25.12.2007

Weihnachtspost an Köhler

Nicht nur an Weihnachten erfreut Bundespräsident Horst Köhler sein Volk mit einer Rede. Auch an erstaunlich vielen anderen Tagen im Laufe eines Jahres lässt er uns an seinen gesammelten Weisheiten und denen seiner Reden- und Grußworteschreiber teilhaben. Aus Anlass der Wiedereröffnung der Anna-Amalie-Bibliothek in Weimar erfuhren die Zuhörer beispielsweise, dass es auch in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose irgendwie um Bücher geht. Aber Köhler erinnerte in seiner Rede am 24. Oktober auch an aktuelle Probleme der Bildung:

Die Chance zur kulturellen Teilhabe, das heißt der Zugang zu Kunst und Kultur, zur Geschichte und zu wissenschaftlichem Denken, ist das Recht eines jeden Heranwachsenden. Neben den Schulen sind die öffentlichen Bibliotheken entscheidende Bildungsorte. Entsprechend müssen wir sie ausstatten – und entsprechend müssen sie in der Lage sein, Freude und Lust an der Kultur, am Wissen, am Lernen zu vermitteln.

Bei so viel präsidentieller Erkenntnis dürfen auch die Bürger mal zu Wort kommen. Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft hat die Ausführungen Köhlers zum Anlass genommen, ihn auf die Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit hinzuweisen. In einem offenen Brief wendet sie sich persönlich an den Bundespräsidenten und fordert ihn auf, seinen Einfluss geltend zu machen und die Schließung der Tucholsky-Bibliothek im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg zu verhindern.

Bleibt zu hoffen, dass die Forderung des Präsidenten nach guter Ausstattung der Bibliotheken mehr als nur ein frommer Wunsch bleibt. Und das nicht nur an Weihnachten.

24.12.2007

Billetknipser der Öffentlichkeit

Anfang November hat die freie Journalistin Gabriele Bärtels in der Zeit über ihre leidvolle Zusammenarbeit mit verschiedenen Redaktionen geklagt. Das Medium Magazin widmete dem Verhältnis zwischen Freien und Redakteuren das Titelthema seiner Dezember-Ausgabe.

Das Erschreckende an Bärtels‘ Schilderung ist nicht nur die Tatsache, dass alles genau so stimmt, wie sie es beschreibt, sondern dass sie dafür auch noch hämische Kommentare von den Lesern kassieren musste:

Der Text ist gut, es kribbelt richtig beim lesen, schließlich ist es kühl auf dem Dachboden. Lethargisch und entmutigt liegt die Autorin im Bett und packt ihre ganze Wut über die Ungerechtigkeit der bösen Redaktionen in ihren Text. Dumm nur, dass sie nicht glaubwürdig ist, schließlich macht sie vor, was eine geschäftstüchtige Journalistin ausmacht: Recherche auslassen, jede Menge Plattitüden und Allgemeinplätze in den Text und dann auf die Enter-Taste drücken.

Dumm vor allem, dass sich trotz dieses ungewöhnlichen Appells von Bärtels an der Situation wenig ändern wird. Denn es scheint sich um eine journalistische Konstante zu handeln, die fast physikalische Gültigkeit besitzt. So schrieb Tucholsky bereits 1922 seinen Kollegen ins Gewissen:

Neben der unangenehmen Wertschätzung der sogenannten „großen Namen“ läuft eine Mißachtung der weniger großen parallel. Da ist zunächst die Frage der überlangen Fristen bei Offertenbeantwortungen. Der aktuelle Artikel, der aus irgendwelchen Gründen vom Redakteur zu lange in der Schublade behalten wird, ist nach vierzehn Tagen bei seiner Rückgabe für den Schreiber unbrauchbar geworden, er kann ihn nirgends mehr anbieten, und so haben wir das seltsame Schauspiel, daß ein geistiger Arbeiter (der Redakteur) das Werk seines Kollegen (des freien Schriftstellers) fahrlässig vernichtet.

Die Parallelen zu heute sind frappierend:

Und wird der Text nicht gedruckt, erfahre ich manchmal erst nach Monaten, dass dies nie der Fall sein wird. Nur in Ausnahmefällen benachrichtigt der Redakteur mich, meistens vergisst er es. Ich bin ja auch kein Lebewesen für ihn, sondern nur eine E-Mail oder bestenfalls eine selten gehörte Telefonstimme. Dass die Geschichte dann für andere Zeitungen nicht mehr aktuell ist, ist nicht sein Problem…

…heißt es bei Bärtels. Dabei drückt sie sich noch vorsichtig aus. Denn sie weiß: „Ich darf nicht böse mit der Redakteurin werden, denn ich bin auf sie angewiesen.“

Tucholsky kannte da weniger Hemmungen:

Das Verhältnis des angestellten Schriftstellers zum nicht angestellten Schriftsteller ist ein einziger Skandal – das äußerste an Unkollegialität und an Schmierigkeit, an äußerstem Mangel von Solidarität, der nur denkbar ist. Ich habe in zwanzig Jahren Literatur etwa fünf Redakteure kennen gelernt, die sich nicht einbildeten, deshalb, weil man sie angestellt hatte, etwas Besseres zu sein als ihre Mitarbeiter.

Daß der Redakteur die Spreu vom Weizen sondert, kann ihm niemand verdenken. In unserm Beruf steht das Angebot in einem grotesken Gegensatz zur Nachfrage – zu schreiben vermeint jeder und jede zu können, und den Kram, der da verlangt wird, kann ja auch jeder Mensch herstellen. Das hebt die Stellung des Redakteurs; er sieht die wirtschaftlichen Ursachen nicht und hält sich für geistig überlegen, wo er nur als Verwalter der kümmerlichen Honorare und als Billettknipser an der Schranke der Öffentlichkeit in Anspruch genommen wird. Und was er sich vor seinem Verleger niemals getraute, das wagt er dem Mitarbeiter gegenüber alle Tage: da trumpft er auf, da ist er der große Mann, dem zeigt er aber, was eine Harke ist. Leider zeigt er ihm nicht, was eine gute Zeitung ist. (…)

Kurz: der Redakteur gleicht seine Machtlosigkeit vor dem Verleger durch Machtprotzerei vor dem Mitarbeiter aus. Und nicht nur dem Mitarbeiter gegenüber. Auch sich selbst gegenüber.

Das schrieb Tucholsky zehn Jahre später, nachdem er seine erste Anklage losgelassen hatte. Offenbar hatte er in diesen Jahren den Glauben verloren, dass sich die Situation für die Freien jemals verbessern werde: „Kein Schriftsteller-Schutzverband, keine Presse-Organisation hat das je zu ändern vermocht.“

Letztlich kann nur jeder einzelne Redakteur versuchen, möglichst korrekt und kollegial mit freien Mitarbeitern umzugehen. Denn laut Tucholsky sollte er bedenken:

Der Redakteur, der heute seine Stellung verläßt, kann morgen freier Schriftsteller sein, und der freie Schriftsteller, der heute beim Redakteur antichambriert, kann morgen auf seinem Platz sitzen. Sie sind beide geistige Arbeiter. Sie sollten mehr zusammenhalten, und besonders der Redakteur sollte mehr zum freien Schriftsteller halten, damit sich manifestierte, was latent vorhanden ist: ihre Kollegenschaft.

22.12.2007

Für den Gebrauch von Schwachsinnigen


Kurt Tucholsky, 1890-1935, war einer der ersten Blogger. In seinem schwedischen Exil kommentierte der „aufgehörte Schriftsteller“ mit kurzen Bemerkungen und Zitaten das Weltgeschehen. Sein Blog nannte er „Q-Tagebücher“ (Q von: „Quatsche“). Da das Internet damals noch sehr langsam war, schickte er die Texte der Einfachheit halber per Post an seine einzige Leserin, seine Zürcher Freundin Hedwig Müller. Zuvor hatte er als Journalist von 1913 bis 1932 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften die Medien beobachtet, natürlich auch die Boulevard-Zeitungen. Es scheint sich seitdem wenig verändert zu haben.

Der Ursprung der Nachrichten hat sich kaum verändert. Von mäßig bezahlten Reportern mäßig aufgenommen, mit kleinen Mitteln rasch zusammengeklaubt, nicht einmal so tendenziös gefärbt wie unsorgfältig zusammengehauen, gehen die Telegramme ihren Weg. Früher druckte man sie ab. Heute macht man sie auf. Was, man macht sie auf! Man macht sie überhaupt erst zu Etwas, man schöpft und schafft aus dem Nichts, man erfindet Wahrheiten. Im Anfang war die Überschrift. Das kleinste Lausetelegramm kann durch geschickte ‘Aufmachung’ zu einer Art Sensation werden. (…) Aber was ist das alles gegen das Bild –!

Das Bild ist die Schule der Weisheit des kleinen Mannes. Und wieviel große Männer bei uns sind nicht kleine Männer! Das Konkret-Anschauliche wird mit Recht immer den Sieg über das Abstrakte davontragen – aber nun sehe man sich an, wer diese Bilder herstellt, wie sie hergestellt sind, und wer sie aussucht! Über politische Tendenz kann man streiten, über ästhetische Begriffe kann man verschiedener Ansicht sein – aber über den vollkommenen Stumpfsinn dieser Bilder gibt es wohl nur eine Meinung. Nämlich die: Wie ungeheuer interessant! „Die Kronprinzessin von Kambodscha nach dem Tennisturnier.“ „Vizepräsident Schindanger legt einen Kranz auf den Gedenkstein des 500. deutschen Rhönsegelflugsportlers nieder.“ „Baby aus Maori, hinten geimpft.“ Man könnte getrost die Unterschriften vertauschen, es merkt ja doch keiner.

Die Technik schreitet fort. Artikelüberschriften und Bildunterschriften sind das Gebiet eifrigsten Studiums. Kein Zeitungsmann zerbricht sich den Kopf so über die Gewinnung neuer wichtiger Nachrichten wie über die Textierung des alten herkömmlichen Materials. Es hat sich nicht geändert – aber es wird jetzt viel feiner verpackt.

(…)

Ein Königreich für einen Titel! Die Zeitungen habens verschuldet, deren geschickteste Angestellte sich den Kopf zerbrechen müssen, um einen Titel, ein lockendes, fettgedrucktes Wort zu erfinden … Es ist nicht zu tadeln, wenn eine gute typographische Druckanordnung die Orientierung des Lesers erleichtert, – aber das geschieht bei uns auf Kosten des Inhalts. Die Überschrift macht den Kohl fett, der sonst so fad wäre, daß ihn niemand schlucken möchte.

Wenn die Überschrift noch den Extrakt der Nachricht, des Artikels enthielte: keine Spur! Anreizen soll sie, und die Folge ist, daß der ewig überhungrige Leser die dünne Kaviarschicht durchbeißt, auf den pappigen Teig stößt und dann das Ganze überdrüssig wegwirft. So werden viele guten Dinge diskreditiert: nur durch die Überschrift. Es gibt gerade in Berlin Zeitungen, die es darin zu einer beängstigenden Fertigkeit gebracht haben. (…) In dieser Art: weil man erstens in der Regel nur Triviales zu bieten hat und zweitens der verhätschelte Leser für ernste und anstrengende Dinge nicht zu haben ist, verputzt man einen an sich gleichgültigen Aufsatz mit glitzernden Mätzchen und krönt ihn mit der Krone des Kolportageromans, mit einem wilden Titel. (…)

Die Weltgeschichte fix und fertig für den Gebrauch von Schwachsinnigen.

Diese aufgeregte Stagnation ist ein getreues Abbild der Gesellschaftsordnung, die sie hervorbringt. Eine lärmende Langeweile und ein tiefes Unrecht dazu: eine Verschleierung der Wahrheit und die Ablenkung vom Wesentlichen.

(Zusammengestellt aus: „Die Überschrift“, in: März, 21.2.1914, S. 281 und: „Der neue Zeitungsstil“, in: Die Weltbühne, 16.12.1924, S. 918)

16.12.2007

Kegelbruder Kauder

Volker Kauder schätzt sich glücklich, seit 31 Jahren mit ein und derselben Frau verheiratet zu sein. Das sagte der CDU-Fraktionschef in einem Interview der Bild am Sonntag. Und nutzte die Gelegenheit, von seinen scheidungswütigen Parteikollegen zu verlangen, dass sie bestimmte Maßstäbe einhalten. Auf die Frage: „Was darf ein CDU-Spitzenpolitiker privat – und was nicht?“, antwortete er:

Er muss sich immer seiner öffentlichen Verantwortung bewusst sein und damit rechnen, für das, was er tut, Rechenschaft ablegen zu müssen. Gemäß Tucholsky: Wer öffentlich kegelt, der muss sich auch öffentlich nachzählen lassen, wie viel er getroffen hat.

Nun mag Kauder etwas vom Kegeln und Eheleben verstehen, aber Tucholsky in diesem Zusammenhang zu zitieren, ist schon grob fahrlässig. Es sei an den preußischen Innenminister Albert Grzesinski (SPD) erinnert, der 1930 wegen einer außerehelichen Affäre zurücktreten musste. Damals schrieb Tucholsky:

Der Minister war verheiratet und darf sich beim Zentrum bedanken, daß eine Scheidung, wie sie unter sauber und anständig denkenden Menschen mitunter nötig und nützlich ist, nicht durchzuführen war. Die Katholiken terrorisieren das Land mit einer Auffassung vom Wesen der Ehe, die die ihre ist und die uns nichts angeht. Die Frau des Ministers verhinderte die Scheidung. Der Minister lebt mit einer Frau, der er nicht angetraut ist. Gezischel. Klatsch. Hämische Blicke. Briefe. Radau. Krach. Sturz.

Es ist eine gute Gelegenheit, einmal auf die maßlose Verlogenheit des deutschen öffentlichen Lebens hinzuweisen. Bei uns verlangen die Leute von ihren politischen Gegnern, die im öffentlichen Leben stehen – und nur von ihren Gegnern – eine Lebensführung aus dem Bilderbuch. Der Politiker hat ein braver Ehemann zu sein, er hat ein ‚vorbildliches Familienleben‘ zu führen, er hat um keinen Deut anders zu essen, zu trinken, zu lieben und zu arbeiten als ein Buchbinder aus Eberswalde. Weicht er von dieser Linie ab, dann geht es los. […]

Warum hat kein bedeutender Politiker den Mut, einmal gegen diesen Muff aufzustehen? Das geht nicht? Das geht schon; es gehört Mut dazu. Warum sagt keiner, wie es wirklich ist?

„Ich habe keine Zeit, mich jeden Abend zu besaufen, weil das meine Gesundheit schädigt und weil ich das nicht mag. Aber alle zwei, drei Monate bin ich bei mir mit Freunden zusammen, und da kann es denn vorkommen, daß ich ein Glas zu viel trinke und einen kleinen sitzen habe. Und ihr -?

Ich bin verheiratet, und ich bin meiner Frau natürlich nicht treu. Ihr seids auch nicht. Fast niemand von euch, der ein bewegtes Leben führt, ist es. Ich treibe keine übeln Schweinereien, ich halte mir keinen Stall von Mätressen, und ich beschäftige keine Kupplerin. Aber denkt nur: es ist vorgekommen, daß ich auf Reisen oder nach einem Ball mit einer Frau geschlafen habe, die nicht die meine war. Und das geht euch einen Schmarren an. Und wenns euch nicht paßt, dann seht nicht hin. Und kümmert euch um eure eignen Angelegenheiten.

Ich führe ein Leben, das von Besprechungen, Vorträgen, Aktenbearbeitung, Reden, Versammlungen, Repräsentation bis an den Rand gefüllt ist – ich bin kein Fresser, aber ich verachte keinen guten Happenpappen. Und ihr -?

Ich bin wie ihr, wie die Mehrzahl von euch – nicht besser, nicht schlechter. Lügt nicht, Pharisäer, lügt nicht.“

Warum sagt das keiner -?
Ignaz Wrobel: „Bettschnüffler“, in: Die Weltbühne, 11.3.1930, S. 388ff

Immerhin muss man Kauder zugute halten, dass er die moralischen Maßstäbe nicht beim politischen Gegner anlegt. Die man auch dann nicht „im Bett aufsuchen“ sollte, wenn es sich dabei um Nazis handle, schrieb Tucholsky, als 1932 in der Presse die Homosexualität des SA-Führers Ernst Röhm publik gemacht wurde.

Das von Kauder gebrauchte Zitat lautet übrigens im Original:

Wer in der Öffentlichkeit kegelt, muß sich vom Kegeljungen sagen lassen, wieviel er getrudelt hat.
Kurt Tucholsky: „Hoppe – hoppe – Reiter!“, in: Arbeiterstimme (Dresden), 21.9.1929

Damit räumte Tucholsky ein, sich für sein Buch Deutschland, Deutschland über alles auch öffentliche Kritik gefallen lassen zu müssen.

15.12.2007

Texte zum Anprangern

In Stockholm gibt es ein Museum, das sich mit der Geschichte des Nobelpreises befasst. Die Welt hat sich das Nobelmuseum angeschaut. Das Herz der Ausstellung bilde die Sammlung Cultures of Creativity, schreibt Autorin Karin Schumann in ihrem Text „In Stockholm gibt es Genies zum Anfassen“. Obwohl die Friedensnobelpreise in Oslo verliehen werden, widmet sich die Ausstellung auch den Trägern dieses Preises. Und wie:

Das Museum scheut sich dabei nicht, auch Kontroversen aufzuzeigen. So wurde der Friedensnobelpreisträger von 1935, Carl von Ossietzky, schon von seinem Zeitgenossen Kurt Tucholsky als „Märtyrer ohne Wirkung“ angeprangert. Der Publizist von Ossietzky hatte 1931 die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufgedeckt und immer wieder die Weimarer Republik kritisiert. Später starb er an den Folgen seiner KZ-Haft.

Erstmal tief Luft holen – und dann der Reihe nach.

Das Museum schreckt also vor „Kontroversen“ nicht zurück. Aber worin bestand diese Streitfrage im Fall Ossietzky? Vielleicht darin, dass der letzte Herausgeber der Weltbühne sich freiwillig in ein sinnloses Martyrium begeben hat? Und dafür auch noch geehrt werden sollte? Sonst hätte Tucholsky das sicher nicht „angeprangert“.

Nun hat zum einen die Forschung bislang noch gar nicht klären können, ob Ossietzky bewusst in Nazi-Deutschland geblieben ist. Es spricht einiges dafür, dass er einer Flucht nicht abgeneigt war, aber den richtigen Zeitpunkt verpasste.

Zum anderen konnte Tucholsky in seinem damaligen Aufenthaltsort in Zürich sicher nicht wissen, wie freiwillig Ossietzky dieses Martyrium auf sich genommen hat. Er beklagte daher dessen

merkwürdig lethargische Art, die ich nicht verstanden habe, und die ihn wohl auch vielen Leuten, die ihn bewundern, entfremdet. Es ist sehr schade um ihn. Denn dieses Opfer ist völlig sinnlos. Mir hat das mein Instinkt immer gesagt: Märtyrer ohne Wirkung, das ist etwas Sinnloses. Ich glaube keinesfalls, daß sie ihm etwas tun, er ist in der Haft eher sicherer als draußen.

Aber an welchem „Pranger“ hat Tucholsky dies kundgetan? In einem persönlichen Brief an seinen Freund Walter Hasenclever. Es davon auszugehen, dass Schumann und die Welt-Redaktion unter einem Pranger auch eher ein öffentliches Instrument verstehen, um Menschen bloßzustellen. Zwar hat sich Tucholsky bisweilen in Briefen über Ossietzky beschwert. Aber er hat ihn nie als Herausgeber der Weltbühne öffentlich angegriffen oder ihm gar in der Presse vorgeworfen, den Nazis in die Hände gefallen zu sein. Im Gegenteil. Zum einen hat er sich in einem Brief an das Nobelkomitee für die Verleihung des Nobelpreises an Ossietzky eingesetzt. Zum anderen entschied er sich 1935 dazu, sein seit Jahren währendes öffentliches Schweigen zu brechen und sein literarisches Idol Knut Hamsun anzuprangern, weil dieser Ossietzky als Pazifisten attackiert hatte.

Oder besteht die Kontroverse etwa darin, dass Ossietzky „1931 die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufgedeckt und immer wieder die Weimarer Republik kritisiert“ hatte – und trotzdem einen Friedensnobelpreis erhielt? Zunächst gilt dabei festzuhalten, dass der Journalist und Flugzeugkonstrukteur Walter Kreiser bereits 1929 in der Weltbühne den verbotenen Aufbau einer deutschen Luftwaffe aufdeckte und zusammen mit Ossietzky dafür im November 1931 wegen Spionage zu 18 Monaten Haft verurteilt wurde. Warum das Verfahren mehrere Jahre dauerte, ist eine lange Geschichte. Für die Nazis war Ossietzky daher stets der verbrecherische „Landesverräter“, der zurecht in „Schutzhaft“ genommen worden war. Und dass Ossietzky wohl Grund hatte, „immer wieder“ die Weimarer Republik zu kritisieren, zeigt sich schon daran, dass die Nazis schließlich an die Regierung gelangen konnten. Was sie ihm mit brutalsten Schikanen und Misshandlungen in der KZ-Haft dankten.

An deren Folgen er 1938 tatsächlich gestorben ist.

9.12.2007

Gussys Gäste

Tucholsky kannte seine Tricks, um die journalistische Distanz gelegentlich zu überwinden. So schrieb er im Juli 1913 als Peter Panter über einen Auftritt der Schauspielerin und Diseuse Gussy Holl:

Hier lasse ich als Rezensent die geforderte Objektivität völlig vermissen. Ich bin verliebt (darf es, weil ich ein Pseudonym bin), der zitternde Kohinoor entgleitet der Hand, ich liebe alles an ihr: ihr Kleid, ihre dünnen Arme, das Fräulein Holl und die Gussy. (…) Abgesehen von meiner Verliebtheit: sie ist wirklich so. Und ihr werdet mir doch die Freude nicht verübeln, mich, wie in meinen Kindertagen, in die ‚Schauspielerin‘ zu verlieben: nicht in eine Frau – denn ist es auszudenken, daß sie einen je küßte? – sondern in ein Zauberwesen, das nicht ißt, nicht schläft, nicht lebt, sondern das nur singt, Kußhände wirft und vom lieben Gott eigens dazu geschaffen ist, uns armen jungen Leuten Trost einzuflößen, den wir durch unsre Familie wohl verdient haben.

Letztere Bemerkung war durchaus ernst gemeint. Denn mit seiner eigenen Mutter stand Tucholsky zeit seines Lebens auf Kriegsfuß. Gussy Holl nannte er dagegen in seinen Briefen liebevoll „Mamma“. Ob Tucholsky „aus Liebe zu ihr zum Chansontexter“ wurde, wie der Tagesspiegel behauptet, sei dahingestellt. Fest steht zumindest, dass die Diseuse nach ihrer Scheidung von dem Schauspieler Conrad Veidt nicht den Schriftsteller Tucholsky, sondern einen weiteren Schauspieler, Emil Jannings, heiratete. Tucholsky, der das Paar später häufig besuchte, schenkte ihnen noch im Hochzeitsjahr 1923 ein Gästebuch mit der Widmung „Der guten Gussy und dem lieben Ämil von Theobald Tiger“ sowie einem Geleitwort:

Gäste sind in aller Welt die gleichen
Kommen, essen, trinken, plaudern, gehen
und sind auch von hinten lieblich anzusehen.

Wer sich bis 1931 in dieses Gästebuch eingetragen hat, kann am Mittwoch in Berlin begutachtet werden. Denn die Deutsche Kinemathek hat im Herbst das Gästebuch mit 170 Einträgen für 8500 Euro ersteigert.

Die Präsentation beginnt am 12. Dezember um 19 Uhr im Museum für Film und Fernsehen im Filmhaus am Potsdamer Platz in Berlin. Überreicht wird das Gästebuch von dem Drehbuchautor und Regisseur Fred Breinersdorfer. Anschließend erzählt der Regisseur Jörg Jannings von seinem Onkel und trägt aus unbekannten Briefen sowie Texten von Tucholsky, Carl Zuckmayer, Joseph Roth, Kurt Pinthus und anderen vor.

4.12.2007

Das Lesen geht weiter

Der Streit um die Schließung der Kurt Tucholsky-Bibliothek im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg hat das überregionale Feuilleton erreicht. Für die Frankfurter Rundschau hat Elke Buhr die Bibliothek besucht und erstaunliche Dinge beobachtet:

Die Senioren sind als erstes gekommen, sie sitzen vorne, erwartungsvoll: Nicht jeden Tag gibt es hier eine Lesung umsonst. Und was für eine. Maike Wetzel, Thomas Hettche, Tim Staffel, Thomas Brussig, sie alle werden an diesem Nachmittag in den kleinen Veranstaltungsraum der Tucholsky-Bibliothek für Kinder im Prenzlauer Berg kommen.

Das alles wird die Schließung der Bibliothek wohl nicht verhindern. Und Buhr deutet an, dass dadurch die schulischen Leistungen der Kinder im Bötzow-Viertel vermutlich nicht sinken werden:

Es gibt Yoga-Kurse für Kinder, Theater für Kinder, Kunst für Kinder, Angebote für Leute, die in die Kreativität ihres Nachwuchses auf hohem Niveau investieren wollen.

Eine Aneinanderreihung von Klischees, zu deren Verbreitung auch dieser Artikel aus der Zeit ein wenig beigetragen haben dürfte.

Dennoch ist es genauso schade, ob im Prenzlauer Berg, in Neukölln oder in Hohenschönhausen Bibliotheken dichtmachen müssen. Aber der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) verliert sein „breites Grinsen“ nicht, wie Buhr bemerkt. Schließlich bekam er gerade vom Bund 200 Millionen für die Sanierung der Staatsoper. Bleibt zu hoffen, dass die kreativen Kinder vom Prenzlauer Berg sich später wenigstens dort austoben dürfen.

Wie es mit den Protesten weitergeht, steht auf der Website von Pro Kiez unter prokiez.wordpress.com.

27.11.2007

Hörspielpreis für „Schloß Gripsholm“

Da wird sich Tucholsky im „Nachher“ aber gefreut haben. Die Besucher des Hörspielkinos im Berliner Großplanetarium am Prenzlauer Berg haben den „Hörspielkino-Publikumspreis 2007“ an „Schloß Gripsholm“ verliehen. Und zwar in einer Hörspielversion aus dem Jahr 1964 in der Regie von Hans Knötzsch. In der Produktion des DDR-Rundfunks sprachen Fred Düren, Ursula Karusseit, Hans-Joachim Hanisch, Angelica Domröse und Regine Toelg.

Der Preis wird am 1. Dezember um 20 Uhr im Planetarium verliehen. An wen eigentlich? Autor und Regisseur sind seit 72 beziehungsweise 11 Jahren tot.

Tucholsky hatte über gehörte Literatur selbstverständlich seine eigenen Ansichten:

Der Rundfunk kann die Literatur der Lebenden fördern – obgleich das Ohr nicht so aufnahmefähig ist wie das Auge, und hier besteht eine Gefahr. Für faule Leser macht manchmal eine „Bücherstunde“ die Lektüre eines Buches überflüssig – hat er etwas über ein Werk gehört, so kann es geschehen, daß er es nicht mehr liest. Aber diese Gefahr ist klein im Vergleich zu dem Nutzen, den eine anregende Bücherstunde schaffen kann.
Peter Panter, in: Der Deutsche Rundfunk, 6.9.1929, Nr. 36, S. 1145

22.11.2007

Es begann mit einem „Märchen“

Heute ist es auf den Tag genau 100 Jahre her, dass die ersten Texte von Kurt Tucholsky in der Presse erschienen sind. Am 22. November 1907 veröffentlichte die Satirebeilage des Berliner Tageblatts, der Ulk, zwei anonyme Texte unter den Titeln „Märchen“ und „Vorsätze“. Ihr Autor war der 17 Jahre alte Tucholsky, der in dieser Zeit von einem Privatlehrer auf das Abitur vorbereitet wurde.

Schon in diesen beiden Glossen deutet sich an, was für den späteren Autor Tucholsky charakteristisch werden sollte: Ein virtuoser Umgang mit der Sprache und ein respektloses Verhältnis zur Obrigkeit.

So unterstellte er im „Märchen“ niemand Geringerem als Kaiser Wilhelm II., dass dieser kein Verständnis für die moderne Kunst habe. Auch wenn die „ganze moderne Richtung“, auf die der Kaiser in dem Text pfeift, eigentlich gar nicht in seiner kleinen Flöte war. Es fehlten Expressionisten wie die Künstler der „Brücke“ oder des „Blauen Reiters“ sowie Vertreter von Kubismus und Futurismus, heißt es in der Tucholsky-Gesamtausgabe.

In dem Text „Vorsätze“ klingt ein Motiv an, das auch später für Tucholsky von großer Bedeutung sein sollte: die angemessene Bezahlung für seine literarische Produktion. Der Onkel, den er um Geld bitten wollte, war vermutlich Max Tucholski, der Bruder seiner Mutter Doris. Dieser war nach dem Tode von Tucholskys Vater Alex im Jahre 1905 Kurts Vormund geworden und verwaltete dessen beachtlichen Erbteil.

Nach diesen beiden Veröffentlichungen war er zunächst wieder ruhig um Tucholskys journalistische Karriere. Erst dreieinhalb Jahre später, im April 1911, sollte sein nächster Artikel erscheinen. Dieses Mal im Vorwärts, dem Parteiblatt der SPD, für das er in den folgenden beiden Jahren regelmäßig schreiben sollte. Richtig los ging es mit dem Journalismus jedoch erst am 9. Januar 1913, Tucholskys 23. Geburtstag. Von diesem Tag an war er Mitarbeiter der Schaubühne, die ihn nie wieder loslassen sollte.

18.11.2007

Ein ewiger Mittwoch droht

In Berlin gibt es zwei öffentliche Bibliotheken, die den Namen Kurt Tucholskys tragen. Noch. Denn die Bibliothek im Bötzow-Viertel im Prenzlauer Berg soll im kommenden Jahr geschlossen werden. Das teilte der Pankower Kulturstadtrat Michail Nelken (Die Linke) am 14. November in einer Bürgerversammlung in der Bibliothek mit. Wie der Tagesspiegel berichtete, sollen zehn Mitarbeiter der neun Pankower Bibliotheken ihre bisherige Stelle verlieren, so dass zwei Bibliotheken geschlossen werden müssen. In dem Kiez rege sich Widerstand, heißt es in dem Artikel:

Klaus Lemmnitz kann sich in Rage reden, wenn es um die geplante Schließung zweier Bibliotheken im Stadtteil Prenzlauer Berg geht. „Es kann nicht sein, dass die Stadt sich hier völlig der Verantwortung entzieht. Das sind nur noch Streichorgien“, sagt er. Weil er mit den Plänen des Bezirkes Pankow nicht einverstanden ist, hat er mit anderen Anwohnern die Initiative „Pro Kiez“ gegründet.

Auf der Versammlung wurden an den Stadtrat 3000 Unterschriften von Bürgern übergeben, die sich gegen die Schließung wenden. Auch die Kurt Tucholsky-Gesellschaft (KTG) sprach sich bei dem Treffen gegen die Schließung aus. Damit hat es seine besondere Bewandnis: Die Bibliothek hat ihren Namen der letzten Angehörigen der Familie Tucholsky zu verdanken, dem KTG-Ehrenmitglied Brigitte Rothert. Diese hatte sich in den 1980er Jahren dafür eingesetzt, dass die damalige Tucholsky-Bibliothek in Mitte bessere Räumlichkeiten erhielt, die im Juni 1990 schließlich bezogen wurden. Als diese Einrichtung im März 1997 geschlossen werden musste, sorgte Rothert dafür, dass die Bibliothek in der Esmarchstraße vom 11. Juni 1997 an das Andenken an Tucholsky weiterführte.


Die Bibliothek in der Esmarchstraße

Nun steht auch diese vor dem Aus, so dass es für Brigitte Rothert eine Ehrensache ist, sich für deren Erhalt einzusetzen. Am 21. November will die Bezirksverordnetenversammlung über die Schließung entscheiden. Die KTG will beantragen, auf der zuvor angesetzten Fragestunde ein Statement abzugeben.

Bislang hat die Bibliothek schon jeden Mittwoch geschlossen. Bleibt abzuwarten, ob ein ewiger Mittwoch droht.

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