; einfangen wollt ihr nicht.
Der Bischof und Sonnenschein nun machen einen gewaltigen Fehler: sie denken nicht zu Ende. Man sehe sich daraufhin die große Rede des Bischofs an (publiziert in der Germania vom 2. November), und man wird finden: Diagnose richtig, Therapie unzureichend. Da sieht der Kommunismus viel weiter, der richtig lehrt, daß noch niemals eine herrschende Klasse ihre Privilegien freiwillig abgegeben habe – nicht einmal die Kirche hat das getan. Sehr gut steht in jenem Aufsatz Ossietzkys: »Man sieht: wo die Kirche einer unaufhaltsamen Entwicklung gegenüberstand, da zog sie der folgenschweren Auseinandersetzung stets das Arrangement im stillen vor.« Das heißt: sie verhandelte, und sie verhandelte, wie auf der Welt immer verhandelt wird: von Macht zu Macht, niemals von Macht zur Machtlosigkeit. So ist es auch im großen Wirtschaftskampf: Werkgemeinschaft und sozialer Ausgleich im guten und alles das sind Fliegenfänger; die Dummen bleiben daran hängen und summsen nachher mächtig, weil sie kleben geblieben sind. Das Christentum braucht nur ein Jahrtausend in seiner Geschichte zurückzublättern: im Anfang war es wohl die Güte, die diese Religion hat gebären helfen – zur Macht gebracht hat sie die Gewalt.
Von der wollte Carl Sonnenschein nichts wissen. Mit einer Opferbereitschaft, die nicht alltäglich ist, wirkte er Gutes, wie er es verstand; an seiner Reinheit, an seiner Uneigennützigkeit ist kein Zweifel erlaubt. Aber …
Wenn ein Ehepaar, das sich in einer Zweizimmerwohnung auseinandergelebt hat, so ein Kapitelchen wie »Ehescheidung« liest, das in Sonnenscheins Notizen zu finden ist (erschienen im Verlag der Germania, Berlin) – so ist dem Ehepaar damit nicht geholfen. Auch uns andern ist mit Carl Sonnenschein nicht geholfen.
Die Kirche hat zu allem Nicht-Katholischen ein sonderbares Verhältnis, an dem das Peinlichste ein durchaus falsch angebrachtes Mitleid ist. So hat Sonnenschein das Imperium Romanum vor Christi Wirken beurteilt: »Nirgendwo mehr ein aufrechter Mann. Nirgendwo mehr eine keusche Familie« … man kann das damalige bäuerliche Leben nicht gut falscher sehen, und genau so mitleidig-verachtungsvoll sieht er auf die Großstadt, auf ›Berlin‹, in welchem Wort bei ihm viel provinzielle Nebenbegriffe mitschwingen. Wie da geraubte Jungfräulichkeit, Syphilis, Unkeuschheit und mangelnder Kirchenbesuch in dieselbe Reihe gesetzt werden; wie die wirtschaftliche Basis des Großstadtelends fast überall nur gestreift, nie aber ernstlich bekämpft wird –: das läßt einen denn doch eiligen Schritts in die Front des Klassenkampfes gehen. Manchmal lüftet sich der Vorhang … »Hausfrauen aus jüdischen, rationalistischen Familien haben mir gesagt, daß sie Dienstboten mit Jenseitsdressur denen mit Diesseitskultur vorziehen. Daß sie im Eventualfall katholische Hausangestellte, die jeden Sonntag in die Messe und Ostern zu den Sakramenten gehen, in Kauf nahmen. Statt monistischer, die sich ganz auf das Diesseits einrichten.« Das hätte einmal unsereiner schreiben sollen! Nicht schlafen können hätte man nachts vor dem Geheul und Gebelfer eifriger Katholiken. Aber Sonnenschein hat zutiefst recht: dieser Glaube ist gut. Nämlich gut für die dienenden Klassen. So verharren sie im Gehorsam.
Der neue katholische Bischof Berlins wird mitsamt der von Herrn Klausener emsig betriebenen Katholischen Aktion, die an Geistigkeit von der auf den Index gesetzten ›Action Française‹ meilenweit entfernt ist, viel Gutes tun, und es wird nicht ausreichen. Mir will dieser Pseudosozialismus nicht eingehen, diese Zwangsbewegung einer Gruppe, die mit dem Herzen bei den kleinen Leuten und mit dem Portemonnaie bei den Großen ist. Sie, verehrte gnädige Frau, leben in Berlin und werden vielleicht die katholische Provinz nicht so kennen, die deutsche Provinz mit ihren unsäglichen frommen Käsblättchen. Die kompromittieren Ihre Religion, die sie ununterbrochen im Munde führen, und das mit einer Unduldsamkeit, die so gar nicht christlich anmutet … Neulich habe ich in Wiesbaden einen Vortrag gehalten; tags darauf tobte sich in der Rheinischen Volkszeitung und im Neuen Mainzer Journal ein Mann aus (wie man mir erzählt hat, ein getaufter Jude), namens Karl Goldbach. »Er hat den Katholizismus mit einem Klosett mit Wasserspülung verglichen«, schrieb er. Kein Wort davon ist wahr – aber so sieht in Mainz die geistige Polemik der Katholiken aus. So wie Sonnenschein bei den patriotischen Kriegskatholiken steht, nicht bedenkend, daß Opfer an sich noch gar nichts sind, wenn die Sache, für die sie gebracht werden, nicht gut ist – so steht ein Teil der Zentrumspresse in verdächtiger Nähe der Nationalsozialisten, die diese Kameradschaft gar nicht wünschen. Aber die Fronten des Zentrums wechseln … Im ganzen ist es wohl so, daß diese Partei immer wartet, wer beim Kampf die Oberhand behält; bei dem ist sie dann. Sonnenschein drückt das anläßlich der Ereignisse von 1918 so aus: »Jede Obrigkeit kommt von Gott.« Und der Bischof Schreiber so: »Dann kam die Revolution. Als Auflehnung, als gewaltsame Auflehnung gegen die damalige rechtmäßige Autorität war sie ein Unrecht. Dann aber haben die regierenden Fürsten ihre rechtmäßige Gewalt in die Hände des Volkes gelegt und haben dem Volk auf Grund ihrer früheren rechtmäßigen Gewalt die Entscheidung übergeben über die Festsetzung der Staatsform, ob die Monarchie bleiben solle oder ob eine andere Staatsform an ihre Stelle treten solle.« Die Nachfolge Christi … die Nachfolge der Hohenzollern … Und wenn die Fürsten diese Formalität nun nicht erfüllt hätten, dann könnte der Bischof Schreiber sich nach einer neuen Ausrede umsehen, weshalb er heute »bejahend zum Staat« steht. Der übrigens der Kirche gibt, was der Kirche ist, und noch ein bißchen mehr. Nein, so geht es nicht.
Gewiß, gnädige Frau, Sie und Ihre Leute stehen mitunter groß da, weil Sie so kleine Gegner haben. Von Ludendorff soll unter vernünftigen Menschen nicht die Rede sein, nicht von seiner Stammtischphantasie, die den Jesuitismus, das Freimaurertum und die Päpste wild durcheinander würfelt, wie es nur ein bierbeglänzter Generalsschädel auszudenken vermag … das gehört nach Bayern und soll nur dort bleiben. Auch die etwas klobigen Gottesund Kirchenlästerungen, denen Sie manchmal ausgesetzt sind, haben nicht meinen Beifall. Damit, daß man die Kapläne als Mädchenverführer und heuchelnde Köchinnenbeischläfer hinstellt, ist keiner Sache gedient – nicht der unsern, nicht der der Arbeiter. Aber wie kommt es, daß Sie so wenig Ihnen ebenbürtige Gegner in der großen Tagespresse haben? Sie erlauben mir hier ein notwendiges Wort über die deutschen Juden.
Deren Toleranz der Kirche gegenüber setzt sich zusammen aus Pogromangst und einer innern Unsicherheit, die bis zum bösen Gewissen geht. Hätten die deutschen Nationalisten nicht diese fast tierische Stalldumpfheit von pommerschen Bereitern aus dem vorigen Jahrhundert: sie hätten längst auf die allerdings zugkräftige Volksparole »Haut die Juden!« verzichtet – und drei Viertel der deutschen Juden säßen heute da, wo sie klassenmäßig hingehören: bei der Deutschen Volkspartei. Sie tun es nicht, weil sie der Antisemitismus abstößt; sie tun es zum Teil doch, weil ihnen ihr Bankkonto lieber ist als eine Religion, von der sie nur noch das Weihnachtsfest und die Frankfurter Zeitung halten. Von der winzig kleinen Minorität der National-Juden unter Führung eines schon von Siegfried Jacobsohn rechtens vermöbelten Herrn Naumann will ich gar nicht sprechen: gefüllte Milz mit einem Stahlhelm ist wohl nicht das Richtige. Aber jene friedlich dahin verdienenden Hausjuden, die aufatmen, daß wenigstens Lenin nicht einer der ihren gewesen ist, jene israelitischen Familienblättchen, beschnittene Gartenlauben, errichtet im Stil von Sarah Courths-Mahlersohn … diese Leute sollen dem deutschen Volk das rituelle Schächtmesser in den Rücken gestoßen haben? Dazu sind sie viel zu feige. Nie täten sie das.
Und diese Sorte, die da glaubt, Unauffälligkeit sei ein Kampfmittel, hat vor nichts so viel Furcht wie vor öffentlichen Diskussionen mit andern Religionen. Kurt Hiller hat den endgültigen Trennungsstrich gezogen: den zwischen Aron-Juden und Moses-Juden. Von den Aron-Juden hat der Katholizismus nichts zu befürchten. Die große Presse ist sehr ängstlich, wenn es um die Konkordate geht, um die Sabotage der Reichstagsarbeiten durch das Zentrum bezüglich der Ehescheidung – es ist sehr still in diesen Blättern, wo es sonst so sehr laut ist. Angst, Angst …
Und so berührt es denn doppelt komisch, wenn der Bischof Schreiber und seine Blätter sich nicht lassen können: Ungeschmälerte Parität! auch wir verlangen unsern Platz an der Sonne … als ob es nicht dunkel wäre in Deutschland, weil eine Soutane das Sonnenlicht schwärzt. Ihr habt, was ihr braucht, aber es genügt euch nicht.
Und eben dagegen wehrt sich die Arbeiterschaft. Vielleicht manchmal ein bißchen plump, vielleicht zu grob, weil sie den feinen Mitteln, mit denen ihr die Frauen des kleinen Mittelstandes bearbeitet, nicht gewachsen ist. Diese eure Arbeit ist systematisch: auch drüben in Frankreich sind besonders die Jesuiten in der Arbeiterschaft am Werk (»Christe dans la banlieue« – Christus in der Vorstadt), überall in der Welt geschieht es. Ihr macht Politik. Ihr greift in die Politik ein? Die Politik antwortet euch. Stellt die Orgeln ab und schreit nicht, man habe euch verletzt. Auch ihr verletzt die andern, auch ihr verletzt uns.
Sie sehen, sehr verehrte gnädige Frau, daß hier kein patentierter Freidenker spricht. Keiner, der da glaubt, mit einer Feuerverbrennungskasse sei die Glaubensfrage gelöst. Solange aber die katholische Kirche in allen entscheidenden Fragen bei den Unterdrückern ist, solange sei es jedem verständigen und klassenbewußten Arbeiter, jedem Angestellten empfohlen, aus der Kirche auszutreten. Auch gegen die Gefühle ihrer Frauen, die zu erziehen sind – so, wie ihr sie verzogen habt. Ich schmähe die Kirche nicht, ich schmähe ihre Diener nicht. Beschränkt ihr euch auf das geistige Gebiet, so sei Diskussion zwischen uns, Debatte und Gedankenaustausch.
Macht ihr reaktionäre Politik –: auch dann ist die Sauberkeit eurer Überzeugung und die Heiligkeit einer Sache zu ehren, die andern nicht heilig ist. Dann aber sei zwischen uns Kampf. Der Sieg wird nicht bei euch sein – sondern bei den Werktätigen der ganzen Welt.

Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4. Februar 1930, Nr. 6, S. 198.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 75 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 38 ff.

Brief an Annette Kolb

Hindås, 29.2.1932
Liebe Kolbanette,

Du hast mir mal im Sommer geschrieben, was es denn nur mit dem ‹Simplicissimus› wäre, und es wäre doch ganz erschröcklich. Ich habe mir also das Blatt genau angesehen und schließlich an den Herrn Redakteur geschrieben. Von dieser Korrespondenz gebe ich Dir Kenntnis – bitte schicke sie mir nach Lesung zurück.

Damit wir uns recht verstehn:
Ich bin kein Aufsichtswart deutscher Zeitschriften. Der Simpel kann schreiben, was er lustig ist. Aber ich halte im übrigen diesen Briefwechsel für sehr bezeichnend. Wie reden wir doch lieblich aneinander vorbei –!
Daß kluge und anständige Menschen nicht fühlen, wie zeitabhängig sie sind! Wie wir es alle sind. Ich halte mich nicht [für] den lieben Gott – der Schönberger glaubt aber, seine Haltung und die Th. T. Heines, Schillings pp. sei «der gesunde Menschenverstand». Dabei sind diese Leute nicht einmal gut informiert, was ja die erste Bedingung für eine gute Satire ist. Das ist im großen ganzen ‹Münchner Neuste Nachrichten› – vor allem in außenpolitischer Hinsicht. Das arme gute Deutschland, das unschuldige Kind! Keiner Maus tut es etwas zu leide! Und das böse Frankreich! Und der blöde Völkerbund – natürlich ist er blöde und machtlos – aber:
Wer hat ihm denn Macht übertragen –?
Kurz: es ist ein Jammer. Die Sache liegt hier so verzweifelt, weil hier bestimmt nicht irgend eine Aktiengesellschaft dahinterliegt. Die großen Verleger, die heute umfallen –: das ist einfach. Es ist ein Geschäft. Sie werden entweder von der Regierung direkt bezahlt oder von ihrer Angst mittelbar getrieben, das ist in Frankfurt und in Berlin so. («So übel ist doch der Hitler eigentlich gar nicht …») Aber hier hast Du das deutsche Bürgertum: ahnungslos, genau wieder so ins Unglück taumelnd … der Mann da in München wäre höchsterstaunt, wenn man ihm sagte, daß er mithilft, den nächsten Krieg vorzubereiten.
Meine Liebe, es ist ziemlich aussichtslos.
Wenn ich an Deutschland denke, bin ich zwar nicht um den Schlaf gebracht, aber es freut einen nicht mehr. Wenn es nicht in die Hölle kommt, so nur, weil es ein paar bezaubernde Schriftsteller gehabt hat. Darunter meine allerbeste und geliebte und gute und ewigjunge
Anette Kolb

Zehn Gebote für den Geschäftsmann, der einen Künstler engagiert

  1. Laß ihn in Ruhe.
  2. Überlege dir vorher, ob der Mann für deinen Betrieb paßt; das machst du am besten so, daß du dir seine Werke ansiehst und dich bei jedem fragst: Kann ich das gebrauchen? Wenn du die Mehrzahl nicht gebrauchen kannst, dann engagiere den Mann nicht. Denn:
  3. Wenn ein Künstler anständig ist und etwas taugt, ändert er sich dir zuliebe nicht, nur weil du mit ihm einen Vertrag gemacht hast – ändert er sich aber, hast du nur einen Namen bezahlt, also einen Mann überzahlt.
  4. Laß ihn in Ruhe.
  5. Disponiere sorgfältig, damit sich dein Mann nicht zu überstürzen braucht – Kunst will Zeit wie eine saubere Bilanz. Man kann, wenn man Pech hat, Flöhe aus dem Ärmel schütteln; Kunstwerke nicht.
  6. Du sollst den Feiertag deiner Leute heiligen: du irrst, wenn du glaubst, daß es für Fremde ein Genuß ist, den Sonntag in deiner Familie zu verbringen. Es ist mitnichten einer.
  7. Wenn der Künstler, den du engagiert hast, am Werk ist, halte ihm täglich fremde Arbeiten vor die Nase und fordere ihn, in anerkennenden Worten für den andern, auf, dergleichen ›auch mal‹ zu machen. Das ermuntert ungemein.
  8. Wenn du mit deinem Künstler verhandelst, besinne dich nur nicht, daß auch du eigentlich ein Künstler seist: du hast beinah studieren wollen, doch dein Vater hat dich ins Getreidegeschäft getan … Zugegeben. Aber nimm deinen falschen Ehrgeiz nicht mit ins Büro: der Künstler redet dir ja auch nicht in die Abschlüsse hinein – o beschneide auch du die holden Maientriebe deiner vertrockneten Kunstanschauung, dieser Rose von Jericho!
  9. Höre auf die Stimme des Publikums, aber überschätze sie nicht – in dir selbst muß eine Kompaßnadel die Richtung anzeigen. Zwanzig Briefe aus dem Publikum sind noch nicht die Volksstimmung – vergiß dies nicht, und laß die Dummheit der Leute den Künstler nicht entgelten.
  10. Laß ihn in Ruhe.

Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Vossische Zeitung, 21. Januar 1928

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928, S. 58 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 31 ff.

Die freie Wirtschaft

Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort die Gruppen – sei unser Panier!
Na, ihr nicht.
Aber wir.
Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn –
wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht.
Aber wir.
Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge –
kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier …
Ihr nicht.
Aber wir.
Was ihr macht, ist Marxismus.
Nieder damit!
Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
Niemand stört uns. In guter Ruh
sehn Regierungssozialisten zu.
Wir wollen euch einzeln. An die Gewehre!
Das ist die neuste Wirtschaftslehre.
Die Forderung ist noch nicht verkündet,
die ein deutscher Professor uns nicht begründet.
In Betrieben wirken für unsere Idee
die Offiziere der alten Armee,
die Stahlhelmleute, Hitlergarden …

Ihr, in Kellern und in Mansarden,
merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?
mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird?
Komme, was da kommen mag.
Es kommt der Tag,
da ruft der Arbeitspionier:
„Ihr nicht.
Aber Wir. Wir. Wir.“

Autorenangabe: Theobald Tiger

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 4. März 1930, Nr. 10, S. 351.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 125 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 60 ff.

Ein Kind aus meiner Klasse

Für Hans M.
Neulich habe ich ein Kind aus meiner Klasse wiedergetroffen, nach so langen Jahren. Es war annähernd wie im Bilderbuch: Der arme Mann stand draußen am Zaun und bettelte, und der wohlhabende Mann stand drinnen und klopfte sich die Kuchenkrümel von der Weste. »Kennst du mich nicht mehr?« sagte der arme Mann leise. Da erkannte der Reiche den ehemaligen Mitschüler und … ich weiß nicht mehr, wie die Geschichte weitergeht. Jedenfalls ist das Kind aus meiner Klasse, mit dem ich damals auf dem alten Schulhof umherspazierte und die bessern Sachen absprach, inzwischen Regierungsrat geworden, und aus mir wird zu meinen Lebzeiten nun wohl nichts Rechtes mehr werden. Auch für nachher habe ich leichte Bedenken.
Mit diesem also habe ich mich über früher unterhalten. Das ist eine wunderschöne Unterhaltung, und es gibt nur ein Buch, worin sie richtig aufgezeichnet steht: das ist mein Lieblingsbuch ›Blaise, der Gymnasiast‹ von Philippe Monnier, das bei Albert Langen erschienen ist. Darin steht, was geschieht, wenn man sich später einmal wiedersieht: wie man niemals den Mann, sondern immer nur den Jungen erkennt, wie der kleine Schulkram fürs Leben haftet, wie man im Grunde ja doch immer derselbe geblieben, und wie alles vorgezeichnet ist. Was bleibt dann haften? Monnier: »Lévêque ist katholisch.« Aus – das ist alles, was er über den da weiß. Und er wird nie mehr über ihn wissen.
Ich habe ihn gleich wiedererkannt: er war noch derselbe feine, leise, sehr überlegene und sehr angenehme Mensch. Wir saßen nebeneinander bei Tisch, es waren schrecklich berühmte Leute um uns herum, aber ich sah und hörte nichts. Ich ließ sogar das Eis zweimal vorübergehn. Ich war wieder klein und ging auf dem Schulhof spazieren, ganz wie damals.
»Erinnern Sie sich noch … ?« – »Können Sie sich noch auf den … besinnen? Der Kerl hatte immer so schmutzige Hände und sagte wunderschön vor.« Alle Mitschüler kamen wieder, alle Lehrer, natürlich, und beinahe hätte ich gefragt, mitten unter den feinen Leuten: »Haben Sie Geographie gearbeitet? Ich habe keine Ahnung!«
Und als wir alle durchgehechelt hatten: die Professoren, den Direktor, den Kastellan und die ganzen Klassen über und unter uns – da hatte ich einen bittern Geschmack im Munde. Denn das Kind hatte mit seiner leisen Stimme gesagt: »Denken Sie doch nur … schade um all die verlorenen Jahre!« Es war das Todesurteil über die deutsche Schule, viel, viel härter und radikaler, als es die lauteste politische Versammlung aussprechen kann.
Die verlorenen Jahre … Ich erinnerte mich an Dinge, an die ich jahrzehntelang nicht mehr gedacht hatte – und jetzt waren sie auf einmal wieder da. Nein, gehauen hat man uns nicht. Es war auch nicht romantisch gewesen, niemand schoß sich tot, wenn er sitzen blieb, und von Frühlings Erwachen war gar keine Rede. Das erwachte eben bei jedem sachte vor sich hin und wurde so oder so wieder zur Ruhe gebettet. Einen Zögling Törleß hatten wir auch nicht unter uns. Aber um unsre Zeit haben sie uns bestohlen, das Schulgeld war verloren, die Jahre auch.
Langweilige Pedanten gab es überall. Unzulänglichkeiten der Lehrer, viele Fehler, wir waren auch nicht die Besten. Aber was hat man uns denn gelehrt –? Was hat man uns beigebracht –?
Nichts. Nicht einmal richtig denken, nicht einmal richtig sehen, richtig gehen, richtig arbeiten – nichts, nichts, nichts. Wir sind keine guten Humanisten geworden und keine guten Praktiker – nichts.
Er sagte: »Wenn man nicht zu Hause für sich gearbeitet hätte! Wenn man nicht eine anständige Erziehung gehabt hätte … !« Nun, ich, zum Beispiel, habe keine gehabt, und ich beneidete ihn sehr. Er sagte: »Was ich in der Kunstgeschichte, in der Völkergeschichte, in der Geographie Europas gelernt habe, das habe ich mir alles selbst beigebracht.« Wer hätte es ihm auch sonst beibringen sollen. Unsre Schule vielleicht?
Unsre Schule war noch nicht so nationalistisch verhetzt wie die heutige. Unsre Lehrer waren nicht unintelligenter, fauler, fleißiger, klüger als andre Lehrer auch. Es war eine Schule, die etwas unter dem Durchschnitt lag, aber doch nahe am Durchschnitt. Und was lernten wir?
Deutsch: Lächerliches Zerpflücken der Klassiker; törichte Aufsätze, schludrig und unverständig korrigiert; mittelhochdeutsche Gedichte wurden auswendig gelernt, niemand hatte einen Schimmer von ihrer Schönheit.
Geschichte: Eine sinn- und zusammenhanglose Zusammenstellung von dynastischen Zahlen. Wir haben niemals Geschichtsunterricht gehabt.
Geographie: Die Nebenflüsse. Die Regierungsbezirke. Die Städtenamen.
Latein: Es wurde gepaukt. Ich habe nie einen lateinischen Schriftsteller lesen können.
Griechisch: siehe Latein.
Französisch: Undiskutierbar.
Naturwissenschaften: Gott weiß, welcher Unfug da getrieben wurde, hier und in der Physik-Stunde! Kein Experiment klappte – es sei denn jenes, wie man mit völlig unzulänglichen Mitteln einen noch schlechtem Physik-Unterricht erteilen kann.
Mathematik: Mäßig.
Und so fort. Und so fort.
Ich denke nicht mit Haß an meine Schulzeit zurück – sie ist mir völlig gleichgültig geworden. Schultragödien haben wir nie gehabt, furchtbare Mißstände auch nicht. Aber schlechten Unterricht.
Es war ja nachher auf der Universität ähnlich – nur stand da der Unfähigkeit der Professoren, zu lehren, wenigstens oft ihr wissenschaftlicher Wert gegenüber. Aber ich denke ein bißchen traurig an die Schule zurück, heute, da ich den Wert der Zeit schätzen gelernt habe. Sie haben uns um die Zeit betrogen, um unsre Zeit und um unsre Jugend. Wir hatten keine Lehrer, wir hatten keine Führer, wir hatten Lehrbeamte, und nicht einmal gute. Ich besinne mich, nach dem Abiturium eines Freundes gefragt zu haben: »Na, und die Pauker?« – »Dumm, wie immer!« sagte er – es war so viel selbstverständliche Verachtung in seiner Stimme. Nicht einmal Haß.
Ich weiß lange nicht so viel, wie ich wissen müßte – vieles fehlt mir; für kaum ein Gebiet, das ein bißchen abseits liegt, bringe ich auch nur das scholastisch geschulte Denken mit, und das wäre ja eine Menge. Nichts habe ich mitgebracht. Was wir wissen und können, das haben wir uns mit unsäglicher Mühe nachher allein beibringen müssen, nachher, als es zu spät war, wo das Gehirn nicht mehr so aufnahmefähig war wie damals. Vielleicht wäre doch manches besser gegangen mit einem guten Unterricht!
Und sie sind so stolz auf ihre Schule! Wie sie blöken, wenn sie ihre Philologenkongresse abhalten, welche großen Worte, welche Töne! Hat sich etwas geändert? Ich weiß nicht, was Entschiedene Schulreform ist – aber ich weiß, daß es entschieden keine Schulreform ist, was man heute treibt. Vielleicht werden es ganz gute Unteroffiziere werden oder Verzweifelte, die da herauskommen – gebildete Menschen, belehrte Menschen instruierte Menschen sind es sicherlich nicht.
Vor dem Kriege ist einmal ein Erinnerungsbuch über die Schule erschienen – von Graf -, darin haben viele bekannte Männer der damaligen Zeit ihre Schulerinnerungen erzählt. Es war erschreckend, zu sehen, welcher Haß, welche Abneigung, welche Verachtung aus den Zeilen heraussprangen!
Wir zucken nur die Achseln. Aber wenn das Kind aus meiner Klasse nun wieder ein Kind hat – was dann? Es wird in dieselben Schulen gesteckt werden müssen, in dieselben Schulen, für die kein Geld da ist – weil wir ja fünfhundert Millionen für unsern Reichswehretat brauchen – in dieselben Schulen, in denen der Arme an seiner Zeit bestohlen wird, und über die der Reiche lacht. Nicht wahr, wir haben auch die alten Lehrer-Anekdoten aufgefrischt: von dem Mann, der keine Fremdwörter gebrauchte und also keinen Zylinderhut, sondern eine ›Walze‹ hatte; von dem »Süßen«; und von dem ›Jewaltijen Leuhren und von allen den armen Narren.‹ Das ist nun vorbei. Geblieben sind wir und mit uns die übeln Wirkungen dieser lächerlichen Schulbildung, die keine war. Wenn das Kind aus meiner Klasse etwas geworden ist, so ist es das trotz der Schule, nicht wegen der Schule geworden.
Denn die deutsche Schule hat heute ein Ideal, das wohl das niedrigste von allen genannt werden muß; ihre Leitgedanken, ihre Idee, ihre Lehrgänge liegen zuunterst auf aller menschlichen Entwicklungsstufe: sie ist militarisiert.

Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 3. März 1925, Nr. 9, S. 315.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1925, S. 126 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 4, S. 51 ff.

Die moderne politische Satire in der Literatur

Roda Roda sagt: „Humor ist die Verdauung der Satten, Satire der Schrei der Hungrigen.“ Das ist das Wesen der Satire, aber wie erreicht sie ihre großen Wirkungen, mit welchen Mitteln arbeitet sie? Ich möchte hier einige Ausführungen des Genossen Eduard Fuchs zitieren: Jede Kunst, sagt Eduard Fuchs, ist Karikatur, wenn man nämlich unter Karikatur Hinweglassung des Unwesentlichen und die dadurch notwendige Betonung des Wesentlichen versteht. In ganz besonderem Maße wendet die Satire die Karikatur als Mittel an.
Aus diesen klaren und richtigen Worten folgt zweierlei: erstens, daß man verstanden haben muß, bevor man karikiert, daß man überhaupt nur das satirisch behandeln kann, was man in seinem tiefsten Kern begriffen hat, und zweitens, daß notwendigerweise die rechtsstehenden Parteien keine gute Satire haben können, weil das restlose Kapieren der Dinge Objektivität und oft genug Respektlosigkeit erfordert. Der Satiriker darf keine, aber auch gar keine Autorität anerkennen. Das widerstrebt den Priestern der Autorität und den Halben, Lauen, und niemals werden sie eine künstlerisch gute Satire hervorbringen können (Ludwig Thoma hat das einmal im März sehr lustig gegen das Zentrum bewiesen).
Die Satire der rechtsstehenden Parteien ist denn auch danach. Die Witzblätter sind fade, lasch, feige und behandeln alles mehr von der komischen Seite aus, anstatt anzugreifen und niederzureißen. Niemals stehen diese gewerbsmäßigen Witzemacher über der Sache: ihre Pfeile gehen stets von unten nach oben. Da sind die Lustigen Blätter in Berlin, die ohne Gesinnung, aber mit viel Ungeschick alles bewitzeln, da ist der Kladderadatsch, der sich zu einem langweiligen Witzprofessorenkollegium entwickelt hat, da sind die Bücher bürgerlicher Autoren, die in Vers und Prosa nach links um sich hauen. Wilhelm Hegeler: „Des Königs Erziehung“, eine dumme utopistische Geschichte, in der die „Handleute“, wie er die sozialdemokratischen Arbeiter nennt, sich als versoffene und verlauste Trottel repräsentieren. Das Gesudel von Max Brinkmann: „Genosse Tuteweit“ ist geistloser und sehr schlecht kopierter Busch.
Das wäre die rechte Gegend. Ganz links, auf anarchistischer Seite, steht Erich Mühsam, der eine Zeitlang die Canaille, ein wöchentlich erscheinendes Beiblatt zum Freien Arbeiter, redigierte. Eines seiner Gedichte, „Der Revoluzzer“, ist ausdrücklich der deutschen Sozialdemokratie gewidmet. Die Tendenz ist die bekannte: Ihr seid im Grunde auch zu schlapp! Aber Mühsam ist ein ausgezeichneter Formenkünstler, und der Angriff kann sich sehen lassen.
Die gute politische Satire ist, wie wir gesehen haben, ein Vorrecht der Opposition. Und hier finden sich auch ihre besten Vertreter. In der Partei selbst Rudolf Franz, der hie und da im Vorwärts seine Beiträge veröffentlicht, gut pointierte und scharfe Gedichte, und der auch durch sein witziges Buch „Die politischen Märchen“ bekannt geworden ist. Der süddeutsche Postillion, den Eduard Fuchs zirka sieben Jahre redigiert hat, ist leider eingegangen. Heinrich v. Reder, Otto Erich Hartleben, Henckell, Holz, Ernst Klaar zählten zu seinen Mitarbeitern, und eine Sammlung Aphorismen aus diesem Blatt, die anonym unter dem Titel „Gedanken eines arbeitslosen Philosophen“ erschienen ist, enthält das Beste, was in Deutschland in epigrammatischer Form über Politik gesagt worden ist. Politische Satiren gibt es auch von dem großen Stilisten Gustav Meyrink. Eine ist im März erschienen, eine ist in seinem Buch „Gustav Meyrinks Wachsfigurenkabinett“ nachzulesen. Meisterhaft, wie hier das Grausige und das Scharfe, das fast an Majestätsbeleidigung grenzt, ineinandergearbeitet sind. Bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung: gerade in der politischen Satire ist die Form gar nicht hoch genug zu schätzen. Es kommt bei vielen Ideen nur auf die Formulierung an. Es müssen sich die geprägten Schlagworte und Pointen dem Leser sofort einprägen, und man kann sogar sagen, daß das sicherste Kennzeichen für die Güte eines politischen Gedichts ist, daß man Stellen daraus sofort auswendig weiß. Ein Meister in solcher Formulierung ist Roda Roda, der wundervoll Geschichten erzählen kann, wie zum Beispiel die von dem alten Grenadier Pospischill, der vierzehn Jahre lang in derselben Stube in der Kaserne in demselben Bett geschlafen hat und nun in ein anderes Stockwerk übersiedeln soll: „Verfluchtes Zigeunerleben“, sagte er. Diese Geschichte ist „Konservativ“ überschrieben. Oder die Geschichte von dem Sozialdemokraten: Der Leutnant Franzl kommt bei der Musterung der neuen Rekruten purpurn erregt angelaufen und sagt: „Denkt’s euch, – ich hab‘ an Sozialisten.“ – „Was du nicht sagst“, antwortet alles wie aus einem Mund. – „Ja. Aber es scheint ein ganz gutartiger zu sein – ich hab‘ ihn probiert mit ’n Säbel in Hintern zu pieken – er hat nichts dergleichen getan.“ (Zu finden in „Der Schnaps, der Rauchtabak und die verfluchte Liebe“, Schuster u. Löffler, Berlin.)
Neben Ludwig Thoma ist der bedeutendste politische Satiriker Alfred Kerr, dessen Gedichte einhauen wie ein gutsitzender Säbelhieb. Da ist im Pan, einer berliner Zeitschrift, seinerzeit ein Gedicht von ihm erschienen: „Der deutsche Schwund“, und es hatte Strophen über Moabit, immer mit dem Kehrreim „wenn ihr man Geschäfte macht“:

Wenn sie sanken, wenn sie lagen,
wurden sie halbtot geschlagen;
mancher, wenn sein Krafthieb saß,
scherzte: „Hure, Saustück, Aas!“
Greise haut man über ’n Kopp;
rote Suppe … na und ob.
Leidet’s Kinder, gebt nicht acht –
wenn ihr man Geschäfte macht!

Eine Sammlung dieser famosen politischen Gedichte existiert leider nicht. Es wäre zu wünschen, daß sich dieser bedeutendste Kritiker Deutschlands einmal dazu entschließt, diese unglaublich schlagsicheren Verse gesammelt herauszugeben.
Das A und O der politischen deutschen Satire ist der Simplicissimus. Dieses herrliche Blatt ist 1896 gegründet worden und hat am Anfang ungeheures Aufsehen und bis heute eine tiefe Wirkung auf das Bürgertum ausgeübt. Die ersten fünf Jahrgänge des Blattes sind vergriffen und werden hoch bezahlt. An ihm arbeitet seit 1899 ein satirisches Genie: Ludwig Thoma. Was dieser grobe und kräftige Mensch in diesen dreizehn Jahren geleistet hat, ist ungeheuer. Er hat überhaupt erst wieder eine gute politische Satire geschaffen, vorbildlich in der Form, rücksichtslos im Inhalt. Wir haben allen Grund, diesem einzigen Künstler dankbar zu sein; er hat unendlich viel Gutes getan. Er schlägt, und die Getroffenen stehen nicht wieder auf. Er lacht, und der Blamierte kann sich in den Erdboden verkriechen. Hier eine Probe:

Die Agrarier


Das rafft sich aus des Lebens Schüssel
Und nimmt sich, ohne lang zu schauen
Und will nicht erst ästhetisch kauen
Und trägt die Seligkeit im Rüssel.
Und was euch andre sagen mögen –
So einfach ist ihr ganzes Wesen!
Sie wünschen ohne Federlesen
Allein zu sein an vollen Trögen.
Nichts von Ideen, Interessen!
Nichts in das Allgemeine schweifen,
Nichts Unbegreifliches begreifen
Nein, weiter nichts als einfach fressen.
Und steht das Futter bis zum Rande,
Beginnt’s wohl einem aufzustoßen,
So nebenbei ein Wort vom großen,
Von unserm teuren Vaterlande.

Evoë, Peter Schlemihl, Evoë!
Peter Schlemihl – das ist das Pseudonym Ludwig Thomas, und wenn man sieht, daß ein Gedicht so unterzeichnet ist, dann weiß man: hier bekommt es einer ab, aber ordentlich. Vorzüglich ist auch Dr. Owlglaß oder – wie er sich manchmal nennt: Ratatöskr -: niederträchtig und bitter, überlegt und weise. Seine beiden Gedichtsammlungen, die leider nicht alles enthalten, was er geschrieben hat, sondern nur eine Auswahl, heißen: „Der saure Apfel“ und „Gottes Blasbalg“.
Es ist eine Freude, in den alten Jahrgängen des Simplicissimus zu blättern. Immer wieder springt ein gut formulierter Witz heraus; Dinge, die längst die Aktualität verloren haben, sind wieder so lebendig wie am ersten Tag, und man freut sich immer wieder dieser kleinen tapferen Schar, die über aller Tendenz das Künstlerische nie vergessen hat (aber auch über dem Künstlerischen die Tendenz nicht).
Für die Wirkung dieser Satiren gibt es keinen besseren Beweis als die Unterdrückungsversuche der Behörde. Die Satire, die sich ganz systematisch und beinahe abgegrenzt gegen die einzelnen Ressorts der Verwaltung richtet: Justiz, Polizei, Äußeres, Inneres, Militär, Steuern, Beamte – ist der Zielpunkt vieler (danebengegangener) behördlicher Angriffe gewesen. Auf Grund der §§ 20, 21 und 23 des Preßgesetzes vom 7. Mai 1874 können periodisch erscheinende Druckschriften unter gewissen Voraussetzungen beschlagnahmt werden. Es gibt zwar keine Präventivzensur bei uns; aber die Zeitschriften müssen mit einigen Ausnahmen sofort nach Erscheinen unentgeltlich der Behörde zugestellt werden. Diese hat dann das Beschlagnahmungsrecht und, falls durch richterliche Entscheidung ein bezügliches Urteil erfolgt, auch die Befugnis (§§ 41, 42 Strafgesetzbuch), die Exemplare, die im Besitz des Druckers, Verlegers und Redakteurs sind, oder zum öffentlichen Verkauf ausliegen, zu vernichten, und die zur Herstellung benutzten Formen und Platten unbrauchbar zu machen. Das ist seinerzeit mit Nr. 31 des dritten Jahrgangs des Simplicissimus geschehen, die heute eine großen Wert repräsentiert. Der Erfolg dieser Maßnahmen ist gleich Null. Weder die widerliche Schikane, den Simplicissimus nicht auf den Bahnhöfen zu verkaufen, noch die Vorstrafen, die fast alle großen Satiriker auf sich sitzen haben, erreichten einen anderen Zweck als das fabelhaft witzige Reagieren der Betroffenen, die die armen Opfer, die als Gegenhilfe nur den Schutzmann und den Richter kannten, völlig in Grund und Boden verhöhnten.
Es ist zu wünschen, daß sich auch in unseren Blättern das Verständnis für gute Satire immer mehr entwickelt, damit man auch von ihr sagen kann, was Ludwig Thoma zum zehnten Geburtstag des toten Simplicissimushundes, des Sinnbilds dieses Blattes, gesagt hat:

Doch wie ich dieses Hundsvieh kenne,
hilft alles nichts:
das Luder beißt!


Autorenangabe: Kurt Tucholsky

Ersterscheinung: Dresdner Volkszeitung, 14. Mai 1912, Nr. 110.

Ich bin ein Mörder

„Ich, Ignaz Wrobel, liebe es, den Schaffner auf dem Omnibus zu betrügen, dann fahre ich umsonst. Ich bin jähzornig: ich habe schon zweimal meinen Bademantel zerrissen, um ihn zu strafen; Krawatten zerschnitten; ein Glas auf den Boden hingefeuert. Ich kann kein Blut sehen. Doch: ich kann Blut sehen, von Tieren. Ein merkwürdiges Gefühl – nicht angenehm; eigentlich doch angenehm, ich traue mich nicht, das zu sagen: doch angenehm. Ich habe häufig zwei Frauen geliebt, sie wußten nichts voneinander, aber ich wußte. Einmal habe ich nachts um ein Uhr eine merkwürdige Anwandlung gehabt: ich lag neben Conrad auf dem Sofa, wir sprachen von Frauen, da begann ich zu zittern, ich wollte ihn anrühren. Ich habe es nicht getan – ich hatte Angst vor der Lächerlichkeit, vor nichts anderm. Ich träume mitunter blutige Begebenheiten. Ich esse unregelmäßig – manchmal tagelang nichts – dann unmäßig. Ich bin unsolide – ich habe nur Angst vor Krankheiten, sonst spräche ich mindestens alle paar Tage ein Mädchen auf der Straße an. Ich bin feige und tückisch: ich habe meinem Vetter Tinte in seinen neuen Hut gegossen, der Mutter ein Spitzentaschentuch zerrissen – nachher, mit dem harmlosesten Gesicht: ‚Keine Ahnung. Donnerwetter … ganz zerrissen! Das ist hin!’ – Ich höre gern zu, wenn sich Menschen lieben. Auch, wenn sie sich schlagen. Ich lüge um der Lüge willen, mit Herzklopfen, ob es herauskommt. Meist kommt es nicht heraus. Ich kann ganz gut lügen. Ich hasse meinen Vater. Ich habe als Junge mit meinem Bruder zu tun gehabt und ihn hinterher furchtbar prügeln wollen, aber er war stärker. Ich lebe unregel … das sagte ich schon. Was ist das alles?“
„Nichts Besonderes. Sehen Sie sich um –: solchen kleinen oder großen Packen trägt jeder, jede, jeder mit sich herum … alle tragen ihn. Sie haben einen seelischen Buckel, dessen sie sich schämen. So nackt sich auch einer auszieht –: den zeigt er Ihnen nicht. Meist nicht einmal sich. Es ist nichts Besonderes.“
„Es ist nichts Besonderes –? Ich habe nichts zu fürchten –?“
„Es ist nichts Besonderes. Sie haben nichts zu fürchten. Wenn Sie nicht –“
„ –?“
„Wenn Sie nicht vor Gericht stehen. Wenn nicht irgendein schwerer Verdacht auf Sie fällt wegen einer Tat, die Sie bestreiten. Dann …“
„ –?“
„Nun … dann wandeln sich diese Tatsachen, die Sie mir eben erzählt haben, in etwas andres. Dann sind es nicht mehr die Anomalien, die jeder Richter, jeder Staatsanwalt, jeder Geschworene, jeder Schöffe im Keim bei sich fühlen könnte, wenn er nur ehrlich sein wollte. Dann, Bauer, ist auf einmal alles ganz anders.“
„Was … was ist dann -? Wenn es aber alle haben?“
„Im Salon des Gerichts gibt es dergleichen nicht. Da spielen sich alle ein Leben vor, das sie nicht haben; eine Moral, die sie nicht besitzen; eine Reinheit, deren kein Mensch fähig ist. Kinder in Sonntagsanzügen begreifen auf einmal nicht, wie es Schmutzflecke auf der Welt geben kann. Da sind diese kleinen Züge plötzlich etwas Neues –“
„Und was –?“
„Indizien, Herr Wrobel.“


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 6. November 1928, Nr. 45, S. 703

Wieder in: Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen. Montiert von John Heartfield. Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1929

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928, S. 664 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 297 ff.

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