Von den über 500 Büchern, die Tucholsky im Laufe seiner Karriere besprochen hat, reizen viele durch sein begeistertes Lob noch heute zum Lesen. Daneben gibt es einige Werke, die von ihm derart heftig verrissen wurden, dass diese wütende Kritik wiederum neugierig macht. Dazu zählt beispielsweise Arnolt Bronnens Oberschlesien-Roman O.S., den Tucholsky in der fünfseitigen Rezension »Ein besserer Herr« zerpflückte. Während Bronnens Buch kaum antiquarisch oder in Bibliotheken erhältlich ist, lässt sich der Anlass eines anderen Verrisses nun in einer kommentierten Ausgabe nachlesen. Es handelt sich um Salomo Friedlaender/Mynonas 1929 erschienenes Buch Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt?. Der Band 11 von Mynonas Gesammelten Werken enthält außerdem die Broschüre Der Holzweg zurück (1931), die als ausführliche Replik auf Tucholskys Rezension des erstgenannten Werkes in der Weltbühne gedacht war. Wird die Neugierde mit der Lektüre belohnt?
Wie der Name von Mynonas Buch vermuten lässt, war der Hintergrund des Streits der Welterfolg des Remarque-Romans Im Westen nichts Neues. Von diesem Buch wurden schon im ersten Jahr des Erscheinens, 1929, sensationelle 900.000 Exemplare verkauft. Sein aufwühlendes Thema, die Erlebnisse eines einfachen Soldaten im Ersten Weltkrieg, gab Anlass zu heftigen Debatten über die Tendenz des Buches. Während es die einen für pazifistisch und deutschfeindlich hielten, erkannten andere darin nichts weiter als die übliche Kriegsromantik. Der gefeierte Autor hielt sich mit Stellungnahmen zurück. Erst später entwickelte er sich zu einem militanten Pazifisten, wie er sich 1962 erstmals bezeichnete.
Der Verleger Paul Steegemann kam schon 1929 auf die Idee, eine Parodie des Werkes aufzulegen. Dazu gewann er als Autor den Philosophen Salomo Friedlaender, der unter seinem Pseudonym Mynona (rückwärts für Anonym) bekannt geworden war. Tucholsky hatte ihn in der Schaubühne 1913 lobend rezensiert und später als »Schnurriker« bezeichnet. Mit dieser Sympathie war es aber nach dem Erscheinen der Remarque-Parodie schlagartig und für alle Zeiten vorbei. »Hat Mynona wirklich gelebt?« fragte Tucholsky in seiner Rezension und warf Mynona darin vor, »eine Unanständigkeit begangen« zu haben. Der Grund: Mynona habe sich die bürgerliche Existenz Remarques und dessen literarische Anfängerversuche vorgenommen, um Kritik am Buch zu üben. Das gehe an der eigentlichen Debatte um dessen Inhalt jedoch völlig vorbei und sei Ausdruck von Neid, Niedertracht und Konjunkturreiterei. Sind Tucholskys Vorwürfe auch nach 80 Jahren noch berechtigt?
Zunächst muss man ihm völlig zustimmen, wenn er schreibt:
Zum Glück ist die Schrift des streitbaren Philosophen unlesbar und von einer altbacknen Langeweile mit Wasserstreifen […] Und zum Glück ist es keine Parodie geworden; sondern eine aufgeschwollene Literaturpolemik aus dem Jahre 1905.
Das Interessanteste an der Neuausgabe ist in der Tat die umfangreiche Einleitung von Detlev Thiel sowie der Anhang, der dutzende zeitgenössische Rezensionen und Stellungnahmen auflistet. Der Effekt, der sich bei dem Rezensenten des Hannoverschen Kuriers während der Lektüre Mynonas einstellte, tritt heute immer noch ein:
War das Material zu dürftig oder die Zornwolke um Mynonas Haupt zu groß – der Satire fehlt der Funke, der sie zünden macht. Mynonas Satire irrlichtert im Kreise, statt geradeaus zu zielen; er hat in sein Buch so viele Anzapfungen und Anspielungen hineingepackt, er gefällt sich in einer so schwierigen Wortequilibristik, daß man schon nach wenigen Seiten ermüdet zurücksinkt. Er treibt uns mit seinen Geistreicheleien den Geist aus.
Wer sich dennoch durch die 200 Seiten quält und über »alraschidisch deskondeszierende Majestäten« stolpert, aber taumelnd wieder aufsteht, stellt voller Verwunderung fest: Eigentlich geht es Mynona ja gar nicht um Remarque. Durchaus erfüllt er, was er gleich zu Beginn als sein eigentliches Ziel postuliert:
Bevor ich den Clown spiele, möchte ich doch zuvor noch einen Augenblick mein ernstes Gesicht zeigen. Ich will in das Wespennest der triumphierenden Mittelmäßigkeit stechen. Die an sich zufällige Person des Herrn Remarque dient mir nur deshalb zum Angriffspunkt, weil sich in ihr jener Triumpf konzentriert.
Mynona will zusammen mit Remarque gleich die ganze Moderne erledigen. Doch dabei führt er sich nicht als lustiger Clown auf – oder gar »lachender Philosoph«, wie Tucholsky ihn nannte. Er kämpft wie ein philosophischer Ritter von der traurigen Gestalt, der aus einem vergangenen Zeitalter kommt und mit untauglichen Waffen gegen die Gegenwart zu Felde zieht. Er rennt gegen die Windmühle Remarque an und glaubt allen Ernstes, damit Riesen wie Albert Einstein besiegen zu können. Sein Amadis de Gaula ist Immanuel Kant, »das Genie der Vernunft« und »oberste Lehrmeister der Menschen«. Hinzu kommt eine besondere Verehrung für dessen »kongenialen Nachfolger« Ernst Marcus, der offenbar so genial war, dass nicht einmal das Metzler Philosophenlexikon ihn kennt (aber immerhin die Wikipedia).
Während Tucholsky bei der Lektüre zornig wurde, kann man heute nur noch traurig den Kopf schütteln, wenn man liest:
Man vergleiche Marcus‘ Weltäthertheorie und seine Widerlegung der speziellen Relativitätstheorie mit Einsteins rechenmaschinellen Talenten. Diese Rechenmaschine ist ein Talent allerersten Rangs ohne alles Genie und, obgleich mit akademischen Ehren bekleidet, dennoch so gut wie Remarques nackter Mensch, eine wohlbekleidete Ausnahme von der splitternackten Regel.
Spätestens an dieser Stelle müsste man das Buch eigentlich erschöpft als geistige Verirrung eines verbohrten Adepten beiseite legen. Aber es wird noch besser. 100 Seiten später behauptet er:
Hätte man nämlich Kants Ethik schon vor anderthalb Jahrhunderten verstanden und in die Schulen eingeführt, so hätt’s nebbich garkeinen Weltkrieg gegeben. Wie denn der nächste nur noch durch meinen »Kant für Kinder« verhindert werden kann […]
Ist nicht jahrhundertelang eine nicht minder pazifistische Grundhaltung ohne Erfolg gelehrt worden?
Von der quijotesken Selbstüberschätzung zeugt auch ein Brief Mynonas an seinen Verleger Steegemann:
Dieses Antiremarquebuch ist in Wahrheit eine Dynamitbombe, und ich werde die Illusion nicht mehr los, daß nicht ich, sondern sie [die »Mittelmäßigen«] daran krepieren sollten. Es muß gelingen, nicht nur Hintre zum Grunzen, sondern doch auch endlich die Stimme der Wahrheit zum Sieg zu bringen. Es gibt doch gewiß nicht nur diese Massenclique, sondern auch einzelne gute, große Publizisten. Wer sind sie? Wie kommt man an sie heran? Wie verschafft man sich ein wahres Gehör anstelle dieses ludermäßig verlotterten? Daß diese intelligenteren Hunde nicht spüren sollten, welcher brillanteste Satirenstil, welche wahrhaft satanische geistige Überlegenheit in meinem Opus steckt, ist ausgeschlossen; – es sind absichtliche Unterdrücker wider ihr bestes Wissen!!!
Mynona geriert sich wie ein haushoch überlegener Geisterfahrer, der nur mittelmäßige und »falsch orientierte« Autofahrer entgegenkommen sieht. Zum Glück gab es damals noch keine Autobahnen.
Nicht viel verständlicher ist Der Holzweg zurück. Auf dessen Umschlag prangte groß: »Gegen Kurt Tucholsky«. Laut Verlagsankündigung wurde das Werk »in der Tucholsky-Forschung bislang marginalisiert«. Zu recht. Denn, wie nicht anders zu erwarten, geht es darin weniger um das angekündigte Objekt der Kritik. Statt dessen – richtig geraten – mehr um die wahre Genialität eines Kant und Marcus (»Gewidmet allen Kannitkantverstans«). Was soll man auch zu einer »Kritik« sagen, die permanent Sätze produziert wie:
Hier stellen die diversen Ullsteins ihre mit Panther- und Tigerkrallen bewehrten wrobeligen Schmieresteher auf, um die Wahrheit meuchlings zur Strecke zu bringen …
Plötzlich aber – ah, welch Feuerwerk – erschien die tiger- und pantherhafte Anwröbelung des kasparhauserigen Weltfremdlings Tucholsky – qualis artifex!
Wozu den Panther- und Tigerfelle? – À la Kasparhauser weltfremd geschmückte ehrliche olle Wrobelhaut im Geschmack der Tucholskys genügt vollauf.
Wäre Mynona doch besser anonym geblieben. Statt dessen setzte er auf seinen Nachruhm:
Jeder Leser der Weltbühne weiß, wie Wrobel mich blamiert hat. Wie Wrobel sich vor mir, das werden die Leser von 2000 genau erfahren. Ich höre schon die Lachtauben, die es dann auf dem Essener Marcus-Platz gurren…
Auch 2010 müssen die Tauben weiter nach Venedig fliegen. Im Westen gibt es immer noch nichts Neues…