Ein bisschen Kritik
Es dürfte schwer zu beurteilen sein, inwieweit folgende Einschätzung des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki seinen Berufsweg beeinflusst hat. Denn das Interessante an ihr ist vor allem, dass sie in mehrfacher Hinsicht ziemlich falsch ist. In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ bemerkte Reich-Ranicki zur Wahl seines Berufes etwas kokett:
Ich wollte gar nicht so sehr Literaturkritiker sein. Das hing wohl damit zusammen, dass die Rolle der Theaterkritiker im öffentlichen Leben in Berlin in den späten Jahren der Weimarer Republik enorm war: Kerr und Polgar, Siegfried Jacobsohn und Kurt Tucholsky – die hatten einen riesigen Einfluss auf das öffentliche Leben.
Dass die Theaterkritiker gegen Ende der Weimarer Republik tatsächlich noch einen großen Einfluss auf das öffentliche Leben hatten, darf zunächst bezweifelt werden. Schließlich war der Film damals schon das wichtigere Medium. Für die Alfrede Kerr und Polgar trifft wenigstens zu, dass sie in dieser Zeit Theaterkritiker waren. Für Jacobsohn gilt dies auf keinen Fall, denn er war in den letzten sechs Jahren der Weimarer Republik schon tot. Selbst in deren ersten acht Jahren hatte er sich kaum noch als Kritiker betätigt, weil er die Lust am Theater ziemlich verloren hatte und ihn seine Arbeit als Redakteur sehr stark in Anspruch nahm.
Aber auch Tucholsky schrieb nach seinem Wechsel nach Paris im Frühjahr 1924 kaum noch Theaterkritiken. Was machte er statt dessen? In seiner Rubrik „Auf dem Nachttisch“ besprach er hunderte von Büchern. Und auf diese Weise schien er nicht ganz ohne Einfluss gewesen zu sein. Denn wie versicherte er 1931 in einem Artikel über die Schwierigkeiten der Buchkritik:
Seit ich mich bemühe, eine bunte und möglichst lehrreiche Buchkritik zu machen, ist mein erstes Bestreben dies gewesen: nicht das Literaturpäpstlein zu spielen. Das kann es nicht geben, und das soll es auch nicht geben.
Peter Panter: „Die Aussortierten“, in: Die Weltbühne, 13.1.1931, Nr. 2, S. 58
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Pardon: Da will ich nur ein Wörtelchen korrigiert sehen:
„Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.“ Da ist mir „eigentlich“ überflüssig.
Aber: Dank und Gruß – wegen des K.T-Original-Wortes „Literaturpäpstlein“.
Tuchoksy kannte doch, bis ins Diminutiv hinein, die Dreistköpfe, Mit(tel)läufer und Literatur-Besitzbürger!
Kommentar by Antoninus — 19.3.2007 @ 17:58
[…] Wenn sich FAZ-Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki daran erinnert, welchen Einfluss Tucholsky in der Weimarer Republik hatte, liegt er durchaus schon mal daneben. Aber auch die Anregungen, die Reich-Ranicki persönlich von Tucholsky erfahren haben will, halten einer Überprüfung nicht unbedingt stand. So antwortete Reich-Ranicki jüngst auf die Frage, wie er die Bedeutung der Fantasy-Literatur einschätze: Ich weiß es, ich werde Sie enttäuschen: Fantasy-Literatur, Science-Fiction und dergleichen mehr interessierte mich ein wenig in meiner Jugend. Von Tucholsky angeregt, las ich den Amerikaner Edward Bellamy, dann einige Romane von Jules Verne, dann einen in der Nachfolge von Verne schreibenden populären deutschen Autor Hans Dominik, der längst vergessen ist – und dann hatte ich von dieser Literatur genug. […]
Pingback by Sudelblog.de - Das Weblog zu Kurt Tucholsky » Anregende Nebensätze — 8.4.2007 @ 17:52