Der Linksdenker
Er ist ein Gespenst und doch
ein Münchner.
Alfred Polgar
Das war ein heiterer Abschied von Berlin: sechs Wochen Panke und ein Abend Karl Valentin – die Rechnung ging ohne Rest auf.
Ich kam zu spät ins Theater, der Saal war bereits warm und voller Lachen. Es mochte grade begonnen haben, aber die Leute waren animiert und vergnügt wie sonst erst nach einem guten zweiten Akt. Am Podium der Bühne auf der Bühne, mitten in der Vorstadtkapelle, saß ein Mann mit einer aufgeklebten Perücke, er sah aus, wie man sich sonst wohl einen Provinzkomiker vorstellt: ich blickte angestrengt auf die Szene und wußte beim besten Willen nicht, was es da wohl zu lachen gäbe … Aber die Leute lachten wieder, und der Mann hatte doch gar nichts gesagt … Und plötzlich schweifte mein Auge ab, vorn in der ersten Reihe saß noch einer, den hatte ich bisher nicht bemerkt, und das war: ER.
Ein zaundürrer, langer Geselle, mit stakigen, spitzen Don-Quichote-Beinen, mit winkligen, spitzigen Knien, einem Löchlein in der Hose, mit blankem, abgeschabtem Anzug. Sein Löchlein in der Hose – er reibt eifrig daran herum. „Das wird Ihnen nichts nützen!“ sagt der gestrenge Orchesterchef. Er, leise vor sich hin: „Mit Benzin wärs scho fort!“ Leise sagt er das, leise, wie es seine schauspielerischen Mittel sind. Er ist sanft und zerbrechlich, schillert in allen Farben wie eine Seifenblase; wenn er plötzlich zerplatzte, hätte sich niemand zu wundern.
„Fertig!“ klopft der Kapellmeister. Eins, zwei, drei – da, einen Sechzehnteltakt zuvor, setzte der dürre Bläser ab und bedeutete dem Kapellmeister mit ernstem Zeigefinger: „’s Krawattl rutscht Eahna heraus!“ Ärgerlich stopft sich der das Ding hinein.
„Fertig!“ Eins, zwei, drei … So viel, wie ein Auge Zeit braucht, die Wimper zu heben und zu senken, trennte die Kapelle noch von dem schmetternden Tusch – da setzte der Lange ab und sah um sich. Der Kapellmeister klopfte ab. Was es nun wieder gäbe -? „Ich muß mal husten!“ sagte der Lange. Pause. Das Orchester wartet. Aber nun kann er nicht. Eins, zwei, drei – tätärätä! Es geht los.
Und es beginnt die seltsamste Komik, die wir seit langem auf der Bühne gesehen haben: ein Höllentanz der Vernunft um beide Pole des Irrsinns. Er ist eine kleine Seele, dieser Bläser, mit Verbandsorgan, Tarif, Stammtisch und Kollegenklatsch. Er ist ängstlich auf seinen vereinbarten Verdienst und ein bißchen darüber hinaus auf seinen Vorteil bedacht. „Spielen Sie genau, was da steht“, sagt der Kapellmeister, „nicht zu viel und nicht zu wenig!“ – „Zu viel schon gar nicht!“ sagt das Verbandsmitglied.
Oben auf der Bühne will der Vorhang nicht auseinander. „Geh mal sofort einer zum Tapezierer“, sagt der Kapellmeister, „aber sofort, und sag ihm, er soll gelegentlich, wenn er Zeit hat, vorbeikommen.“ Geschieht. Der Tapezierer scheint sofort Zeit zu haben, denn er kommt gelegentlich in die Sängerin hineingeplatzt. Steigt mit der Leiter auf die Bühne – „Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben“, heult die Sängerin – und packt seine Instrumente aus, klopft, hämmert, macht … Seht doch Valentin! Er ist nicht zu halten. Was gibt es da? Was mag da sein? Er hat die Neugier der kleinen Leute. Immer geigend, denn das ist seine bezahlte Pflicht, richtet er sich hoch, steigt auf den Stuhl, reckt zwei Hälse, den seinen und den der Geige, klettert wieder herunter, schreitet durch das Orchester, nach oben auf die Bühne, steigt dort dem Tapezierer auf seiner Leiter nach, geigt und sieht, arbeitet und guckt, was es da Interessantes gibt … Ich muß lange zurückdenken, um mich zu erinnern, wann in einem Theater so gelacht worden ist.
Er denkt links. Vor Jahren hat er einmal in München in einem Bierkeller gepredigt: „Vorgestern bin ich mit meiner Großmutter in der Oper ›Lohengrin‹ gewesen. Gestern nacht hat sie die ganze Oper nochmal geträumt; das wann i gwußt hätt, hätten wir gar nicht erst hingehen brauchen!“
Aber dieser Schreiber, der sich abends sein Brot durch einen kleinen Nebenverdienst aufbessert, wird plötzlich transparent, durchsichtig, über- und unterirdisch und beginnt zu leuchten. Berühren diese langen Beine noch die Erde?
Es erhebt sich das schwere Problem, eine Pauke von einem Ende der Bühne nach dem andern zu schaffen. Der Auftrag fällt auf Valentin. „I bin eigentlich a Bläser!“ sagt er. Bläser schaffen keine Pauken fort. Aber, na … latscht hin. Allein geht es nicht. Sein Kollege soll helfen. Und hier wird die Sache durchaus mondsüchtig. „Schafft die Pauke her!“ ruft der Kapellmeister ungeduldig. Der Kollege kneetscht in seinen Bart: „Muß das gleich sein?“ Der Kapellmeister: „Bringt die Pauke her!“ Valentin: „Der Anderl laßt fragen, wann.“ – „Gleich!“ Sie drehen sich eine Weile um die Pauke, schließlich sagt der Anderl, er müsse dort stehen, denn er sei Linkshänder. Linkshänder? Vergessen sind Pauke, Kapellmeister und Theateraufführung … Linkshänder! und nun, ganz shakespearisch: „Linkshänder bist? Alles links? Beim Schreiben auch? Beim Essen auch? Beim Schlucken auch? Beim Denken auch?“ Und dann triumphierend: „Der Anderl sagt, er ist links!“ Wie diesseits ist man selbst, wie jenseits der andre, wie verschieden, wie getrennt, wie weitab! Mitmensch? Nebenmensch.
Sicherlich legen wir hier das Philosophische hinein. Sicherlich hat Valentin theoretisch diese Gedankengänge nicht gehabt. Aber man zeige uns doch erst einmal einen Komiker als Gefäß, in das man so etwas hineinlegen kann. Bei Herrn Westermeier käme man nicht auf solche Gedanken. Hier aber erhebt sich zum Schluß eine Unterhaltung über den Zufall, ein Hin und Her, kleine magische Funken, die aus einem merkwürdig konstruierten Gehirn sprühen. Er sei unter den Linden spaziert, mit dem Nebenmann, da hätten sie von einem Radfahrer gesprochen – und da sei gerade einer des Wegs gekommen. Dies zum Kapitel: Zufall. Der Kapellmeister tobt. Das sei kein Zufall – das sei Unsinn. Da kämen tausend Radfahrer täglich vorbei. „Na ja“, sagt Valentin, „aber es ist grad einer kumma!“ Unvorstellbar, wie so etwas ausgedacht, geschrieben, probiert wird. Die Komik der irrealen Potentialsätze, die monströse Zerlegung des Satzes: „Ich sehe, daß er nicht da ist!“ (was sich da erhebt, ist überhaupt nicht zu sagen!) – die stille Dummheit dieses Witzes, der irrational ist und die leise Komponente des korrigierenden Menschenverstandes nicht aufweist, zwischendurch trinkt er aus einem Seidel Bier, kaut etwas, das er in der Tasche aufbewahrt hatte, denkt mit dem Zeigefinger und hat seine kleine Privatfreude, wenn sich der Kapellmeister geirrt hat. Eine kleine Seele. Als Hans Reimann einmal eine Rundfrage stellte, was sich wohl jedermann wünschte, wenn ihm eine Fee drei Wünsche freistellte, hat Karl Valentin geantwortet: „1. Ewige Gesundheit. 2. Einen Leibarzt.“ Eine kleine Seele.
Und ein großer Künstler. Wenn ihn nur nicht einmal die berliner Unternehmer einfangen! Das Geheimnis dieses primitiven Ensembles ist seine kräftige Naivität. Das ist nun eben so, und wems nicht paßt, der soll nicht zuschauen. Gott behüte, wenn man den zu Duetten und komischen Couplets abrichtete! Mit diesen verdrossenen, verquälten, nervösen Regisseuren und Direktoren auf der Probe, die nicht zuhören und zunächst einmal zu allem nein sagen. Mit diesem Drum und. Dran von unangenehmen berliner Typen, die vorgeben zu wissen, was das Publikum will, mit dem sie ihren nicht sehr heitern Kreis identifizieren, mit diesen überarbeiteten und unfrohen Gesellen, die nicht mehr fähig sind, von Herzen über das Einfache zu lachen, „weil es schon dagewesen ist“. Sie jedenfalls sind immer schon dagewesen. Karl Valentin aber nur einmal, weil er ein seltener, trauriger, unirdischer, maßlos lustiger Komiker ist, der links denkt.
Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 09.10.1924, Nr. 41, S. 550
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., 1924
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 3, S. 474 ff.