1.1.2004

Brief an Marierose Fuchs (18.2.1930)

An Marierose Fuchs

Post: Weltbühne

Hindås, 18.2.1930
Sehr verehrtes Fräulein Fuchs,
ganz oder gar nicht … daher die verspätete Beantwortung. Ich hatte ein bißchen viel um die Ohren, Arbeit, Reisen pp – und ich mag grade an Sie nicht so schreiben, mit «schönen Dank für Ihre Briefe, die mich sehr interessiert haben …» daher habe ich mir diesen Brief aufgespart. Ich bitte Sie ausdrücklich, mir das nicht krumm zu nehmen – es sind keinerlei Hintergedanken dabei. Ich wäre ehrlich genug, Ihnen das zu sagen. Jetzt gehts los.
Also da liegen alle Ihre Briefe vor mir … und ich habe sie zweimal sorgfältig gelesen, einmal mit Bleistift, einmal ohne. Bevor ich im einzelnen antworte, wollen wir erst mal das Katholische besingen.
Ich unterscheide strictissime zwischen:
dem Katholicismus und der katholischen politischen Zentrumspartei.
Über die Religion kann ich nur sehr vorsichtig mitreden. Meine Kenntnisse sind nicht die eines Theologen; ich bin nicht in diesem Glauben aufgezogen … ich darf also nur tastend sprechen. Resultat: Ablehnung des Grundgehalts, mit dem ich nichts anfangen kann, dem ich nur verstandesmäßig nahe (oder weit) komme – große Bewunderung vor dem Denkgebäude, der Architektonik dieser Gehirne und des Aufbaus … Beziehungslosigkeit zum Kern.
Was die Partei angeht: Dank für ihre Haltung in den Jahren 1918–1923, 24 … vor allem in der Außenpolitik, wo die Leute sehr viel für Deutschland (und dabei legitim immer für sich) getan haben. Schärfste, unbedingte, frechste Ablehnung ihrer innerpolitischen Haltung. Wieweit die von der Religion beeinflußt ist, kann ich nicht sagen. (Tant pis pour elle.) Das geht nicht. Diese Haltung in: Ehescheidung, Prostitution, Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten; Strafvollzug, Militär … also nein, nein und nochmals nein. Es ist einfach nicht wahr, daß das dem «praktischen Leben verbunden» ist. Das ist, halten zu Gnaden, ein einziges Malheur (ich drücke mich so fein aus, mir wird noch der Mund abbrechen). Ich bin weder ein Pornograph noch ein Anhänger jener flachen «freien Liebe», die mir in ihren Grundzügen selbstverständlich ist, und deren Ausposaunung für unbefriedigte Damen beiderlei Geschlechts höchst fatal ist … Sie sehen auch aus meinem Geschreibe, daß ich noch andere Sorgen habe als diese – aber das, was die Partei treibt, ist scheußlich. Reinhaltung? Das ist so verlogen, so durch und durch unwahr und vor allem – und nur darauf kommts an:
im Effekt derart verderblich, daß ich jeden Kampf auch im Verein mit solchen, die mir nicht immer sehr sympathisch sind, mitmache. Man muß diese Mittelstandsreden geschwollener Kleinbürger lesen: «Vom religiösen Standpunkt aus …» und auf diese Weise wird dann so viel Gutes verhindert – denn es ist gut, wenn Leute über das Wesen der Syphilis aufgeklärt werden; wenn eine reinlich gebürstete Badestubenatmosphäre herrscht … ich habe schon tausendmal geschrieben: Es ist zweierlei nötig: die ökonomische Grundbedingung des Lebens zu verbessern, also ein Minimum für den Arbeitenden herauszuholen, das menschenwürdig ist – und ihm eine gewisse Gelassenheit beizubringen. («Unsittlichkeit» wird nur überwunden, wenn sie ausgelacht wird. Ich sehe mir keine unanständigen Bilder an, weil sie mich langweilen. Ich bin fertig mit ihnen. Aber ich fange nicht an, zu kollern, wenn welche da sind.)
Das und nur das ist der Grund meines Kampfes. Das Gute, das die Partei daneben leistet, verschwindet vor dem Bösen. So sehe ich das.
Dies von der Seele getippt habend, zu Ihren Briefen.
Natürlich bemühe ich mich, «Euch» zu verstehen. Das ist glaubensmäßig sehr schwer – politisch schon eher möglich. Ich glaube nicht, daß ich in achtzehn Jahren Literatur jemals den Fehler begangen hätte, das Zentrum und nun gar die Kirche mit Clichéphrasen zu bekämpfen. Ich lehne das ab. Es gibt selbstverständlich unwürdige Priester, Scheinheilige, Dummköpfe … alles, was man will. Die gibts unter den Kommunisten (zu denen ich nicht gehöre) auch; die gibts überall. Maßgebend ist der unterste, der, den die Gruppe noch grade duldet – und maßgebend ist das Durchschnittsniveau. Das scheint mir im deutschen Katholicismus nicht gar so übermäßig hoch zu liegen … aber wo täte es das!
Sie schreiben von dem Jammer, den Sie in der Caritas zu sehen bekommen. Seine Linderung ist gut – bravo. Aber wie nun, wenn einer weiter denkt? Wenn einer sich überlegt: Woran liegts, daß es soweit kommen kann und immer wieder so kommen muß? Natur? Dummes Zeug. Es ist auch «natürlich», daß die Cholera im Mittelalter gewütet hat – und heute tut sie das nicht mehr, weil man civilisatorisch gegen sie vorgegangen ist. Das ist, wie Sie richtig schreiben, nicht der Weisheit letzter Schluß; aber es ist schon sehr viel. Mit der Seele allein ist es nicht zu machen; niemals. (Mit der Badewanne allein auch nicht. Aber ein gebadeter Arbeiter ist die Grundbedingung alles andern. Badewanne als Allegorie gesetzt.) Vom Diesseitigen her kann man gar nichts lösen – Sie haben ganz recht. Aber es soll zunächst nichts «gelöst» werden – es soll nicht gehungert, nicht krepiert, nicht unnütz geblutet werden; die Leute sollen, wenn sie arbeiten, arbeiten können, sie sollen eine menschenwürdige Wohnung haben … eben jenes Minimum. Das können sie nicht haben, wenn man Güter so verteilt. Wem dient die Kirche?
Daß mit solchem Kampf für die primitiven Dinge des Lebens nichts für eine gute und hohe Sterbestunde getan ist, weiß ich selber. Aber man stirbt eine Sekunde und lebt sechzig Jahre. Diese Qual der Arbeitenden ist niedrig; wer sie deckt, ist mitschuldig. Die Lehren der Kirche in diesem Punkt sind zum mindesten höchst zweideutig; das Verhalten der Partei eindeutig.
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Sie fragen: «Wie ist das, wenn man kein Weihnachten hat?» Na, danke es geht. Es geht wirklich sehr gut. Ein schöner Vers eines Freundes besagt:
Frei – das heißt doch wohl: befreit.
Ich will mich gern auslachen lassen – aber ich vermisse nichts.
Sicherlich sind diese Unterhaltungen von Ihnen zu mir und umgekehrt voll von Mißverständnissen. Man müßte über das zu verwendende Vokabular ein Jahr diskutieren und jeden Begriff festlegen; auf den Flaschen stehen manchmal gleiche Etiketts, bei verschiedenem Inhalt. Man kann also nur mit gutem Willen sich nähern.
Und der Kernpunkt Ihrer Briefe scheint mir jene Stelle zu sein, wo Sie sagen: «In dem Augenblick, wo der Katholik nicht mehr glaubt, daß er das richtige Glas hat, durch das man die Dinge sieht …» Voilà. Eben das weiß ich seit Jahren: Stärke aus Borniertheit. «Mein Glas ist das Richtige – sonst bricht alles zusammen. Nur meines. Kein andres.» Du lieber Gott … Ich weiß, wieviel Schwäche in den Leuten ist, die alles «relativ» sehen – so ists nicht gemeint. Aber Sie müssen mir schon erlauben, an der Stabilität dieser Eselsbrücke zu zweifeln. Sie ist eine Hilfskonstruktion für den Glauben; man darf aber nicht von andern verlangen, daß sie das ernst nehmen. So ist die menschliche Seele konstruiert; so braucht sie es – anders kann sie nicht leben: als unbedingt zu glauben. Aber ich doch nicht! Aber wir andern doch nicht! Glaubt, aber legt diese schreckliche Attitüde der Überheblichkeit, der bescheiden tuenden Superiorität ab – es hilft ja doch nichts.
Daß man sich – über die Köpfe hinweg, Bruder, reich mir die Hand – dennoch verstehen kann, scheint mir ein Beweis für die Nichtausschließlichkeit des Dogmas. Es gibt eben noch etwas darüber – Eros, was weiß ich … und das bestimmt die Beziehungen zwischen den Menschen endgültig, weil eben dies – im Gegensatz zum Dogma – nicht von Menschen gemacht ist. Das ist da.
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Ich werde mich immer sehr freuen, wenn Sie mir etwas zum Lesen schicken. Bitte vermerken Sie stets, ob Sie es zurückhaben wollen; selbstverständlich schicke ich es sofort zurück. Ich habe hier noch den Sonnenschein – soll der zurückgehen? (Ich brauche ihn nicht.)
Die Schilderung des mißglückten Weihnachtsfestes für die Armen hat mich nicht überrascht; sie hat mir nur gezeigt, was Sie für eine anständige Gesinnung haben. Seien Sie überzeugt: wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich nicht gesagt: «Aha. Da sieht mans.» Solche Dinge sind doch nur regional und temporär, nicht grundsätzlich bedeutsam. Es gibt auch andere Priester, die einen höheren Begriff von ihrem Amt haben und vor allem mehr Herzenstakt.
Richtig: Die Evangelienerklärungen Sonnenscheins. Ja, also die haben mir nun gar nicht gefallen. Es liegt das daran, daß der Ungläubige die Religion gern sehr mystisch hat – dies ist bewußt klar photographiert – es erscheint dem, der das Mysterium nicht bereits in sich aufgesogen hat, als, verzeihen Sie, sehr platt. Es ist so im Zeitungsstil gehalten … daraus kann ich mir gar nichts nehmen. Für den Tod, aus dem ja alles dieses kommt, nun schon gar nichts.
‹Hochland› läse ich gern von Zeit zu Zeit. Ich kenne das Blatt.
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Was das Persönliche angeht: ich bin gar nicht über Berlin gefahren, sondern über die einzige deutsche Stadt, in der ich leben könnte: über Hamburg. Das ist bezaubernd. Und nun sitze ich hier im blauen Schnee und denke nach, warum mir wohl so wenig einfällt …
Und Sie –? Alles, was Sie über sich geschrieben haben, hat mich sehr ergriffen. In einem der ersten Briefe stand: «Ich muß einmal zu einer Ärztin gehen, wegen der Erschöpfung … sie hat gesagt: viel Wärme und Freude.» Ich bin einmal mit einer Ärztin verheiratet gewesen (einer ganz besonders hochstehenden Frau), und ich habe daher die Gewohnheit erworben, über diese Dinge klar, kalt und ohne Herzklopfen zu reden. Als ich diese Stelle las, übersetzte ich mir das Rezept. Dann las ich in einem der andern Briefe Ihre Geschichte.
Ja … Also zunächst: mein Herr Berufskollege hat da aber schrecklich versagt. Wie kann man so empfindlich sein? Was ist das für eine Torheit, die Beziehung zu einem Menschen von einer Buchkritik abhängig zu machen? Nun, er kann sich nicht mehr wehren …
Ich glaube nicht, daß Sie genügend von Frauen wissen, um selber zu empfinden, ein wie starker Zauber von Ihrer fraulichen Persönlichkeit ausgeht. Ich lebe nicht in Berlin; ich komme vorläufig nicht nach Deutschland – dies ist kein Liebesbrief. Ich sage das, wie es ist. Also Sie wissen das nicht – gut. Ich bin aber nicht jung genug, um Ihnen nun den üblichen Rat zu geben. Das wäre nicht richtig gehandelt. Sie zerbrächen daran. Wie ich aus Ihrem Schweigen in der Kantstraße gehört habe (es war wie Musik) – geben Sie sich dann ganz; Sie können, wie Sie einmal sind, kaum verstehen, daß ein Mann, daß der Mann im Januar wirklich echt und herzlich liebt und im Juni gelangweilt am Telephon sagt: «Ich habe keine Zeit …» die Natur hat Sie nun einmal so gemacht. Ich weiß bis in die letzte Fingerspitze, was Sie meinen: Zusammensein und Zusammenerleben am Tage ist viel, viel wichtiger für Sie als der Rest. Das ist klar. Aber wie Ihnen aus der Einsamkeit helfen? Sie fliehen oft in die Arbeit, und – verzeihen Sie mir – vielleicht auch manchmal in die Religion. Man hat Ihnen gesagt, wie einmalig, wie unwiderruflich das alles ist – Sie sind davon überzeugt, ich will Sie nicht mit einer andern Meinung beunruhigen. Ich wünsche Ihnen nur, daß Sie einmal auf einen Mann stoßen, der Ihnen das gibt, was Sie so bitternötig brauchen: Zweisamkeit auf die Dauer. Denn es gibt ja so etwas wie Glück wohl nur auf den äußersten Polen: in einer völligen gläubigen Ruhe im Religiösen oder, auf der andern Seite: in einer fest gegründeten Gelassenheit, die ein Nachterlebnis ästhetisch und sauber gestaltet und im übrigen es für das nimmt, was es dort ist. (Nicht cynisch.)
Geht einer aus einem Lager in das andere, pflegt das ein Malheur zu geben. Tun Sies nicht.
Resumé: quälen Sie sich nicht zu sehr. Es gibt doch, wie Sie mir immer wieder richtig geschrieben haben, einen fröhlichen Katholicismus – einen lebensbejahenden, einen rheinischen, zum Beispiel – da sollten Sie sich etwas holen: Leben, Arbeit, einen Mann, einen Freund, eine Freundin … da ist es.
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Ja, das wärs. Dank für das Anerbieten des Briefwechsels mit Claudel. Mit Rivière habe ich in Paris korrespondiert; ich habe ihn nie gesehen. Mir ist das sehr fremd, was da gemacht wird – mit den Plackereien der französischen Katholiken kann ich gar nichts anfangen. Und da es bei einem großen Amerikaner einmal heißt:
Allem Meinigen sollst du ein Deiniges gegenübersetzen –
so gehe ich aus meinem Bau nicht gern heraus: Wie ich überhaupt jeder Religion gegenüber empfinde: Mit genau derselben Stärke, mit genau derselben Berechtigung, mit der Ihr lebt – lebe ich auch. Ich habe mit Euch zu rechnen? Ihr habt mit mir zu rechnen.
Ich freue mich immer sehr, von Ihnen zu hören. Eine Rücksicht, die ich nicht erklären kann, doch: nicht erklären möchte – hat mich abgehalten, unsere Begegnung in Berlin in Verse zu setzen – man hätte das gekonnt. Aber es hätte Sie an einer entscheidenden Stelle verletzt, obgleich es gar nicht gegen Sie ging; es wäre ein Vulkanausbruch geworden … man soll das nicht, wenn die Objekte es kontrollieren können.
Man sollte Sie streicheln.
Mit den herzlichsten Grüßen
wie immer Ihr
Tucholsky.
Ihre Briefe sind literarisch viel besser als Ihre gedruckten Arbeiten. (Das können Sie aber bewußt nicht nachahmen – dann würde es unwahr werden.) Der Ton der Artikel ist mir zu … bonbonrosa. Man soll empfindend sein, nicht empfindsam. Entschuldigen Sie das krasse Urteil – ich kann in der Literatur nicht lügen. Sie erreichten auch mit kalter, gebosselter Härte viel mehr.

Ratschläge für einen schlechten Redner

Fang nie mit dem Anfang an, sondern immer drei Meilen vor dem Anfang! Etwa so:
»Meine Damen und meine Herren! Bevor ich zum Thema des heutigen Abends komme, lassen Sie mich Ihnen kurz …«
Hier hast du schon so ziemlich alles, was einen schönen Anfang ausmacht: eine steife Anrede; der Anfang vor dem Anfang; die Ankündigung, daß und was du zu sprechen beabsichtigst, und das Wörtchen kurz. So gewinnst du im Nu die Herzen und die Ohren der Zuhörer.
Denn das hat der Zuhörer gern: daß er deine Rede wie ein schweres Schulpensum aufbekommt; daß du mit dem drohst, was du sagen wirst, sagst und schon gesagt hast. Immer schön umständlich.
Sprich nicht frei – das macht einen so unruhigen Eindruck. Am besten ist es: du liest deine Rede ab. Das ist sicher, zuverlässig, auch freut es jedermann, wenn der lesende Redner nach jedem viertel Satz mißtrauisch hochblickt, ob auch noch alle da sind.
Wenn du gar nicht hören kannst, was man dir so freundlich rät, und du willst durchaus und durchum frei sprechen … du Laie! Du lächerlicher Cicero! Nimm dir doch ein Beispiel an unsern professionellen Rednern, an den Reichstagsabgeordneten – hast du die schon mal frei sprechen hören? Die schreiben sich sicherlich zu Hause auf, wann sie »Hört! hört!« rufen … ja, also wenn du denn frei sprechen mußt:
Sprich, wie du schreibst. Und ich weiß, wie du schreibst.
Sprich mit langen, langen Sätzen – solchen, bei denen du, der du dich zu Hause, wo du ja die Ruhe, deren du so sehr benötigst, deiner Kinder ungeachtet, hast, vorbereitest, genau weißt, wie das Ende ist, die Nebensätze schön ineinandergeschachtelt, so daß der Hörer, ungeduldig auf seinem Sitz hin und her träumend, sich in einem Kolleg wähnend, in dem er früher so gern geschlummert hat, auf das Ende solcher Periode wartet … nun, ich habe dir eben ein Beispiel gegeben. So mußt du sprechen.
Fang immer bei den alten Römern an und gib stets, wovon du auch sprichst, die geschichtlichen Hintergründe der Sache. Das ist nicht nur deutsch – das tun alle Brillenmenschen. Ich habe einmal in der Sorbonne einen chinesischen Studenten sprechen hören, der sprach glatt und gut französisch, aber er begann zu allgemeiner Freude so: »Lassen Sie mich Ihnen in aller Kürze die Entwicklungsgeschichte meiner chinesischen Heimat seit dem Jahre 2000 vor Christi Geburt … « Er blickte ganz erstaunt auf, weil die Leute so lachten.
So mußt du das auch machen. Du hast ganz recht: man versteht es ja sonst nicht, wer kann denn das alles verstehen, ohne die geschichtlichen Hintergründe … sehr richtig! Die Leute sind doch nicht in deinen Vortrag gekommen, um lebendiges Leben zu hören, sondern das, was sie auch in den Büchern nachschlagen können … sehr richtig! Immer gib ihm Historie, immer gib ihm.
Kümmere dich nicht darum, ob die Wellen, die von dir ins Publikum laufen, auch zurückkommen – das sind Kinkerlitzchen. Sprich unbekümmert um die Wirkung, um die Leute, um die Luft im Saale; immer sprich, mein Guter. Gott wird es dir lohnen.
Du mußt alles in die Nebensätze legen. Sag nie: »Die Steuern sind zu hoch.« Das ist zu einfach. Sag: »Ich möchte zu dem, was ich soeben gesagt habe, noch kurz bemerken, daß mir die Steuern bei weitem …« So heißt das.
Trink den Leuten ab und zu ein Glas Wasser vor – man sieht das gern.
Wenn du einen Witz machst, lach vorher, damit man weiß, wo die Pointe ist.
Eine Rede ist, wie könnte es anders sein, ein Monolog. Weil doch nur einer spricht. Du brauchst auch nach vierzehn Jahren öffentlicher Rednerei noch nicht zu wissen, daß eine Rede nicht nur ein Dialog, sondern ein Orchesterstück ist: eine stumme Masse spricht nämlich ununterbrochen mit. Und das mußt du hören. Nein, das brauchst du nicht zu hören. Sprich nur, lies nur, donnere nur, geschichtele nur.
Zu dem, was ich soeben über die Technik der Rede gesagt habe, möchte ich noch kurz bemerken, daß viel Statistik eine Rede immer sehr hebt. Das beruhigt ungemein, und da jeder imstande ist, zehn verschiedene Zahlen mühelos zu behalten, so macht das viel Spaß.
Kündige den Schluß deiner Rede lange vorher an, damit die Hörer vor Freude nicht einen Schlaganfall bekommen, (Paul Lindau hat einmal einen dieser gefürchteten Hochzeitstoaste so angefangen: »Ich komme zum Schluß.«) Kündige den Schluß an, und dann beginne deine Rede von vorn und rede noch eine halbe Stunde. Dies kann man mehrere Male wiederholen.
Du mußt dir nicht nur eine Disposition machen, du mußt sie den Leuten auch vortragen – das würzt die Rede.
Sprich nie unter anderthalb Stunden, sonst lohnt es gar nicht erst anzufangen.
Wenn einer spricht, müssen die andern zuhören – das ist deine Gelegenheit! Mißbrauche sie.
Ratschläge für einen guten Redner
Hauptsätze, Hauptsätze. Hauptsätze.
Klare Disposition im Kopf – möglichst wenig auf dem Papier.
Tatsachen, oder Appell an das Gefühl. Schleuder oder Harfe. Ein Redner sei kein Lexikon. Das haben die Leute zu Hause.
Der Ton einer einzelnen Sprechstimme ermüdet; sprich nie länger als vierzig Minuten. Suche keine Effekte zu erzielen, die nicht in deinem Wesen liegen. Ein Podium ist eine unbarmherzige Sache – da steht der Mensch nackter als im Sonnenbad.
Merk Otto Brahms Spruch: Wat jestrichen is, kann nich durchfalln.

Autorenangabe: Peter Panter

Ersterscheinung: Vossische Zeitung, 16. November 1930, Nr. 542

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Berlin 1931

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff.,

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 290 ff.

Die Herren Wirtschaftsführer

Stets hat die Menschheit ihre Helden gehabt: Priester oder Ritter, Gelehrte oder Staatsmänner. Bis zum 14. Juli 1931 waren es für Deutschland die Wirtschaftsführer, also Kaufleute.

   Die Kaufleute sind Exponenten des Erwerbsinnes; sie haben immer ihre Rolle gespielt, doch wohl noch nie so eine große wie heute. Weil das, was sie in Händen halten, das wichtigste geworden ist, werden sie in einer Weise überschätzt, die lächerlich wäre, wenn sie nicht so tragische Folgen hätte. Die deutsche Welt erschauert, sie braucht Götzen, und was für welche hat sie sich da ausgesucht –!

   Man sollte meinen, daß der gesunde Menschenverstand wenigstens eines sehen könnte: den Mißerfolg. Aber damit ist es nichts. Niemand von denen, die diese Wirtschaftsführer bewundern, behielte auch nur einen Tag lang einen Chauffeur, der ihm die Karre mit Frau und Kind umgeworfen hätte, auch dann nicht, wenn dem Chauffeur die Schuld nicht nachzuweisen wäre. Er kündigt, denn solchen Chauffeur will er nicht. Aber solche Wirtschaftsführer, die will er.

   Der unbeirrbare Stumpfsinn, mit dem diese Kapitalisten ihre törichte Geldpolitik fortsetzen, immer weiter, immer weiter, bis zur Ausblutung ihrer Werke und ihrer Kunden, ist bewundernswert. Alles, was sie seit etwa zwanzig Jahren treiben, ist von zwei fixen und absurden Ideen beherrscht: Druck auf die Arbeiter und Export.

   Für diese Sorte sind Arbeiter und Angestellte, die sie heute mit einem euphemistischen und kostenlosen Schmeichelwort gern ›Mitarbeiter‹ zu titulieren pflegen, die natürlichen Feinde. Auf sie mit Gebrüll! Drücken, drücken: die Löhne, die Sozialversicherung, das Selbstbewußtsein – drücken, drücken! Und dabei merken diese Dummköpfe nicht, was sie da zerstören. Sie zerstören sich den gesamten innern Absatzmarkt.

   Sie scheinen ihn nicht zu wollen – dafür haben sie dann den Export. Was dieses Wort in den Köpfen der Kaufleute angerichtet hat, ist gar nicht zu sagen. Ihre fixe Idee hindert sie nicht, ihre Waren auch im Inland weiterhin anzupreisen; ihre Inserate wirken wie Hohn. Wer soll sich denn das noch kaufen, was sie da herstellen? Ihre Angestellten, denen sie zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel geben, wenn sie sie nicht überhaupt auf die Straße setzen? Die kommen als Abnehmer kaum noch in Frage. Aber jene protzen noch: daß sie deutsche Werke seien, und daß sie deutsche Kaufleute und deutsche Ingenieure beschäftigten – und wozu das? „Um den Weltmarkt zu erobern!“

   So schlau wie die deutschen Kaufleute sind ihre Kollegen jenseits der Grenzen noch alle Tage. Es setzt also überall jener blödsinnige Kampf ein, der darin besteht, einen Gegner niederzuknüppeln, der bei vernünftigem Wirtschaftssystem ein Bundesgenosse sein könnte. Die Engländer preisen rein englische Waren an, die Amerikaner rein amerikanische, und das Wirtschaftsinteresse tritt als Patriotismus verkleidet auf. Eine schäbige Verkleidung, ein jämmerlicher Maskenball.

   Schuld -? Vielleicht gehört eine große geistige Überlegenheit dazu, aus diesem traurigen Trott des Geschäftes herauszukommen und auch einmal ein bißchen weiterzublicken als grade bis zum nächsten Ultimo. Aber das können sie nicht. Sie machen weiter, wie sie es bisher getrieben haben. Also so:

   Niederknüpplung des Inlandskunden; Spekulation auf einen Export, der heute nicht mehr so durchzuführen ist wie sich die Herren das träumen; Überlastung der gesamten Industrie durch ein gradezu formidables Schreibwerk, das hinter dem Leerlauf der Staatsbürokratie um nichts zurücksteht. Was da an Pressechefs, Syndicis, Abteilungsleitern, Bürofritzen herumsitzt und Papierbogen vollschreibt, ohne auch nur das leiseste zu produzieren, das belastet uns alle. Aufgeblasen der Verwaltungsapparat – man sehe sich etwa das Verwaltungsgebäude der IG-Farben in Frankfurt am Main an: das Ding sieht aus wie eine Zwingburg des Kapitalismus, weit ins Land dräuend. Früher haben die Ritter die Pfeffersäcke ausgeplündert; heute hat sich das gewandelt.

   Wie immer in ungesunden Zeiten ist der Kredit in einer gradezu sinnlosen Weise überspannt. Das Wort ›Wucher‹ ist ganz unmodern geworden, weil der Begriff niemand mehr schreckt, er erscheint normal.

   Nun haben aber Kartelle und kurzfristige Bankkredite die Unternehmungslust und die sogenannte ›freie Wirtschaft‹ völlig getötet – es gibt sie gar nicht mehr. Fast jeder Unternehmer und besonders der kleinere ist nichts als der Verwalter von Bankschulden; gehts gut, dann trägt er den Ungeheuern Zins ab, und gehts schief, dann legen die Banken ihre schwere Hand auf ihn, und es ist wie in Monte Carlo: die Bank verliert nicht. Und wenn sie wirklich einmal verliert, springt der Steuerzahler ein: also in der Hauptsache wieder Arbeiter und Angestellte.

   ›Das Werk‹, dieser Götze, hat sich selbständig gemacht, und stöhnend verrichten die Sklaven ihr Werk, nicht mehr Sklaven eines Herrn, sondern Sklaven ihrer selbst Auch der Unternehmer ist längst zu einem Angestellten geworden, nur kalkuliert er für sich ein derartiges Gehalt heraus, daß er wenig riskiert. Die fortgeschrittenen Kommunisten tun recht daran, den Unternehmer nicht mehr damit zu bekämpfen, daß sie ihm Sekt und Austern vorwerfen, dergleichen verliert von einer gewissen Vermögensgrenze ab seine Bedeutung. Aber daß diese Kerle die Verteilung von Ware und Verdienst ungesund aufbauen, daß sie ihre Bilanzen vernebeln und den Angehörigen der wirtschaftlich herrschenden Klassen so viel Geld zuschieben, daß den andern nicht mehr viel bleibt: das und nur das ist Landesverrat.

   Ohnmächtig sieht der Staat dem zu. Was kann er machen? Nun, er kann zum Beispiel eine Verordnung erlassen, wonach das zu verkaufende Brot sein Gewicht auf der Kruste eingeprägt erhalten muß, und das ist ein großer Fortschritt. Seine Gesetze berühren die Wirtschaft gar nicht, weil sie ihm ebenbürtig an Macht, weil sie ihm überlegen ist. Sie pariert jeden Schlag mit den gleichen Mitteln: mit denen einer ausgekochten Formaljurisprudenz, mit einer dem Staat überlegenen Bürokratie, mit Geduld. Schiebt ihm aber alle Lasten zu, ohne ihm etwa das Erbrecht zu konzedieren. Er hat zu sorgen. Wovon? Das ist seine Sache.

   Also unsre Sache. Für wen wird gelitten? Für wen gehungert? Für wen auf Bänken gepennt, während die Banken verdienen?

   Für diese da. Es ist nicht so, daß sie sich mästen, das ist ein Wort für Volksversammlungen. Sie mästen den Götzen, sie sind selber nicht sehr glücklich dabei, sie führen ein Leben voller Angst, es ist ein Kapitalismus des schlechten Gewissens. Sie schwindeln sich vom Heute in das Morgen hinein, über viele Kinderleichen, über ausgemergelte Arbeitslose – aber das Werk, das Werk ist gerettet.

   Selbst die ›Frankfurter Zeitung‹, die sich in einer gradezu rührenden Weise bemüht, diesen störrischen Eseln des Kapitalismus gut zuzureden, wobei jene wild hinten ausschlagen, gibt zu, daß „nach den Erhebungen, die das Institut für Konjunkturforschung und eine deutsche Großbank unabhängig voneinander durchgeführt haben, noch entbehrliche Läger im Werte von mehreren Milliarden vorhanden sind“ – man male sich das angesichts dieser Not aus! Aber die Lager bleiben. Und das Werk ist gerettet.

   Wo steht geschrieben, daß es gerettet werden muß? Warum ist die Menschheit nicht stärker als dieser Popanz? Weil sie den Respekt in den Knochen hat. Weil sie gläubig ist. Weil man sie es so gelehrt hat. Und nun glaubt sie.

   Noch ist die andre Seite stärker als man glaubt. Zu warnen sind alle jene, die die Arbeiter sinnlos in die Maschinengewehre und in die weitgeöffneten Arme der Richter hineintreiben. Drei Jahre Zuchthaus – zwei Jahre Gefängnis – vier Jahre Zuchthaus … das prasselt nur so. Noch sind jene stärker. Die Arbeiterparteien sollten ihre Kräfte nicht in einem zunächst aussichtslosen Kleinkrieg verpulvern, solche Opfer haben einen ideologischen Wert, ihr praktischer ist noch recht klein. Drüben ist viel Macht.

   Also muß gekämpft werden. Aber so wenig ein geschulter Proletarier individuelle Attentate auf Bankdirektoren gutheißen kann, so wenig sind Verzweiflungsausbrüche kleinerer oder größerer Gruppen allein geeignet, ein System zu stürzen, das jede, aber auch jede Berechtigung verloren hat, Rußland zu kritisieren. Wer so versagt, hat zu schweigen.

   Doch schweigen sie nicht. Sie haben die Dreistigkeit, unter diesen Verhältnissen noch ›Vertrauen‹ zu fordern, dieselben Männer, die das Unglück verschuldet haben. Und keiner tritt ab, nur die Gruppierung ändert sich ein wenig. Das verdient die schärfste Bekämpfung.

   Kampf, ja. Doch unterschätze man den Gegner nicht, sondern man werte ihn als das, was er, immer noch, ist: ein übernotierter Wert, der die Hausse erstrebt und die Baisse in sich fühlt. Sein Niedergang wird kommen. Das kann, wie die gescheiten und weitblickenden unter den Kaufleuten wissen, auch anders vor sich gehen als auf dem Wege einer Revolution. Bleiben die Wirtschaftsführer bei dieser ihrer Wirtschaft, dann ist ihnen die verdiente Revolution sicher.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 18.8.1931, Nr. 33, S. 254.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1931

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 9, S. 260 ff.

Die Begründung

Vor mir liegt im Namen des Volkes die Begründung zu dem Urteilsspruch gegen George Grosz, angeklagt wegen Gotteslästerung im Jahre 1928 nach Christi Geburt. Landgerichtsdirektor Tölke als Vorsitzender, Landgerichtsrat Krüger als zweiter Richter, zwei Schöffen. Aus den Gründen:

Nummer 10. Ein am Kreuz hängender, äußerst abgemagerter Christus ist in der allgemein gebräuchlichen Darstellung abgebildet, jedoch mit folgenden Besonderheiten: Das Gesicht ist durch eine Gasmaske verdeckt. An den Füßen befinden sich Soldatenstiefel, durch die die Kreuzesnägel getrieben sind. Die linke Hand ist nicht ans Kreuz genagelt, sondern hält am erhobenen Unterarm ein Kreuz.
Unterschrift: Maul halten und weiterdienen.
Wenn nach alledem wegen der Bilder 2 und 9 eine Schuldfeststellung nicht getroffen werden konnte, so entbehren diese Zeichnungen doch nicht der Bedeutung für die Frage, wie weit in dem dritten der beanstandeten Bilder, nämlich der Christusdarstellung am Kreuz mit Gasmaske und Soldatenstiefeln, der Tatbestand des § 166 StGB. erfüllt ist. Die Anklage erblickt in dieser Abbildung einen Angriff auf eine Einrichtung der christlichen Kirche, nämlich die Christusverehrung. Daß diese als Einrichtung im Sinne des § 166 StGB. zu werten ist, unterliegt keinem Bedenken (vgl. Olshausen a. a. O. § 166 Anm. 12 RGE. 2, 429). Das Gericht erachtet aber auch als erwiesen, daß hier das Tatbestandsmerkmal einer Beschimpfung durch den Angeklagten Grosz vollendet ist. Das ergibt gerade der Zusammenhang mit den beiden Bildern 2 und 9 und die gesamte Tendenz der als ›Hintergrund‹ betitelten Blätter. Denn richtete sich in den beiden vorgenannten Zeichnungen die Satire des Künstlers gegen einzelne Diener der christlichen Kirche und gegen den Gottesbegriff des ›heiligen Geistes‹, so ist hier in Bild 10 unverkennbar Christus selbst als Träger und Symbol jenes christlichen Glaubens, der bereits in den Zeichnungen 2 und 9 ironisiert wurde, das Angriffsobjekt. Bei der Auslegung des in diesem Bilde und seiner Unterschrift verkörperten Gedankens hat das Gericht nach freier Überzeugung zu entscheiden. Es ist dabei als allgemein gültige Auslegungsregel auch der Grundsatz zu erachten, daß, soweit der Wortlaut einer Gedankenäußerung nicht durchaus eindeutig ist, der Sinn der Äußerung aus den Nebenumständen, insbesondere aus dem Zusammenhang, aus dem Zwecke und dergleichen zu erforschen ist (vgl. dazu die allgemeinen Ausführungen des Urteils des RG. vom 11. 1. 26, abgedr. in der ›Jur. Wochenschrift‹ 1928, S. 1225 ff.). Bei Anwendung dieses Grundsatzes sieht sich das Gericht nicht in der Lage, der Auslegung zu folgen, die der Angeklagte Grosz seiner Darstellung gegeben hat. Nach der ganzen Anlage der Zeichnung müssen die Worte der Unterschrift ›Maul halten und weiterdienen‹ nicht als an Christus gerichtet, sondern als von ihm gesprochen aufgefaßt werden. Die starke Wirkung des Bildes beruht zum großen Teil darauf, daß die Christusfigur allein abgebildet ist, ohne jedes Beiwerk von Personen und sonstigen Requisiten, mit denen der Angeklagte auf den beiden andern Bildern verhältnismäßig verschwenderisch umgeht. Neben der Gasmaske und den Soldatenstiefeln lenkt das erhobene Kreuz in der linken Hand des gekreuzigten Christus die Blicke auf sich, jenes Kreuz als Symbol des Glaubens, das in Bild 2 auf der Nase des Priesters balanciert und im Bild 9 ms Wanken geraten ist. Wären auf dem Bilde noch andre Personen gezeichnet oder wären die Gasmaske und die Soldatenstiefel die einzigen Besonderheiten, so würde die Behauptung des Angeklagten, er habe die ans Kreuz geschlagene Menschheit darstellen wollen, an die jene die Unterschrift bildenden Worte gerichtet wurden, noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben. Aber gerade die besonders ins Auge fallende Abweichung von der sonstigen Darstellung des gekreuzigten Christus, nämlich das stark und sichtbar gezeichnete Kreuz in der linken Hand, gibt dem Bild die Wirkung, die es nach der Ansicht des Gerichts auf den Beschauer haben muß: Christus, für seine Lehre ans Kreuz geschlagen, hat für die Menschheit im Kriege, mit dessen Symbolen Gasmaske und Kommißstiefel man ihn bekleidet hat, trotz seines eignen Opfers auch nur den Trost und die Worte ›Maul halten und weiterdienen‹. Das Kreuz in seiner Hand gibt der ganzen Darstellung erst das typische; es wirkt in Verbindung mit den Worten der Unterschrift wie ein Ausrufungszeichen, Christus ruft diese Worte im Zeichen des Kreuzes der Menschheit zu. Es erscheint auch unverständlich, welchen Sinn diese Worte, wenn sie an den sterbenden Christus gerichtet würden, haben sollten. Gewiß verkörpert Christus, wie dem Angeklagten geglaubt werden mag, die ans Kreuz geschlagene Unschuld, die allerdings bei Grosz nicht viel Abweichendes von den Begriffen der Beschränktheit oder der Dummheit hat.

Die Worte »Maul halten und weiterdienen« werden selbstverständlich nicht von dem am Kreuze hängenden Christus gesprochen – wenn überhaupt diese oberlehrerhafte Feststellung von irgendwelchem Werte ist. Denn die Unterschriftsworte brauchen mit Notwendigkeit von gar niemandem gesprochen zu sein – der Zeichner gibt mit diesem Satz die Melodie des Blattes an, ohne daß ein Sprecher vorhanden sein muß. Ist also schon die Suche nach dem Sprechenden jeder gescheiten Kunstdeutung zuwiderlaufend, so ist, nimmt man überhaupt einen Sprechenden an, Christus sicherlich nicht derjenige, der spricht.
Dem steht entgegen, daß er eine Gasmaske trägt, so daß also die Worte »Maul halten und weiterdienen« nur als dumpfes Gemurmel, nicht aber als artikulierte Wörter an das Ohr der Außenwelt zu dringen vermöchten, eine Überlegung, die vom seligen Nicolai stammen könnte, den überrationalistischen juristischen Kunstbetrachtern aber wohl recht sein wird. Es ist aber auch dem Sinn des Bildes widersprechend, wenn angenommen wird, Christus spräche. Die gebeugte, gefesselte, mit einer Gasmaske geknebelte Gestalt ist wohl zu allerletzt berufen, einen Befehl zu erteilen – ihre ganze Haltung drückt genau das Gegenteil aus.
Wenn das Gericht hinzufügt: »Es erscheint unverständlich, welchen Sinn diese Worte, wenn sie an den sterbenden Christus gerichtet würden, haben sollten«, so begeht es einen doppelten Denkfehler. Es wird damit zunächst unterstellt, als müßten die Worte entweder von Christus gesprochen oder an ihn gerichtet sein, was falsch ist. Die Worte werden von niemand gesprochen und sind leiblich an niemand gerichtet – kein Mund und keine Ohren sind zu konstruieren. Es ist aber auch falsch, daß die Worte, an Christus gerichtet, keinen Sinn ergäben.
Der Sinn, den sie haben, ergibt sich aus der Tendenz der Bildermappe.
Die Worte sind vom Zeichner hinzugefügt, sie werden über den Christus hinweggesprochen, und zwar zur Menschheit, die in den Krieg getrieben wird – unter dem Zeichen des Kreuzes. Der Staatschristus, dem auf dem Bild nur noch eine Fahne fehlt, um komplett zu sein, ist aufgerichtet, um die Herde der Gläubigen zur Räson, nämlich zur Staatsräson zu bringen – in seinem Namen wird befohlen: »Maul halten und weiterdienen«, und er fällt selbst unter den Befehl. Der Kriegs-Christus, dem sie auf einem französischen Schlachtfeld das Kreuz weggeschossen haben und der nun, flehend, mit erhobenen Armen und mit wenig Dank an preußische Richter, die ihn schützen, über das Gemorde hinwegschrie – dieser Christus ist im Sinne des § 166 von der eignen Kirche geschändet worden.
Das und nur das hat George Grosz gezeichnet und empfunden.
Die »ans Kreuz geschlagene Unschuld, die nicht viel Abweichendes von den Begriffen der Beschränktheit oder der Dummheit hat« – das ist der Staatsbürger, der in den beiderseitigen Kirchen diesseits und jenseits der Grenzen für Mord betete – und man wird das fatale Gefühl nicht los, als sei es den Richtern viel mehr auf die Erhaltung dieser rührend dienenden Unschuld als auf den Schutz einer Kirche angekommen, die sich etwas schämen sollte.
Denn eine Landeskirche, die im Kriege so jämmerlich versagt hat, die die Jugend eines ganzen Landes in das Schlachten hineinsegnete; eine Kirche, die kein Wort gegen den Staatsmord fand, sondern ihn im Gegenteil noch propagierte: eine solche Institution hat allen Anlaß, still zu schweigen, wenn aufgezeigt werden soll, wer hier schändet.
Die Begründung der Richter ist unrichtig, ihr Urteilsspruch beruht auf einem Denkfehler. Sie haben das Bild Nummer 10 falsch gedeutet; und es ist nicht etwa ›Auffassungssache‹, sondern diese richterliche Deutung entbehrt jeden Sinnes. Sie arbeiten nicht einmal in ihrer eignen Domäne sauber, wie es sich gehört.
Die Prätention der Kirche aber, die sich wieder heftig rührt, um durch richterlichen Schutz eine rechtens in die Binsen gegangene Autorität schützen zu lassen, ist fehl am Ort. Sie hat ihr Wort Gottes verraten. Uns kann das gleich sein. Sie ist aber am wenigsten von allen legitimiert, die Heiligkeit ihrer Lehre zu verteidigen, an die kein gesunder, zum Soldatendienst gepreßter Mensch glauben kann, wenn sie ihm nicht in der Jugend das Gehirn verbogen haben. Wir wollen auch keinem der Beteiligten den Gefallen tun, an seine sachlichen Absichten zu glauben.
Die Kirche, die aus den Inquisitionsprozessen die ihr lieb gewordene Übung hat, den armen Sünder den staatlichen Henkern zuzustoßen und selbst im Hintergrund aufdringlich diskret zu beten, wirft die ihr unbequemen politischen Gegner den Richtern vor; die Justiz stürzt sich mit Wonne auf Leute, die sie sowieso als ›Aufrührer‹ empfindet. Die Kirche hat nach ihren völlig negativen Leistungen im Kriege kein Recht:

  • uns ihre Feiertage aufzuzwingen;
  • unsern Kindern ihre Lehre aufzuzwingen;
  • sich mit Glockengeläute und Gesetzgebung eine
  • Beachtung zu verschaffen, die ihr nicht zukommt;
  • sich in allen Bildungsfragen aufzudrängen und in alle Kinderhorte einzudrängen, denn sie repräsentiert nicht das einzige mögliche Weltbild, sondern nur eines, und das noch sehr unvollkommen. Sie versuche zu überzeugen – sie siege im Zeichen des Kreuzes, nicht im Zeichen des Landgerichtsdirektors. Sie schweige.

Wenn heute in allen Ländern mit Konkordaten und politischen Druckmitteln die katholische Kirche eine gradezu unheilvolle Rolle spielt, so ist das die Schuld ihrer Gegner. Die sind schwach; die haben ein schlechtes Gewissen und getrauen sich nie, klar und laut zuzugeben, daß sie vom Fegefeuer nichts mehr wissen wollen, sie demonstrieren nur leise gegen die Kirchensteuer – und wenn die Germanen, die so viel mit den Juden zu kakeln haben, wirklich wüßten, daß der Vatikan sie so nebenbei, mit der linken, rot behandschuhten Hand, regiert: sie wüßten, wo ihr Feind steht. Aber das haben sie nie gewußt.
Gegen eine solche unzureichende Begründung aber ist zu sagen, daß die Kirche unsre Gefühle verletzt; daß die aggressive Politik der Katholiken in Bayern und anderswo geeignet ist, unser Empfinden zu verletzen. Dieser Schutz der Kirche ist ein Angriff auf uns. Daß Grosz inzwischen einmal freigesprochen wurde, ändert nichts an diesem Hieb gegen die so überschätzte Kirche.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 19. März 1929, Nr. 12, S. 435.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1929, S. 117 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 7, S. 56 ff.

Journalistischer Nachwuchs

Woran es in Deutschland so merkwürdig mangelt, das ist die Möglichkeit für einen jungen Mann, in der Praxis und an der Praxis zu lernen: also arbeitend von einem Erfahrenen belehrt zu werden. Das Ideal aller Berufe ist die ‚Hochschule’ – irgend etwas der veralteten Universitätsform Nachgeäfftes, mit Professoren, Studenten, Studentenverbindungen und einem Examen. Dieses Examen soll dem Kandidaten die ‚Berechtigung’ geben, seinen Beruf auszuüben; er versteht das meist falsch und leitet ein Recht daraus her, wo doch nur eine theoretische Vorbereitungszeit gewesen ist. Am liebsten möchten sie eine ‚Hochschule für widernatürliche Unzucht sowie deren Abarten’ haben.
Wie sieht, zum Beispiel, der Nachwuchs im Journalismus aus –?
Kümmerlich. Und das kann gar nicht anders sein.

Wer jemals einlaufende Post auf einer Redaktion gelesen hat, der weiß, wie so ein Einlauf aussieht. Wenig Hoffnungen, viel Entwürfe – sehr viel Dilettanten, sehr viel Männer und Frauen, „die gar nicht einsehen, warum sie sich in dieser schweren Zeit nicht etwas nebenbei verdienen sollten“, die aber niemals auf den Gedanken kämen, sich etwa nachmittags zwei Stunden lang als Ingenieure einem Elektrizitätswerk zur Verfügung zu stellen. Schreiben kann jeder. Wie wird man Journalist –?
Man wird Journalist durch innere Berufung, weil man es werden muß. Und man kann es werden: durch Ermunterung. Die bleibt meist aus.
Ob das in andern Berufen auch so ist, weiß ich nicht: der deutsche Zeitungsmann ist ein sehr ungeduldiger Mensch. Das mag der Beruf so mit sich bringen – er wartet jedenfalls nicht lange ab, experimentiert selten, hält nicht aus. Gleich oder gar nicht. Das kann man nun mit jungen Menschen nicht machen, die ermutigt werden sollen, gefördert, beraten und geführt. Die Arbeitgeber im Zeitungsgewerbe aber wollen möglichst fertige Leistungen sehen, und da alle es wollen, also fast niemand halbfertige, entwicklungsmögliche Arbeiten druckt, so herrscht in der Zeitung der Routinier.
Das Gros der Redakteure liest Arbeiten wie Schulaufsätze; und zensiert sie. Ja – oder Nein: darüber hinaus gehts selten. Daß sich der Redakteur, der immer überlastet ist, mit seinen Leuten wirklich beschäftigt, ihnen die Unarten austreibt, ihnen nicht nur sagt, wie man es nicht machen darf, sondern anschaulich erzählt, wie man es machen solle. So züchtet man Nachwuchs.
Die Presse macht sichs bequemer und jammert hinterdrein, daß ‚keiner da ist’. Natürlich ist keiner da – sie jagen ja die meisten davon.
Da ist zunächst die Herrschaft der Geronten. Es ist gradezu kläglich, mitanzusehen, wie eine falsch angewandte Treue alte Knacker im Betriebe läßt, die schon in der Blüte ihrer Mannesjahre den Durchschnitt niemals überragt haben; Männer, die gar nicht alt werden können, weil sie nie jung gewesen sind. Arthur Holitscher oder Alfred Kerr oder Karl Scheffler werden niemals ‚passé’ sein – das welkt nicht. Dagegen hat bei irgend einem Dutzendschreiber die Sache mit dem fünfundsechzigsten Jahr gewöhnlich ihr Ende; wenn er je die Berechtigung hatte, überhaupt so lange zu schreiben, so waren es die Manneskraft, das Handgelenk, das handwerkliche Können, und die lassen etwa um diesen Zeitpunkt erheblich nach. Aber das klebt und nimmt jüngeren Leuten die Plätze fort; mit dem ganzen starren Eigensinn des vergreisten Alters sitzt das und sitzt, und die Verlage sind auf einmal so zartfühlend, so scheu, so duldend … Nie hat man sie so gesehen. („Wen meint er –?“ Ein System.)
Der Lernende aber läuft neben dem Betrieb her und wird nur selten herangelassen. Das Beispiel S. J.’s, der, noch nicht zwanzigjährig, als Theaterkritiker an die Welt am Montag zugelassen worden war, ist fast unerhört. Wo aber, in aller Welt, soll sich der deutsche junge Journalist die Feder glatt schreiben?
In der Provinz -? Da ist die Position des angestellten Journalisten viel kümmerlicher als man gemeinhin ahnt – ich besinne mich noch auf jenen journalistischen Schützling S. J.’s, der von Berlin an einen großen Generalanzeiger Süddeutschlands ging und mit der Weltbühne einen Tauschverkehr verabredete. Die Weltbühne ging heraus; der Generalanzeiger kam nicht. Anfrage. „Es ist mir leider nicht möglich, meinen Verlag zu überzeugen, daß …“ Poincaré anrüpeln, das können sie; vor dem Zimmer des Verlagsprokuristen hören der Spaß und die Allmacht auf. In der Provinz wird der junge Mann nicht viel lernen, weil mit Ausnahme von ein paar Blättern das politische und künstlerische Gesichtsfeld dieser Zeitungen viel zu eng, die drückende Herrschaft der Abonnenten viel zu groß ist. Wir möchten schon, aber wir dürfen nicht …
In Berlin dürften sie schon eher. Aber wer hilft den jungen Menschen? Man müßte glauben, daß die sozialistischen und kommunistischen Blätter dazu noch am ehesten prädestiniert wären. Über die Rote Fahne als journalistisches Erzeugnis ernsthaft zu reden, ist leider nicht möglich – ich sage ‚leider’, weil mir ihre Grundgesinnung sehr nahe ist. Aber wie sieht das aus! Wie ist das geschrieben! – Der Vorwärts ist heute noch so verkalkt wie damals, als ich bei ihm anfangen wollte – über ein paar Glossen hinaus habe ich es da nie gebracht, und beim mechanischen Abdruck ist es geblieben. Von Ermunterung war wenig zu spüren.
Bleiben die großen demokratischen Zeitungen. Pro domo kann ich mich nicht beklagen – aber hier gehts um die Sache. Gewiß, es gibt hier und da junge Leute, die die große Zeitung weiter treibt; aber sehr häufig wird man den Eindruck nicht los, als habe das, was da steht, nur deshalb Wert, weil das Blatt eine so hohe Auflage hat. Lernen diese jungen Leute wirklich etwas? Beschäftigt man sich mit ihnen? Nicht schulmeisterlich, sondern fördernd? Mit wirklicher Zuneigung zu dem, was da entstehen will? Mit dem ‚Annehmen’ ist es eben nicht getan, man muß so einen Menschen bilden, ihm Fingerzeige geben, ihn in die Schule nehmen (und ihm nicht auf die Schulter klopfen). Wer tut das –?
Ich glaube, daß der journalistische Nachwuchs in Deutschland nicht gut ist. Es wäre hübsch, wenn der Durchschnittsredakteur, der schwer von seiner Gottähnlichkeit überzeugt ist, seinen Stolz auf die Tarifverhandlungen verlegte und den Kollegen hülfe, nicht, wie man armen Leuten hilft, sondern indem er seine, ihre, unsere Sache fördert. Konkurrenz -? Aber ich wünschte, die Besatzung der Weltbühne bestände aus lauter Genies – das käme noch dem schwächsten Mitarbeiter zugute. Starwesen ist nicht nur geschmacklos – es ist dumm.
Es ist aber nicht nur die Angst vor der Begabung, nicht nur Eitelkeit und Greisenhaftigkeit.
Es ist auch häufig die Angst der Verlage, der Mann könne nach der Ausbildung davonlaufen. Aber das hat S. J. mindestens zehn Mal erlebt, und er hat nicht nachgelassen. Da ist weiter die Furcht, den Leser mit einer halbfertigen Leistung vor den Kopf zu stoßen. Grade eine Redaktion, deren Beiträge häufig anonym erscheinen, hat die Möglichkeit, kollektiv zu verbessern. Und da sind wir am Angelpunkt. Es wird zu wenig kollektiv gearbeitet. Lassen wir einmal die Frankfurter Zeitung beiseite –: in den meisten Blättern ist die Leistung zu individual aufgefaßt; sie ist Einzelarbeit eines einzelnen, der sich gegen alle andern durchsetzen will, nicht: Resultat einer Gruppe, Deutschland hat die meisten Gruppen der Welt (Vereine, Verbände, Parteien, Orden), Deutschland ist das Land, in dem die Leute so schwer miteinander arbeiten. Sie können nur: untereinander und übereinander. Koordination ist hierzulande eine seltene Sache.
Ich glaube, daß sich ein starkes journalistisches Talent wie zum Beispiel Friedrich Sieburg auf alle Fälle durchsetzt. Aber der mittlere Mann, der fleißige, begabte, anständige Arbeiter – wo bleibt der -? Wer kümmert sich um den? Wer hebt den herauf? Wer beschäftigt sich mit ihm –?
Man hebt einen Stand am besten dadurch, daß man sich eine gute Konkurrenz schafft.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 3. Januar 1928, Nr. 1, S. 12.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928, S. 18 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 13 ff.

Der kranke Zeisig

Für Grete Wels

Wartezimmer bei Professor Latschko, dem großen Endokrenologen für externe Internie. Zeisig – der bekannte Herr Zeisig, der Sohn des Kaplans Zeisig – sitzt auf einem Stühlchen und hat gelesen: ›BadeAnzeiger‹ des Kurorts Bad Stargard; Verzeichnis der Heilbäder der Uckermark; Verzeichnis der Fußbäder im Oberen Lötschtal; ›Velhagen und Klasings Monatshefte‹, März 1919. Herr Zeisig will grade lesen: ›Velhagen und Klasings Monatshefte‹, April 1897, da öffnet sich die Tür des Sprechzimmers, und eine volle Dame, die so krank ist, daß sie vor Stolz keinen ansieht, geht, für etwa 45 Mark geheilt, heraus. Die Tür schließt sich. Pause. Eine Schwester erscheint. Sie trägt eine sterilisierte Tracht und gleitet sanft dahin; sie sieht aus wie ein Geheimrat im Finanzministerium auf Rollen. Bitte! sagt sie. Zeisign ist auf einmal sehr gesund ums Herz. Er will da nicht hinein. Er muß. Er tritt also ins Konsultationszimmer des Herrn Professor Latschko. Gediegene Inneneinrichtung. Alles atmet den Geist hoher Wissenschaft und strenger Honorare. Zeisig seinerseits wagt kaum zu atmen. Denn der Professor sitzt an seinem Schreibtisch und schreibt emsig sowie auch würdevoll. Er ist ein älterer, straffer Mann, bartlos, nur seine Seele trägt eine Brille; männliche Energie und etwas Sacharin-Lyrik, erworben im Verkehr mit gut zahlenden Patientinnen, haben sich hier gepaart.
Der Zeisig räuspert sich, sehr vorsichtig.
Der Professor schreibt.
Der Zeisig wartet sich eins.
Der Professor blickt auf: Nun … was führt Sie hierher?
Auf diese Frage war der Zeisig nicht vorbereitet. Er hatte gedacht, die Konsultation würde mit einem kleinen Schwätzchen beginnen. Wo nun anfangen!: Ich … iche … mein Name ist Zeisig.
Der Professor drückt durch seine Stummheit aus: Wir haben schon ganz andre Krankheiten geheilt!
Der Zeisig: Herr Professor … Ich habe … ich bin … das heißt also: es sind mehr so allgemeine Beschwerden. Meine Arbeitskraft ist herabgesetzt; es ist so eine allgemeine Müdigkeit, vielleicht auch die Leber … manchmal habe ich Herzstiche, und dann tun mir die Füße weh. Es muß also wohl die Blase sein. Wir hatten in meiner Familie einen Fall, wo meine Tante Elfriede an chronischer Schwangerschaft …
Der Professor: Was sind Sie?
Der Zeisig: Vasomotoriker.
Der Professor sanft wie ein Irrenarzt, bevor er „Dauerbad!“ sagt: Von Beruf!
Der Zeisig: Nähmaschinen-Grossist.
Der Professor: Nun mal weiter.
Der Zeisig: Also es ist sicherlich die Blase. Wenn ich lache, dann tut es mir weh, und wenn ich morgens aufwache, muß ich immer an Zuckerhüte denken. Es ist wie eine Zwangsvorstellung – immer Zuckerhüte. Auch mit der Verdauung ist das nicht mehr so wie früher … es macht mir nicht mehr solchen Spaß. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich komme auf Empfehlung meines Hausarztes, des Herrn Doktor Bullett.
Der Professor, ein General, hat den Namen dieses Landsknechts der Wissenschaft nicht gehört, er will ihn nicht gehört haben. Merkwürdig, was für Leute den Arztberuf ausüben dürfen … ! So. Wie ist es denn mit den Augen? Sehen Sie gut?
Der Zeisig, der stolz darauf ist, daß er Schiffe am Horizont in Westerland eher sehen kann als alle andern: Gottseidank. Sehr gut.
Der Professor: Das Gehör?
Der Zeisig: Ausgezeichnet.
Der Professor: Waren Sie mal geschlechtskrank?
Der Zeisig: Fast gar nicht.
Der Professor: Rauchen Sie?
Der Zeisig: Ja. Aber nur orthopädischen Tabak.
Der Professor: Alkohol?
Der Zeisig: Nur Wein, Bier und etwas Likör.
Der Professor: Ihre politische Zugehörigkeit?
Der Zeisig: Deutsche Staatspartei.
Der Professor ist beruhigt. Linksleute behandelt er nicht, wegen fein. Sie rauchen also? Welche Sorte? Das ist wichtig.
Der Zeisig: Ich rauche Brasilzigarren und türkische Zigaretten … hauptsächlich.
Der Professor ist froh, daß der Mann überhaupt raucht. Er blickt hier und da auf eine verborgene Aschenschale, in der sich eine Zigarre allein raucht: Jedenfalls rauchen Sie nicht zu viel! Ihr Haarschnitt?
Der Zeisig:? -?
Der Professor: Hinten zu kurz. Diese Mode befördert die Erkältungen. Ihre Rasierseife?
Der Zeisig: Eine Eau-de-Cologne-Seife.
Der Professor, immer noch wie eine Statue, aus Schmalz gehauen: Bitte – kommen Sie mit!
Der Zeisig bereut es entsetzlich, sich diesem Menschen überantwortet zu haben. Er denkt: Ob es weh tut? So – jetzt wird sich ja herausstellen, was es ist; der Professor wird staunen; mal sehen, ob er das überhaupt kann! So einen interessanten Fall hat er sicherlich noch nie gesehen … ob es sehr weh tun wird? Sie gehen ins Behandlungszimmer.
Darin sieht es aus wie in einer Granatendreherei. Blitzende Apparate, glänzendes Nickel, strahlende Messingarme und elektrische Lämpchen: alles offenbart den Geist einer von der größtenteils jüdischen Kundschaft geforderten Polypragmasie. Ein Arzt, was keine Apparate hat, ist ein schlechter Arzt; man muß mit seiner Zeit mitgehen.
Der Professor: Machen Sie sich frei, und legen Sie sich hin!
Das tut der Zeisig; es ist sein Stolz, immer und an jedem Tag vor einen Arzt treten zu können. Er hält sich sauber, schon, weil man ja auf der Straße überfahren werden kann. Er legt sich, sieht an die Decke und ist auf einmal sehr krank.
Der Professor hat der Schwester, die stumm eingetreten ist, gewinkt. Sie geht an das Kopfende des Ruhebettes und macht kein Gesicht. Der Professor holt Atem, bekommt einen merkwürdig starren Ausdruck in den Augen; er hat ein Feldtelefon in der Hand und fragt das Zeisigsche Herz: „Hallo, hier Professor Latschko! Wer dort?“ Das Herz: Puck-puck – puckpuckpuck … pick-pick … ffft … ffft … puckpuckpuck … Ruhig atmen! Nicht stauen! Das Herz telefoniert weiter; der Professor hat abgehängt. Er läßt sich nun mit der Lunge verbinden. Die Lunge: Hach-huach –! hach-huach … Der Professor versetzt dem Zeisig einen leichten Schlag auf das Knie; das Bein hopst artig hoch, wie es das gelernt hat.
Der Zeisig bekommt einen kleinen Schrecken, denn der Professor hat ihm mit einem spitzen und tückischen Messerchen eine Inschrift auf die haarige Brust gekratzt: CARMOL TUT WOHL! Die Haut schreit rot auf und verstummt.
Der Professor mißt den Blutdruck: Viertel sieben. Geht nach.
Der Professor sieht sich die Hände Zeisigs an, läßt nachdenklich dessen Zehen durch seine Finger gleiten, gebietet ihm, sich herumzudrehen und murmelt etwas zur Schwester. Ein Apparat surrt. Zeisig sieht nichts. Sie machen etwas mit ihm; nun ist seine Lebenskraft wesentlich gehobener. Er bekommt langsam Vertrauen zu diesem Professor – der Mann versteht sein Handwerk! Und so gründlich! Gründlich ist, wenns lange dauert. Nun muß er in ein Töpfchen machen.
Der Professor heißt Zeisign sich auf einen Stuhl setzen. Er sieht ihm in die Augen, hält erst ein Auge zu, dann das andre; er leuchtet ihn mit kleinen Scheinwerfern an und schaltet aus; dann muß der Zeisig den Schnabel aufmachen, der Professor hält sich an Zeisigs Zunge fest und sieht mit einem Kehlkopfspiegel nach, ob sein Schlips richtig sitzt: Ziehen Sie sich wieder an! Die Schwester verschwindet; die beiden gehen zurück ins Konsultationszimmer. Der Zeisig ist in der Stimmung eines Schülers, der seinen Aufsatz zurückbekommt.
Der Professor: Sie sind völlig gesund und bedürfen demgemäß einer gründlichen Behandlung. Zu einer Sorge ist durchaus kein Anlaß gegeben – immerhin: Seien Sie vorsichtig, sonst könnte Ihnen eines Tages etwas passieren. Sie gehören zum Typus der vegetativ Stigmatisierten; eine gewisse mitrale Konfiguration läßt auf das Bestehen eines endokrenen Ringes schließen.
Dem Zeisig wird es wirblig. Er lauscht angestrengt und ist bestrebte jedes Wort des großen Medizinmannes in sich hineinzusaugen.
Der Professor: An der Blase haben Sie nichts. Eine ganz leichte Leberschwellung ist allerdings vorhanden …
Der Zeisig: Das sagte mir Doktor Bullett auch …
Dem Professor macht auf einmal die ganze Diagnose keinen Spaß mehr. Auch! Was heißt: auch? Wenn zwei Ärzte derselben Meinung sind, dann ist einer davon überhaupt kein Arzt. Immerhin ist die Reihenfolge die: Der große Latschko – dann etwa vier Lichtjahre nichts – dann seine Assistenten – dann irgendwelche andren Ärzte – dann dieser Doktor … wie war der Name? Boulette? Dann ein Trennungsstrich. Dahinter das Heer der Laien: das Material. Man kann im Notfall eine Theorie fallenlassen; man kann keinen Kollegen fallenlassen. Latschko geht daher zu etwas anderm über: Wir wissen heute, daß die Hypophyse und solche leicht tonischen und vasomotorischen Störungen vom Stoffwechsel ausgehen. Hand in Hand mit der Beeinflussung des Stoffwechsels muß eine Entspannungskur treten; ich sage Ihnen gleich, daß ich von der Psychoanalyse nichts halte, dagegen werde ich Sie mit Hormonen behandeln. Sie haben zu wenig. Manchmal auch zu viel. Auf alle Fälle die falschen. Ich habe Ihnen den Thymus perkutiert – möglich, daß da noch infantile Residuen vorhanden sind; jedenfalls gehören Sie zum thymoplastischen Typ.
Der Zeisig ist gänzlich verdattert. Wüßte er, daß die Thymus-Untersuchung ihre wahre Bestätigung erst bei der Sektion fände, er wäre es noch mehr.
Der Professor: Nun zum Diätzettel. Keine Rheinweine, nur junge Moselweine – keine jungen Pfälzerweine. Keine Zigarren mit Fehlfarben; keine lange Pfeife, nur kurze Pfeife. Und vor allem einen andern Haarschnitt! Und Teerseife! Ist Ihr Sexualleben in Ordnung?
Der Zeisig rekapituliert blitzschnell die diesbezüglichen Vorwürfe Lillys und sagt Ja.
Der Professor: Das habe ich mir gedacht; also müssen wir da etwas tun. Ich habe mit der Methode, die ich bei Ihnen anwenden werde, gute Erfolge erzielt, so neu sie ist; in leichten Fällen hilft auch die Terminologie. Wir haben in meiner Klinik schon sehr schwere Fälle von solchen Herzund Nierenkranken gehabt … wir haben immerhin erreicht, daß wir sie entlassen konnten, damit sie anderswo eingingen. Ich schreibe Ihnen hier zunächst einmal Tropfen auf – die nehmen Sie, vierzehn Tropfen vor dem Mittagessen, zweiundzwanzigeinenhalben nach dem Abendessen und ein kleines Wasserglas voll vor dem Aufstehen. Ich werde Ihnen wöchentlich drei Spritzen machen: eine subkutan, eine intravenös und eine intramuskulär.
Der Zeisig hat Angst und vertagt dieselbe.
Der Professor: Vor allem schonen Sie sich und muten Sie sich nicht zuviel zu. Das Nähmaschinengeschäft ist mit speziellen Aufregungen verknüpft; es treten dann Ermüdungserscheinungen hinzu … dergleichen kann einen Mann wie Sie untauglich machen.
Der Zeisig hat auf das Reizwort ›untauglich‹ einen Assoziations-Kurzschluß. Er sieht den Professor plötzlich in Uniform vor sich, die Konsultation kostet gar nichts, und der Professor sagt mit einem Ausdruck, wie wenn er in einen Pferdeapfel gegriffen hätte: „k. v.“ Die Vision verschwindet.
Der Professor: Der Laie überschätzt naturgemäß diese Symptome, die – verstehen Sie mich recht – eigentlich gar keine Symptome sind. Für mich sind diese Dinge, von denen Sie mir da erzählen, Folgeerscheinungen; es ist wichtig, daß Sie sich das immer vor Augen halten: Folgeerscheinungen. Sie bleiben in Berlin? Ich werde Sie behandeln; schlagen Sie sich den Gedanken aus dem Kopf, mit aller Gewalt gesund zu werden – das ist nicht der Zweck der Medizin. Die Medizin ist eine Wissenschaft, also der Mißbrauch einer zu diesem Zweck erfundenen Terminologie. Laien verspüren leicht Schmerzen: das ist völlig irrelevant. Es handelt sich nicht darum, den Schmerz zu beseitigen – es handelt sich darum, ihn in eine Kategorie zu bringen! Hier ist das Rezept.
Es entsteht eine eigentümliche Pause. Der Zeisig wäre sehr erleichtert, wenn der Professor jetzt sagte: „Na, Schatz, was schenkst du mir denn -?“ Der Professor sagts aber nicht.
Der Zeisig ungeheuer klein und bescheiden: Was … was bin ich Ihnen schuldig, Herr Professor?
Der Professor groß, aber leichthin: Fünfzig Mark.
Der Zeisig hat auf der äußersten Zungenspitze: „Fünfzig Mark? Fünfunddreißig! Valuta 1. Dezember – Wer zahlt mir … !“, bremst aber im letzten Augenblick und zahlt so schnell und schämig, als verrichte er ein kleines Geschäft, während gleich jemand um die Ecke kommt.
Der Professor nimmt, schließt ein und steht auf.
Händedruck, Verbeugung. Zeisig ab.
Der Zeisig draußen: Das mit den Zuckerhüten … das muß ich ihn nächstes Mal noch fragen … ! Ob es Zucker ist? Ich werde doch noch einen Spezialisten konsultieren! – Aber nun wird dem Zeisig plötzlich ganz durchsichtig im Gemüt; er winkt noch einmal schwach mit der Hand, dann löst er sich in Whisky auf, aus dem er gekommen ist, und der Autor dieser Szene trinkt ihn aus.
Lasset uns beten! Heiliger Äskulap! der du die Ärzte eingesetzt hast, auf daß sie eine Beschäftigung haben, sowie die meschuggenen Patienten, auf daß sie Valerian bekommen, so es Kassenpatienten sind, Insulin aber, so sie es bezahlen können; der du die Heilmethoden erfunden hattest, die da wechseln wie die Hutmoden und kleidsam sind bis zum Exitus; der du alljährlich auf die Menschheit einen ganzen Waschkorb junger Doktoren losläßt, die den Herrn Wendriner mit Fremdwörtern und mit dem neuen Medikament Eizeïn behandeln; der du den medizinischen Spießer zum Erzpriester machst, weil der Patient seinen Wundermann braucht!
Heiliger Äskulap! der du die Chirurgen geschaffen hast, auf daß das Überflüssige am Menschen entfernt werde, und die Hals-Spezialisten, auf daß die Chirurgen nicht alles allein operieren; der du die Gynäkologen schufest, die zu Ende führen, was der Ehemann so unvollkommen angefangen; welches Wunder, daß diese Ärzte noch Frauen lieben – aber siehe: grade diese lieben Frauen! Der du Homöopathen und Allopathen schufest, damit der Kranke wenigstens weiß, wovon ihm schlecht wird; sowie auch die Hautärzte, die sich über gar nichts mehr wundern; und die Psychiater, die aus Seelenverwandtschaft mit den Verrückten sogar die Vornamen der Geisteskrankheiten kennen!
Heiliger Äskulap! der du die Doktoren geschaffen hast, deren Wissen zusammenknallt, wenn sie selber einmal Patienten sind; Mediziner, die so lange Fortschritte machen, bis sie wieder bei Hippokrates angelangt sind:
gepriesen werde dein Namen –!
Amen.


Autorenangabe: Kaspar Hauser
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 21.10.1930, Nr. 43, S. 617

Wieder in: Lerne Lachen ohne zu weinen. Rowohlt Verlag, Berlin 1931.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1930, S. 575 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 8, S. 257 ff.

Der Verkehr

Der Verkehr ist in Deutschland zu einer nationalen Zwangsvorstellung geworden.
Zunächst sind die deutschen Städter auf ihren Verkehr stolz. Ich habe nie ergründen können, aus welchem Grunde. Krach auf den Straßen, Staub und viele Autos sind die Begleiterscheinung eines Städtebaues, der mit den neuen Formen nicht fertig wird – wie kann man darauf stolz sein?
Es ist wohl so, daß sich der einzelne als irgend etwas fühlen muß – der soziale Geltungsdrang, an so vielen Stellen abgestoppt, gebremst, zunichte gemacht, findet hier sein Ventil und dringt zischend ins Freie. „Was sagen Sie zu dem Verkehr bei uns –?“ Da sagen wir denn also, daß er überall in Deutschland, ohne jede Ausnahme, viel kleiner ist als etwa der in Paris – die Pariser aber sind über ihre verunstalteten Boulevards todunglücklich und trauern der alten, schönen Zeit nach, da man dort noch spazieren gehen konnte … heute bläst es aus tausend Hupen.
Es wäre viel schöner, wenn jede große deutsche Stadt ein Innenviertel hätte, in dem gearbeitet wird, und grüne Außenviertel, wo die Leute gesund wohnen. Aber da haben wir vorläufig noch alles durcheinander; in den engen Darmstraßen Kölns wohnen Leute, und die Berliner verderben sich jedes gute Wohnviertel durch ihre Faulheit, nicht „in die Stadt“ gehen zu wollen – so gibt es überall eine trübe Mischung von Geschäfts- und Wohnvierteln, die weder das eine noch das andere sind. Viel grauslicher aber ist die Regelung dieses nicht vorhandenen Verkehrs.
Nachdem die allgemeine Wehrpflicht weggefallen war, sah sich der Deutsche nach einem Ersatz um. Die Wohnungsämter … das war schon ganz schön, aber noch nicht das richtige. Die Sportverbände – hm. Die Reichswehr: zu klein. Da fuhren ein paar tüchtige Beamte nach Amerika und London, kamen, sahen, machten Notizen … und der Ersatz war gefunden. Der Ersatz der allgemeinen Wehrpflicht ist die deutsche Verkehrsregelung.
Was da zusammengeregelt wird, geht auf keine Kuhhaut.
Die organisationswütigen Verwaltungsbeamten haben jeden gesunden Sinn für Maß und Ziel verloren; sieht man sich dieses Gefuchtel, Geblink, Geklingel und Gewink an, so wird einem angst und bange – vor lauter Leitern, Regelern, Organisatoren ist nur eines nicht zu sehen: der Verkehr.
Es wird zunächst viel zuviel geregelt. Wo im Ausland ein einziger Polizist still an der Ecke steht und ab und zu einen helfenden Wink gibt, steht hier der Büttel. Dem kommt es oft gar nicht darauf an, den Fahrenden oder den Gehenden wirklich zu helfen. Wie immer in Deutschland, ist hier kodifiziertes Recht; diese Regelung hat weiter keinen Wunsch und Willen, als den von ihr aufgestellten Regeln um ihrer selbst willen Geltung zu verschaffen. Es ist die Staatsautorität, die hier herumwirtschaftet.
Das zeigt sich in erster Linie an der sinnlosen Mechanisierung der Regelung. Gehst du zum Beispiel durch Berlin, so siehst du an Hunderten von Stellen Wagen halten, ohne daß ein anderer Grund dafür vorläge, als daß vor ihnen eine rote Lampe brennt, die übrigens so aufgehängt ist, daß sie der vorderste Fahrer im geschlossenen Wagen kaum sehen kann. Ganz mechanisch wird das gemacht; auf einer „Zentrale“, diesem Ideal aller Organisatoren, läuft ein Apparat, und vierzehn Straßenzüge sind gesperrt, große, kleine, belebte, leere – darauf kommt es gar nicht an. Es kommt auf die rote Lampe an. Da stehen nun die Wagen. Und warten. Und verlieren Zeit. Es ist eine Qual, durch Berlin zu fahren.
Die Folgen dieser Reglerei sind denn auch katastrophal. Kommt ein Wagen an eine Straßenecke, so ist das ein „Problem“; die Radfahrer sitzen ab, alle Leute haben eine überspitzte Aufmerksamkeit, in ihre Augen tritt ein seltsamer Ausdruck –: sie machen Fahrdienst. Nichts ist locker, alles ist gespannt, viel zu sehr gespannt, um nicht bei jeder kleinen Schwierigkeit zu reißen – alle machen Dienst.
Es ist so viel Freude am Befehlen in diesem Kram; die Mienen, das Betragen der meisten Polizisten, besonders in den größeren Städten, haben durchaus etwas Vorgesetztenhaftes an sich; sie kämen gar nicht auf den Gedanken, daß sie dazu da sind, den Verkehr zu glätten – sie achten auf die Durchführung von Vorschriften, die keinen andern Sinn haben, als durchgeführt zu werden. Das kommt den Leuten kaum zum Bewußtsein – so eingedrillt ist ihnen das alles. Man spürt in jeder Fiber, wie im regelnden Polizeimann eine Stimme singt: „Vor allem halte hier mal an. Und dann werden wir weiter sehen. Und so einfach weitergefahren wird auch nicht – das ist hier eine ernste Sache, und die hast du zu respektieren.“ Und ob sie sie respektieren! Sie sind wirklich stolz darauf, gewissermaßen kantig zu gehorchen, es ist das alte Kommiß, das unausrottbar in ihrem Blut sitzt – ruck, zuck – und so fahren sie. Und so fahren sie, und niemand fährt so unkameradschaftlich wie sie. Von dem Martyrium alleinfahrender Damen, die nicht hübsch sind, will ich gar nicht einmal reden; das Auto ist ja in Deutschland durch die irrsinnige Steuerpolitik, durch die systematische Vernichtung der Konsumskraft noch lange nicht Sache des kleinen Mannes, wieviel Neid schwirrt um die Wagen! Wenn sie auch nicht überall, wie manchmal in Bayern, den Autofahrern Messer in die Wagen werfen: sehr freundlich werden die nicht angesehen. Aber noch unfreundlicher behandeln sie sich untereinander.
Der Deutsche fährt nicht wie andere Menschen. Er fährt, um recht zu haben. Dem Polizisten gegenüber; dem Fußgänger gegenüber, der es übrigens ebenso treibt – und vor allem dem fahrenden Nachbar gegenüber. Rücksicht nehmen? um die entscheidende Spur nachgeben? auflockern? nett sein, weil das praktischer ist? Na, das wär ja … Es gibt bereits Frageecken in den großen Zeitungen, wo im vollen Ernst Situationen aus dem Straßenleben beschrieben werden, damit nun nachher wenigstens theoretisch die einzig „richtige Lösung gestellt“ werden kann – man kann das in keine andere Sprache übersetzen. Als ob es eine solche Lösung gäbe! Als ob es nicht immer, von den paar groben Fällen abgesehen, auf die weiche Nachgiebigkeit, auf die Geschicklichkeit, auf die Geistesgegenwart ankäme, eben auf das Runde, und nicht auf das Viereckige! Aber nichts davon. Mit einer Sturheit, die geradezu von einem Kasernenhof importiert erscheint, fährt Wagen gegen Wagen, weil er das „Vorfahrrecht“ hat; brüllen sich die Leute an, statt sich entgegenzukommen – sie haben ja alle so recht! Als Oberster kommt dann der Polizeimann dazu, und vor dem haben sie alle unrecht.
Die feinen Leute in Berlin sind sehr stolz darauf, daß die „beliebtesten“ Polizisten zu Weihnachten von den Autofahrern so viel Geschenke bekommen, wie die für arme Kinder niemals übrig hätten – wieviel Anmeierei ist darin, Untertanenhaftigkeit, Feigheit, Angst und Anerkennung der Obrigkeit; denn Ordnung muß sein, und anders können sie sich Ordnung nicht vorstellen.
Es ist keine Ordnung. Es ist organisierte Rüpelei.
Daher ihre völlige Ohnmacht, wenn sie in Paris fahren sollen, wo die Fahrer einen einzigen Strom bilden, in dem jeder falsche Individualismus völlig verschwindet, in dem es wenig Regeln, aber sehr viel Entgegenkommen gibt, sehr viel Rücksicht auf den Fußgänger, sehr viel Fluidum zwischen den Fahrenden – kurz, trotz aller Polizeivorschriften des eifrigen Herrn Chiappe, lauter Dinge, die nicht in den Lehrbüchern stehen. Wie kommt das –?
Das kommt daher, daß die Deutschen sich einbilden, man könne eine Sache zu Ende organisieren. Das kann man eben nicht. Man kann eben nicht alles kodifizieren, vorher bestimmen, ein für allemal voraussehen, alle jemals vorkommenden Lagen bedenken, sie „regeln“ und dann keinen Einspruch mehr gelten lassen … so sieht die Justiz dieses Landes aus, und sie ist auch danach. Auf den Straßen aber ergibt sich das groteske Zerrbild, daß der Fußgänger der Feind des Autos ist, das er neidisch und verächtlich ignoriert – er wird es den Brüdern schon zeigen –; der Fahrer Feind des Fußgängers – wo ick fahre, da fahre ick – ums Verrecken bremst er nicht vorsichtig ab, fährt nicht um den Fußgänger herum, weil „der ja ausweichen kann“ … und aller Feind ist der regelnde Mann: der Polizist.
Das Ideal dieses Verkehrs sieht so aus, daß vom Brandenburger Tor herunter alle Städte des Reichs durch einen Reichsverkehrswart geregelt werden, überall hat zu gleicher Zeit ein grünes Licht aufzuleuchten, und gehorsam und scharf anfahrend, setzen sich 63.657 Wagen in Fahrt. Das wäre ein Fest…
Schade, daß es nicht geht. Aber er ist auch so schon ganz hübsch, der deutsche Verkehr. Man fährt am besten um ihn herum.

Ersterscheinung: Deutschland, Deutschland über alles, Berlin 1929, S. 199-201

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1929, S. 199-201

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 7, S. 305 ff.

Erklärung

Am neunundzwanzigsten Juni dieses Jahres erschien in der Nummer 26 der „Weltbühne“ ein Artikel von Ignaz Wrobel: „Die Schupo“. Er befaßte sich mit der allzu militärischen Dienstauffassung ihres Offiziercorps.

Am achtundzwanzigsten Juli druckte die pariser Zeitung „L’Eclair“ diesen Artikel ab – der in der Hauptsache den Polizeimajor Fendel-Sartorius als Verfasser des Heftchens: „Die Schutzpolizei und ihre Gefechtsgrundsätze“ zu Worte kommen ließ. Übersetzung und Nachdruck des „Eclair“ waren nicht autorisiert, aber unter den heutigen Umständen natürlich nicht zu verhindern gewesen. Dem Artikel war eine redaktionelle Notiz – M.H. gezeichnet – vorangeschickt, die mit den Worten begann: „Wir erhalten von einem berliner Publizisten folgende überzeugenden Enthüllungen über die Schupo …“

Der „Eclair“ hat niemals etwas von mir bekommen – weder direkt noch indirekt. Auch dieser Artikel war ihm niemals übersandt worden.

Am Erscheinungstag dieser französischen Übersetzung meines Artikels aus der „Weltbühne“ veröffentlichte das berliner Acht-Uhr-Abendblatt ein Telegramm seines pariser Korrespondenten unter der Überschrift: „Ein ‚Deutscher'“. Darin wurde ich beschuldigt, dem Ausland deutschfeindliches Material übergeben zu haben. Ich berichtigte diese Verleumdung – die Berichtigung erschien am neunundzwanzigsten Juli.

Seit diesem Tage tobt die reaktionäre Provinzpresse aller Kaliber um jene Lüge, deren Berichtigung für sie nicht existiert. Gesinnungsgenossen des Zuhälters Ankermann beschimpfen mich telephonisch, die Drohbriefe sind entsprechend – und das Ganze ist unendlich feige.

Ich stelle hier fest:

Ich habe niemals von einer Entente-Zeitung Geld oder sonst eine Vergünstigung bekommen – weder direkt noch indirekt. Ich habe niemals an das Ausland irgend welches Material gegeben. Was ich gegen eine militärisch eingestellte Nebenregierung habe sagen wollen, habe ich in der Heimat gesagt. Und nirgends anderswo.

Eine Presse, die Herrn Erich Ludendorff niemals verübelt hat, daß er in den Northcliffe-Zeitungen für ein Valuta-Honorar gegen die deutsche Republik hetzt, während die noch um ihr Leben kämpft, wird nicht so viel journalistischen oder politischen Anstand aufbringen, von dieser Erklärung Notiz zu nehmen.

Ich habe sie für meine Freunde aufgeschrieben, an deren guter Meinung mir liegt.


Autorenangabe: Kurt Tucholsky

Ersterscheinung: Die Weltbühne, 17.08.1922, S. 176

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1922

Gesang der englischen Chorknaben

Ehre sei Gott in der Hö-hö-he!

Wer hat die Wanzen und Flö-hö-he?
      Die Armen,
      die Armen - Oh, habet Erbarmen!
      Die Reichen
      die Reichen
    die brauchen das nicht;
    sie liegen auf weichen,
    weichen Kissen im Licht
    oder bei ihren Damen –
      Amen.

Ehre sei Gott in der ersten Etage!
      Courage! Courage!
    Macht eure Fabrik auch mal Plei-hei-te,
    die Kirche, die steht euch zur Sei-hei-te
    und gibt euch stets das Geleite:
      sie beugt dem Proleten den Rücken krumm
      und hält ihn sein ganzes Leben lang dumm,
      und segnet den Staat und seine Soldaten,
      die Unternehmer und Potentaten
      und segnet überhaupt jede Schweinerei
      und ist allemal dabei.
    Jeder lebe in seinem Rahmen:
    unten die Arbeitsamen
    und oben die mit den Börseneinnahmen –
      Amen.

Ehre den Gott der herrschenden Klassen!
    Wir zähmen die Massen!
    Wir lassen sie beten,
    wenn sie getreten;
    wir lassen sie singen,
    wenn sie vor Hunger zerspringen;
    wir lassen sie knien:
    Wir wollen den Proletarier erziehn
      zu einem geduldigen
      unschuldigen
      Arbeitstier -          I-A! I-A!
      Hallelujah! Oh, tut doch nimmer im Beten erlahmen! und höret auf der Kirche Reklamen - jedes Ding, das ihr schiebt, schiebt ihr in IHREM
                            Namen
                    Amen!


Autorenangabe: Theobald Tiger
Ersterscheinung: Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1928, Nr. 35, S. 11.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1928, S. 476 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 6, S. 214 ff.

Der Mann mit den zwei Einjährigen

Jetzt, wo alle Leute den Krieg liquidieren; wo die letzten Erinnerungen zu Büchern gerinnen; wo leise, ganz leise die Zeit herankommt, da aus den Helden von gestern die Invaliden von morgen werden … da möchte denn einer sein Gewissen erleichtern, die Höhensonne bringt es an den Tag, es muß heraus, er hat es getragen siebzehn Jahr, nicht länger trägt er es mehr – aber hören wir ihn selbst:
»Vierzehn Tage vor der Versetzung nach Obersekunda wankte ich herum und gab Mamachen zu, daß es schief gegangen sei. Sitzengeblieben … Schülerselbstmorde kamen damals gerade auf, aber ich trug sie noch nicht – und um diese Versetzung war es besonders schade: sollte sie doch das Einjährige bringen, die Berechtigung zum Königlich Einjährig-Freiwilligen-Dienst – und weil es mit den Verben auf mi endgültig nicht klappte und bei den Gleichungen mit drei Unbekannten ein kleiner Ausrutscher zu verzeichnen stand, winkten zwei Jahre Dienstzeit. (Ich wußte damals noch nicht, daß es vier werden sollten.) Mamachen war nicht beglückt, und ich bekam ein paar hinter die Ohren. (›In Ihrem Alter – Wie alt waren Sie damals? – Ich als Vater … Sie als Sohn … Erlauben Sie mal, gerade vom Standpunkt der pädagogischen Propädeutik … ich gehe von dem Standpunkt aus … meine Einstellung ist irgendwie … ‹ – also wer nu hier? Ihr oder ich? Ich:) bekam also ein paar hinter die Ohren. Das war am 14. März. Am 28. war Zensurenverteilung, aber der 28. sah mich nicht in der Aula, wo die Klassen rauschend aufstanden, um zu hören, wer versetzt worden sei … begossenen Gemütes zogen die Sitzengebliebenen, Verachteten, Ausgestoßenen, Nichtmehrdazugehörigen in ihre Klassenzimmer … Ich war nicht dabei. Ich lag zu Hause im Bett und spielte den eingebildeten Kranken, was ich so besorgte, daß ich wirklich krank wurde. Zwei Tage später kroch ich in die Bellevuestraße und holte mir vom Schulpedell mein Zeugnis.
Die Klippschule lag da, wo heute der Reichswirtschaftsrat seine Existenzberechtigung dadurch nachweist, daß er da ist – ich zottelte den langen Gang hinunter und traute mich gar nicht zu dem Kastellan hinein, der so eine Art Mittelding zwischen Feldwebel und Direktor war … Aber wider Erwarten freundlich gab er mir mein Zeugnis. Ich sah es an – und wollte es ihm zurückgeben. Das war nicht mein Zeugnis. Das war das Zeugnis eines, der versetzt worden war. Ich, ich war sitzen geblieben.
Da stand jedoch: Kaspar Hauser, und das war ich, und ich sah das Zeugnis an, und dann den Schuldiener (der wahrscheinlich heute Studienwachtmeister heißt), und dann ging ich ganz schnell wieder hinaus, aus Angst, sie könnten die Sache wieder rückgängig machen – und dann stelzte ich den langen Gang wieder herunter, froh, vergnügt, großer Mann … als ich auf der Bellevuestraße ankam, machte ich ein Gesicht wie: ›Natürlich – was ist denn dabei? Ich habe mir nur mein Einjähriges abgeholt … !‹ Da hatte ich es – das Einjährige.
Dann nahmen die Verben auf mi an Schwierigkeiten zu, die Trigonometrie auch, meine deutschen Aufsätze ließen mich erkennen, daß es nicht genügt, seine Muttersprache zu lieben – nein, man muß sie auch so schreiben, wie sich greise Schulamtskandidaten den deutschen Stil vorstellen. Ach! von Groll gegen meine Lehrer ist nichts zurückgeblieben, ich habe ihn zerlacht und sie vergessen, alle miteinander. Und als es gar zu schlimm mit den deutschen Aufsätzen wurde, da setzte eine dicke IV meinem Streben einen Riegel vor; ich blieb nun wirklich sitzen, und mit den Augen die hoffnungslos in die Ferne gerückte Unterprima musternd, ging ich von der Schule ab. Und arbeitete weiter, um das Abitur als Externer zu bestehen.
Heute, wo trotz der übertriebenen Angst der Schüler und des lächerlichen Respekts der Eltern vor der ›Bildung‹ so viel kleine Revolverschüsse langsam eine Reform des Unterrichts erzwingen, heute ist das ja alles anders. Aber damals wurde derjenige, der ein Abitur als Externer bauen wollte, wie ein Verbrecher behandelt; man kam sich vor, als stehe man als Entlastungszeuge vor einem Staatsanwalt … so etwa war die Atmosphäre. Ich arbeitete wie ein Neger.
›Kaspar‹, sagte mein Pauker eines Tages zu mir … also ›Pauker‹ ist ein Kosewort; ich verdanke dem Mann sehr, sehr viel; er war ein wunderherrlicher Einpauker, weil er den Betrieb nicht ernster nahm als unbedingt nötig, und wenn er dieses liest, dann wollen wir in Gedanken miteinander anstoßen, womit er will: mit einem sanften Burgunder oder einem scharfen schwedischen Schnap – auf alle Fälle: Prost! – ›Kaspar‹, sagte er zu mir, ›in einem halben Jahr steigt das Examen. Das ist eine Nervenfrage. Wer garantiert uns, daß Sie wirklich alles aufsagen, was ich Ihnen eingetrichtert habe? Das mit der Hyperbel und Joachim Friedrich und mit den Nebenflüssen der Tunguska, kurz das, was einen gebildeten Menschen ausmacht, lachen Sie nicht! Wer garantiert uns, daß Sie nicht schlapp machen und da auf einmal alles vergessen, was Sie hier so schön gewußt haben? Niemand garantiert uns das. Infolgedessen wollen wir eine Generalprobe machen!‹ – ›Wollen wir uns einen Schulrat engagieren, der mich zu Hause prüft?‹ schlug ich vor. ›Affe‹, sagte der Pauker. ›Sie gehen hin und machen als Probe das Einjährige.‹ – ›Ich habe das Einjährige‹, sagte ich. ›Da machen Sie es eben noch einmal!‹ sagte der Pauker. ›Wo?‹ sagte ich. ›Vor der Kommission in der Heidestraße‹, sagte der Pauker. Bei Gott, dies geschah.
Lieber Panter, Sie werden meinen wirklichen Namen nicht in die Tante Voß setzen, denn vielleicht findet sich ein schneidiger junger Herr bei der Staatsanwaltschaft, der, während gerade kein Gotteslästerungsprozeß steigt, sich mit dieser Sache eine gute Nummer verdienen will … ich legte also der Militärkommission am Lehrter Bahnhof meine Papiere vor, alle – mit Ausnahme des Einjährigen aus der Bellevuestraße. Das behielt ich zu Hause. Und ich wurde zum Examen zugelassen. Und ich ging in dieses Examen.
Neben mir saßen durchgefallene Fähnriche aus den Pressen, gebildete Arbeiter, die sich ihre geistige Arbeit von den Nachtstunden abgetrotzt hatten – vor uns saßen schneidige Offiziere und einige traurige Zivilisten, und so wurden wir geprüft. Es ging sehr scharf her, von den zwölf jungen Herren kamen nur zwei durch – der andere war ein gewisser Salter, der Mann ist später trotz des Einjährigen vor die Hunde gegangen. Der eine war ich. Dies war meine Generalprobe für das Abitur.
Und da sitze ich nun und habe also zwei Einjährige, und vielleicht hat deswegen der Krieg so lange gedauert, und ich mußte es einmal erzählen, denn außer dem braven Lehrer weiß den Schmuh keiner, und es hat mich bedrückt, und nie getraue ich mich zu einem Psychoanalytiker – denn dann käme es heraus, dies und noch vieles andere – und ich sitze da mit meinen beiden Einjährigen und möchte mal fragen, ob vielleicht keiner das andere haben will … ?«
Dies ist der Bericht des Mannes, der zwei Einjährige hat. Ergreift sein Sohn einmal die Laufbahn des mittleren Handwerkers, dann kann er dem ja das zweite mitgeben. Weil man doch ohne Examen nicht arbeiten darf, hierzulande.

Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Vossische Zeitung, 18.08.1929, Nr. 388.

Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1929, S. 370 ff.

Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 7, S. 164 ff.

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