Was mag Fritz J. Raddatz wohl dazu bewogen haben, nach der erschöpfenden Aufarbeitung des Themas »Tucholsky und die Frauen« durch Klaus Bellin noch eine eigene Betrachtung dazu vorzulegen? Hat Bellin vielleicht zu ausgewogen berichtet? Die Bedeutung von Mary Gerold für Tucholskys Leben nicht gebührend gewürdigt? Falsche Behauptungen aufgestellt? Gar nichts von alldem. Dennoch sah Raddatz sich bemüßigt, die »bewegende Geschichte« zwischen Tucholsky und seiner zweiten Ehefrau Mary Gerold noch einmal zu beleuchten. Dass sein kleines Büchlein Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme überhaupt die Lektüre lohnt, liegt daran, dass eine bislang kaum in Erscheinung getretene Autorin darin ausführlich zu Wort kommt: Mary Gerold.
Es ist nicht so, dass Marys Tagebücher und Briefe noch nicht für die Forschung ausgewertet wurden. Michael Hepp zitiert in seiner Tucholsky-Biographie daraus, auch Bellin wertet sie ausführlich aus. Raddatz, Herr des Geroldschen Privatnachlasses, macht es hingegen ganz einfach: Auf gut 50 Seiten druckt er Marys Tagebuchnotizen vom 11. November 1917 bis zum 24. April 1918 in langen Auszügen ab. Vom Sonntag der ersten Begegnung mit Tucholsky in Alt-Autz bis zum Mittwoch ihrer ersten längeren Trennung, als der angehende Feldpolizist nach Rumänien abkommandiert wurde.
Es ist anzunehmen, dass Mary Gerold der ausführlichen Wiedergabe dieser Tagebücher nie zugestimmt hätte. Sie war immer darauf bedacht, ganz hinter Tucholsky zurückzutreten. Was Raddatz dazu bewogen hat, nach der Veröffentlichung seiner eigenen Tagebücher nun auch die seiner langjährigen Vertrauten zu publizieren, lässt er im Unklaren. Zu ihren Lebzeiten kostete es ihn noch viel Überzeugungsarbeit, die Freigabe für Tucholskys an sie gerichtete Briefe zu erhalten. Nun kann Raddatz selbst als Vorsitzender der Tucholsky-Stiftung über ihren Nachlass verfügen. Und entschied sich mehr als 20 Jahre nach Mary Gerolds Tod für die Publikation.
Trotz aller Bedenken sind die Aufzeichnungen zweifellos interessant. Mary gibt fast stenografisch die Dialoge wieder, in denen die beiden Verliebten um ihre Beziehung rangen. Tucholsky, bislang nur durch seine Texte und Briefe zu erfahren, tritt nun als Sprecher auf. »Wir werden bei der Lektüre der Tagebuchaufzeichnungen zu einer Art Theaterpublikum«, bemerkt Raddatz. In der Tat: Wir hören den werbenden Tucholsky, der unermüdlich auf die nicht minder entflammte Mary einredet, die sich jedoch aus ihr selbst kaum verständlichen Gründen abweisend gibt. Der bereits 28 Jahre alte, sich welterfahren und abgeklärt gebende Tucholsky lässt hingegen nicht nach, wendet sämtliche Eroberungskünste an, um doch noch bei der gerade 19 Jahre alt gewordenen Baltin zu landen. Das gelingt ihm schließlich. Doch der Romanze auf dem »östlichen Kriegsschauplatz« ist kein Happy End bestimmt. Mary glaubt nach einigen Monaten noch immer, dass Tucholskys Karriere ohne sie besser vorankommt. Und lässt ihn scheinbar leichten Herzens, aber am Ende dennoch tieftraurig ziehen.
Bewegend, wie sie die letzten Tage ihrer gemeinsamen Zeit in Alt-Autz schildert (Tucholsky spricht Mary auch mit Er an):
Freitag, 19. April 1918
Es ist 11 Uhr vormittags. Da kommt er plötzlich herein. Steht da, sagt kein Wort …
»Ich möchte dich bitten, dich Sonnabend und Sonntag mir ganz zu widmen.« –
»Warum?« –
»Du weißt schon!«
Ich sah ihn an – und wußte es …
»Ich war eben bei Hartmann, auf 4, nein 5 Tage habe ich es aufgeschoben …«
Er ging. Ich zitterte. Doch ich beherrschte mich, biß die Zähne zusammen, schluckte die Tränen herunter. Keiner soll wissen, wie es in mir ausschaut – keiner. Mögen sie mich für kalt, herzlos halten, alles, alles, was sie wollen, was geht mich das an? Es ist leichter, sich in Schmerzensausbrüchen zu ergehen – als es zu verbeißen. Ich will nicht bemitleidet werden, ich will nicht, daß man mich zu trösten versucht, mich behandelt wie eine Kranke – nur das nicht! Ich werde lachen, wenn mein Ich auch zu einer Grimasse verzerrt wird. Keiner soll es wissen. – Keiner.
Ich danke dir, was du mir gabst, was du aus mir gemacht. Es soll nicht sein. – Gut. –
Zeit, lindere meinen Schmerz, gib mir Kraft und meine Ruhe wieder! Er holte mich mittags zum Spaziergang ab.
»Was hat Er nur? Er ist so still, so dumm?«
»Gar nichts! – Was soll ich haben?«
»Er ist so fremd, sechs Meter weit.«
Es fing an zu regnen, wir flüchteten in eine Scheune. Nach einer Weile klärte es sich wieder auf, wir gingen weiter, trafen M. zu Pferde, sprachen ein paar Worte mit ihm. »Jetzt ist der Matz wieder da!« – Und wir gingen und er erging sich in Nachahmungen meiner Gutturallaute. Plötzlich: »Jetzt gehe ich zum Kardinalpunkt über: wird Er mir schreiben?« – »Nein!« – »Was?« – er blieb stehen, »willst du mir das nicht näher erklären?« – »Wozu?« – »Das wußte ich, daß das kommen würde – wozu? – weil mir das ein Herzensbedürfnis ist – darf ich Ihm auch nicht schreiben?«
Ich schüttelte den Kopf. Wir waren beide aufgeregt.
»Warum nicht? Also Dienstag darf ich dir noch die Hand streicheln, darf dich küssen – und Donnerstag kennen wir uns nicht mehr? – Ja was war denn das zwischen uns? Eine nette kleine Abwechslung? Ich kann auch so, doch du bist mir zu wertvoll dazu. Ein Spiel, das man morgen vergessen hat?«
Ich gehe – ich will später wiederkommen. Unschlüssig, ob den Weg zur Kirche oder den nach Hause zu nehmen, gehe ich schließlich nach Hause. Ich gehe langsam. Da höre ich plötzlich wieder seine Stimme. Er kommt mir nach. »Guten Abend, wohin gehst du?«
»Nach Hause.«
»Und wolltest nicht mehr zurückkommen?«
»Ja, ich wollte zurückkommen!«
Ich ging ins Heim, er wartete, und dann machten wir eine Runde und gingen zu ihm. Er sah mich an. Ich sah zur untergehenden Sonne. »Nun, hast du es dir überlegt?« Ich antwortete nichts. »Meinst du, ich kann dich noch 64-mal fragen? – dadurch, daß du ablehnst zu schreiben, ziehst du die ganze Sache in den Dreck und überläßt es mir, meine Schlüsse zu ziehen, die ich mir ziehen muß. – Irgendjemand kannst du schreiben, mir nicht!«
»Ja … irgendjemand, ja.«
»Ja, findest du es nicht der Mühe wert zu schreiben?«
»Nein, das nicht …«
»Ja, also was soll es dann?« Wir waren angekommen. Ich ging durch die Hoftür hinein. Er sprach noch mit Lunk. Ich stand da, zog meine Jacke nicht aus. Er kam herein.
»Wirst du nicht so freundlich sein und ablegen?«
Ich zog meine Jacke aus – sah ihn nicht an und ging zum Ofen. Da packte er mich … »Warum quälst du uns beide, es ist schon schwer genug. Meinst du, daß ich dich aufwühlen würde mit meinen Briefen, ich werde das gar nicht schreiben, denn es würde mich auch zu sehr aufwühlen.« Erlösende Tränen rannen mir über die Wangen.
»Mätzchen, du wirst es noch sehr schwer haben durch deine übergroße Zurückhaltung.« Ich schluckte mit Mühe meine Tränen herunter. »Du frißt alles in dich hinein, damit der andere nur ja nichts davon merkt – davor braucht man sich doch nicht zu schämen – ich bin sicher, daß du mir nur den 20. Teil deiner Empfindungen gezeigt hast. – Mätzchen, wirst du schreiben?« Ich küßte ihn.
Wir saßen auf dem Sofa, die Tränen rannen mir über die Wangen. »Mätzchen, Liebe kann aufhören, aber Freundschaft nicht, so wie sie bei uns ist – es gibt Frauen, die vergißt man total – und solche, bei denen man noch nach Jahren ein dumpfes Gefühl hat. Mätzchen, wenn ich dich nach Jahren wiedersehe, wie du dich auch verändert haben solltest, ich werde dich doch wiedererkennen, und wenn ich ein 90-jähriger Greis bin, so werde ich doch immer wissen, wie lieb ich dich gehabt. – Du Affe … Du wirst noch Männer nach mir lieben, und sie werden dich lieben, es ist möglich, daß sie dich verstehen werden – aber Mätzchen, einmal haben ein Mann und eine Frau lückenlos zueinandergepaßt – und das kommt so selten, so überaus selten vor. Mätzchen, wenn du mir schon nicht treu bleiben wirst, bleib dir treu …« Ich hatte ihn rasend lieb. »Du hast einen Mann für eine Zeit für Frauen unbrauchbar gemacht – Herrgott, eine Brust, das hat eine jede – aber es singt nicht.« Wir saßen still nebeneinander – es war eine beseligende Stille.
Die ausführlichen Zitate sollen Raddatz‘ Grundthese belegen, dass »die Begegnung mit Mary, die Beziehung zu ihr, für Kurt Tucholsky von so ganz und gar einmaliger, existentieller Bedeutung war«. Dass diese Liebe dennoch scheiterte, habe daran gelegen, dass Tucholsky als Partnerin einen Mann wollte, der nachts eine Frau ist: tagsüber ein wohlmeinender Ratgeber und Kamerad, nachts die heißblütige Geliebte. Mary Gerold sei für ihn leider nicht die nächtliche Geliebte, sondern nur die Kampfgefährtin gewesen. »Einzig mit ihr«, behauptet Raddatz, »hat er über seine Arbeit gesprochen, sie ganz einbezogen in seine Textproduktion.« Das trifft nun sicher nicht zu. Marys »Nachfolgerin«, die Berliner Journalistin Lisa Matthias, berichtet ausführlich in ihren Lebenserinnerungen Ich war Tucholskys Lottchen über Gespräche, die sich um Gedichte, Artikel und Bücher aus seiner Produktion drehten. Immerhin adelt Raddatz diese Beziehung, die er vorher stets ausblendete, in seinem neuen Buch als »ernsthafte Liaison«. Die vielleicht größte Sensation des Buches. Auch hat er Briefe von Lisa Matthias ausgewertet, die bislang nach seinen Angaben noch nicht veröffentlicht wurden. In denen wird Matthias recht deutlich:
[…] er wundert sich nun und brüllt und schimpft, dass ich nicht heiterste Miene zu all dem mache und dass ich kaltschnäuzig ziemlich eindeutige Gemeinheiten sage und dass ich keine Lust zum vögeln habe. Die Sache ist doch die. Ich bin nicht ausgehungert genug um nur des Vögelns wegen Freude an dem Betrieb zu haben
Noch im Jahr 1931 habe sie an Tucholskys Freund Karlchen geschrieben:
Ich will nicht seinen Zusammenbruch – ich sehe ihn […] Er ist und bleibt verhurt.
Dann ist das Buch im Grunde auch schon zu Ende. Im Mittelteil gibt es noch eine längere Abhandlung über Tucholskys Streit mit Karl Kraus. Raddatz verweist zuvor darauf, dass Mary Gerold zu diesem Streit eine eigene Mappe angelegt habe. Was dies mit der Beziehung zwischen Mary und Tucholsky zu tun hat, erschließt sich jedoch nicht.
Auch an anderen Stellen merkt man, dass man es mit einem echten Raddatz zu tun hat. So stirbt Siegfried Jacobsohn bei ihm am 9. Dezember 1926, anstatt am 3. Dezember. Ebenso verweigert Schweden Tucholsky die Einbürgerung (die er nie beantragt hat). Dann, als Höhepunkt, nimmt Tucholsky bei Raddatz seine tödliche Überdosis Schlafmittel am 19. Dezember 1935 und stirbt zwei Tage später im Krankenhaus. Eine falsche Behauptung, die schon 1986 als solche entlarvt wurde (Tucholsky nahm die Überdosis in der Nacht zum 21. und starb am selben Tag). Dass Raddatz auf dem Buchumschlag als »bester Kenner« Tucholskys ausgewiesen wird, darf ohnehin nur deshalb ungestraft behauptet werden, weil Michael Hepp und Antje Bonitz leider schon gestorben sind. Aber diese hatten sicher auch keinen von Tucholsky an Mary geschenkten Marmoraschbecher auf ihrem Schreibtisch stehen.
Fritz J. Raddatz: Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme, Herder-Verlag, Freiburg 2010, 144 S. 12,95 Euro